# taz.de -- Stillstand in der US-Metropole: Frühjahrsblues in New York City | |
> Das Coronavirus hat die US-Metropole weiter fest im Griff. Luxushotels | |
> bieten Hilfskräften und Obdachlosen Schlafplätze – abgesehen vom | |
> Trump-Hotel. | |
Bild: Blick über den Hudson River auf Manhattan | |
NEW YORK taz | Ohne Samuel Hargress wird Harlem nie wieder so sein, wie es | |
war. Mehr als 50 Jahre lang saß er Abend für Abend an der Theke des Paris | |
Blues. Immer herausgeputzt für den großen Auftritt: dreiteiliger Anzug, | |
Stiefel mit mehreren Zentimeter hohen Absätzen, farblich abgestimmter Hut, | |
ein passend schillerndes Tuch in der Brusttasche und selbst um Mitternacht | |
noch eine dunkle Sonnenbrille. Dazu ein breites Grinsen und ein paar | |
freundliche Worte für jeden, der hereinkam. | |
Hargress hatte die Musikbar im Jahr 1969 eröffnet, als er von seiner Zeit | |
als GI zurückkam. Seither hat er unbeirrt an seinem Konzept festgehalten: | |
Jazz oder Blues live jeden Abend, kein Eintrittsgeld und das ursprüngliche | |
Dekor – von der Holzverschalung der Wände, über die unbequemen, klebrig | |
gewordenen Sitzbänke bis hin zu den Funzeln, die nur eine Andeutung von | |
Licht werfen. Bloß ein paar neue Bilder sind dazugekommen. Darunter das | |
Foto von Michelle und Barack Obama, das zwischen den Bourbonflaschen | |
steht. | |
Das Paris Blues hat viele Krisen überstanden. Von der Crack-Epidemie der | |
Achtziger bis zur Gentrifizierung der nuller Jahre. Während um ihn herum | |
die alten Bars zumachten, blieb Hargress. Weil ihm das kleine Eckhaus | |
gehörte und weil er keine Wuchermiete zahlen musste, konnte er es sich | |
erlauben. Die Immobilienjäger, die ihm bis zu 10 Millionen Dollar für das | |
Haus boten, ließ er abblitzen. Besuchern aus Deutschland erzählte er, dass | |
er im August 1961 beim Mauerbau in Berlin gewesen sei, solchen aus | |
Frankreich, dass sein Großvater bei der Befreiung Frankreichs im Ersten | |
Weltkrieg eine Freiheit gespürt habe, die Schwarze in den USA nicht | |
kannten. | |
Jetzt hat ihn das [1][Coronavirus] erwischt. Am 10. April, einen Tag nach | |
seinem 84. Geburtstag, ist Hargress gestorben. Zu diesem Zeitpunkt war | |
seine Bar wegen der vom New Yorker Gouverneur verfügten Pandemie-„Pause“ | |
schon seit drei Wochen geschlossen. Auf der kleinen Terrasse am Adam | |
Clayton Powell Jr. Boulevard stehen Blumen und Kerzen. | |
## Tourismus, das erste Opfer der Pandemie | |
Das Virus hat alle Branchen in der City getroffen. Aber nirgendwo sonst | |
bedroht es die Gesundheit und das Leben der Beschäftigten wie auch ihre | |
ökonomische Existenz so weitreichend wie in der Unterhaltungs- und | |
Tourismusbranche. Der Tourismus war das erste ökonomische Opfer der | |
Pandemie. | |
Von den Bars über die Restaurants bis zu den Fähren, von den Museen über | |
die Broadway- und Off-Broadway-Theater bis zu den Doppeldeckerbussen geht | |
im Augenblick in New York nichts mehr. Die Zahl der Besucher der Stadt, die | |
für dieses Jahr einen neuen Besucherrekord erwartet hatte, ist fast auf | |
null abgestürzt. | |
„95 Prozent unserer Mitglieder haben in den letzten Wochen ihre Arbeit | |
verloren“, sagt Brooks Bitterman von der Gewerkschaft Unite Here. Die | |
Gewerkschaft organisiert US-weit 300.000 Beschäftigte. Die meisten von | |
ihnen arbeiten in den großen Hotelketten, in Spielkasinos, im Catering und | |
in den Flughäfen. Insgesamt sind allein im Bundesstaat New York bereits | |
80.000 direkte Hotelbeschäftigte plus 238.000 (von insgesamt 529.000) | |
Beschäftigte von Zulieferunternehmen – darunter Putzkolonnen, Handwerker, | |
Fahrer – wegen der Pandemie entlassen worden. In den nächsten Wochen wird | |
ihre Zahl weiter steigen. | |
Für die Branche in den USA ist das, was jetzt passiert, die schwerste | |
Katastrophe der Geschichte. „Schlimmer als 9/11 und die Finanzkrise von | |
2008 zusammengenommen“, sagt Chip Rogers, Chef des Lobbyverbands der | |
Hoteliers, der American Hotel and Lodging Association. Katastrophen waren | |
bislang entweder regional begrenzt oder zeitlich befristet. Oder beides. | |
„Katrina“, der Hurrikan im Sommer 2005, hat vor allem New Orleans und | |
Louisiana verwüstet. Die Attentate vom September 2001 waren auf New York | |
und die Hauptstadt Washington konzentriert. Aber die Pandemie ist überall. | |
Und niemand weiß, wie lange sie dauern wird, und schon gar nicht, ob, wie | |
und wann der Tourismus anschließend wieder aufleben wird. | |
## Totaler Leerstand bei Airbnb | |
Auf einem Video für seine Investoren kämpft Arne Sorensen, der Chef von | |
Marriott, der größten Hotelkette der Welt, im März mit den Tränen, als er | |
erklärt: „Die Lage war nie ernster.“ Wenige Tage zuvor hat der Konzern | |
Zigtausende seiner zu Jahresanfang noch 174.000 Beschäftigten in den USA | |
entlassen. Das Einzige, was Sorensen hoffen lässt, sagt er, ist die „frühe | |
Erholung“ in China. | |
In New York City, der meistbesuchten Stadt des Landes, wurden die | |
Touristenströme seit Mitte der 90er Jahre jedes Jahr größer. Lediglich in | |
den beiden Jahren nach den Attentaten von 2001 nahm die Zahl der Besucher | |
um jeweils eine Million ab. Nur um ab 2003 umso steiler in die Höhe zu | |
schnellen. Im letzten Jahr waren 67 Millionen Besucher in New York. Die | |
meisten von ihnen hatten in Hotels oder Privatunterkünften gebucht. Jetzt | |
stehen vier von fünf Hotelzimmern in der Stadt leer. Bei Airbnb ist der | |
Leerstand noch totaler. Während einer Pandemie will niemand im Haus eines | |
Fremden wohnen. | |
Die wenigen New Yorker Hotels, die jetzt noch viele belegte Zimmer haben, | |
sind in die Bekämpfung der Pandemie involviert. Das Fünfsternehotel Four | |
Seasons ist eines davon. In einer viel beachteten Aktion hat es 225 Zimmer | |
als Gratisunterkünfte für Krankenhausbeschäftigte zur Verfügung gestellt. | |
Jetzt wohnen dort Pflegekräfte und Ärzte, die zur Verstärkung von außerhalb | |
nach New York gereist sind, und New Yorker, die bei sich ausgezogen sind, | |
um ihre Angehörigen nicht anzustecken. | |
Das Hotel hat seine Restaurants geschlossen, die Minibars weggeräumt und | |
zwischen den belegten Räumen Zimmer freigelassen, damit das Virus sich | |
nicht ausbreiten kann. Andere New Yorker Luxushotels bieten Hilfskräften | |
Räume zu Niedrigtarifen an. Und zahlreiche billigere Hotels vermieten ihre | |
Räume jetzt an die Stadt. Die hat dort Obdachlose einquartiert, eine | |
Bevölkerungsgruppe, die von dem Virus besonders bedroht ist. | |
Schräg gegenüber dem Four Seasons – ebenfalls mit Blick auf den Central | |
Park – befindet sich ein weiteres Fünfsternehotel. Das Trump International | |
Hotel beteiligt sich nicht an den gastfreundlichen Gesten anderer | |
Unternehmen. Es bietet seine Zimmer weiterhin für 575 Dollar pro Nacht an. | |
Wegen der Pandemie hat es bereits 70 Beschäftigte entlassen. Die Kette des | |
Präsidenten, die gegenwärtig von seinen beiden Söhnen verwaltet wird, hat | |
Hilfen aus dem Rettungspaket der US-Regierung beantragt. | |
## Schlangen an Suppenküchen | |
Das „Trump International“ in Washington, D.C., das in einem bundeseigenen | |
Gebäude sitzt und zu dessen wichtigen Kunden die Gäste des Präsidenten | |
gehören, ist bei der Bundesregierung vorstellig geworden und hat eine | |
Mietsenkung beantragt. Bei einer Recherche in sieben Trump-eigenen Hotels | |
in den USA hat „ProPublica“ nirgends „staatsbürgerliche Gesten“ gefund… | |
Bei der Gewerkschaft Unite Here stellen sich mit den Massenentlassungen | |
jede Menge existenzielle Fragen. Unter ihren Mitgliedern sind | |
überproportional viele afroamerikanisch oder Latinos, ein Teil hat keine | |
Aufenthaltspapiere, und die meisten Beschäftigten sind Frauen. Die Löhne | |
sind niedrig, und kaum jemand hat Reserven auf der Bank. Viele Entlassene | |
stehen schon jetzt Schlange an den Suppenküchen für Arme in New York. | |
Wenn ihre in den Washingtoner Rettungspaketen beschlossenen Übergangshilfen | |
für Arbeitslose nach drei Monaten auslaufen, werden sie auch ihre Mieten | |
nicht mehr zahlen können und tiefer abstürzen. Spätestens zu diesem | |
Zeitpunkt verlieren die meisten von ihnen auch die Krankenversicherung. In | |
den USA sind Krankenversicherungen an den jeweiligen Arbeitgeber gebunden. | |
Wer überhaupt eine Krankenversicherung hat, verliert sie in der Regel | |
zugleich mit dem Arbeitsplatz. | |
Für die ersten drei Monate hat Unite Here arbeitslos gewordene Mitglieder | |
in eine Krankenversicherung aufgenommen. Viele Mitglieder gehören zu | |
gesundheitlichen Risikogruppen, haben bereits bestehende Erkrankungen und | |
sind medizinisch unterversorgt. Die Gewerkschaft unterstützt sie jetzt bei | |
Mietstreiks und Fundraising. Doch nach dem Wegfall der meisten | |
Mitgliedsbeiträge kann Unite Here solche Leistungen nicht unbefristet | |
erbringen. | |
Jene, die ohne langfristige Arbeitsgenehmigung in New York im Tourismus | |
arbeiten, überlegen, ob sie überhaupt staatliche Hilfen beantragen sollen. | |
„Weiß jemand, ob ich dadurch womöglich meinen nächsten Visumantrag | |
gefährde?“, fragt eine europäische Jazzmusikerin, die sich in New York | |
durchschlägt, ihre Kollegen. Der US-Präsident hat die Behörden angewiesen, | |
Immigranten, die in den USA Sozialleistungen in Anspruch nehmen, | |
Negativpunkte zu geben. | |
Die großen Hotelkonzerne haben Anliegen in anderen Größenordnungen. Sie | |
verstehen die bislang von der US-Regierung bewilligten Rettungsprogramme in | |
Billionen-Dollar-Höhe als Hilfe, um die Krise zu überstehen und fällige | |
Darlehen an Banken zu zahlen. Unite Here und andere Gewerkschaften hingegen | |
appellieren an Washington, nur solchen Unternehmen öffentliche Hilfen zu | |
zahlen, die ihre Beschäftigten behalten und zurückholen. | |
## Offene Fragen | |
Aber allen Beteiligten der Branche stellt sich die bange Frage, wie ihre | |
Zukunft aussehen wird. „Da gibt es jede Menge Unbekannte“, sagt | |
Gewerkschafter Bitterman: „Wann gibt es einen Impfstoff und eine | |
Behandlung, wann öffnen die Unternehmen, wie entwickelt sich die Nachfrage, | |
wie funktioniert in Zukunft das Social Distancing?“ | |
Jan Freitag, der die Hotelbranche für die Datenverarbeitungsfirma STR | |
beobachtet, geht davon aus, dass als Erstes die Freizeitreisenden nach New | |
York zurückkommen werden, die Wochenendtouristen. Ihnen werden die | |
Geschäftsreisenden folgen, prognostiziert er. Als die große Frage | |
betrachtet er, wann wieder Kongresse und Konzerntreffen stattfinden werden. | |
„Dazu“, sagt er, „muss klar sein, wie man einen Kongress mit | |
2-Meter-Abständen organisiert.“ | |
Zu den vielen offenen Fragen gehört auch, wie viele kleinere Hotels | |
aufgeben werden, bevor sie wieder ins Geschäft kommen können. Und ob | |
Privatunterkünfte wie Airbnb künftig noch funktionieren werden. Beim | |
Interview mit einem New Yorker Radiosender gibt sich Airbnb-Chef Brian | |
Chesky optimistisch. „Unsere Gastgeber werden blitzblanke Räume haben, | |
werden sie desinfizieren und zwischen jeder Vermietung 24 Stunden leer | |
lassen“, versichert er. Aber Hotelfachleute halten es für möglich, dass | |
die Touristen der Zukunft eher auf standardisierte Reinigungsmethoden von | |
Kettenhotels setzen werden. | |
Im Theaterdistrikt von New York City flimmert die Leuchtwerbung für manche | |
Shows auch sieben Wochen nach Beginn der „Pause“. Aber die Drehbuchautorin | |
und Journalistin Gwyn McAllister, die in dem Nachbarquartier Hell’s Kitchen | |
wohnt und sich gewöhnlich durch dichte Trauben von Touristen aus aller Welt | |
zur Subway am Times Square kämpft, geht jetzt allein durch stille Straßen. | |
Der Gouverneur von New York hat die „Pause“ vorerst bis zum 15. Mai | |
verlängert. Aber McAllister erwartet, dass es länger dauern wird. Als | |
„persönliche Bewältigungsstrategie“ hofft sie auf eine „Rückkehr zu ei… | |
gewissen Normalität“ ab dem 13. Juni. | |
11 May 2020 | |
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[1] /Die-US-Metropole-im-Griff-des-Virus/!5678693 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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