# taz.de -- Soziologin über Polizei und Rassismus: „Die Polizei ist Schutz u… | |
> Für viele Menschen bedeutet weniger Polizei mehr Sicherheit, sagt Vanessa | |
> E. Thompson. Sie erklärt, warum Rassismusforschung auch frustrierend ist. | |
Bild: Sicherheit der einen, bedeutet Unsicherheit der anderen. Eine Szene vom F… | |
taz: Frau Thompson, viele Menschen würden wohl sagen, die Polizei sei vor | |
allem da, um Sicherheit aufrechtzuerhalten, Gewalttaten zu verhindern, | |
Ordnung herzustellen. Wie würden Sie die Rolle der Polizei in unserer | |
Gesellschaft beschreiben? | |
Vanessa E. Thompson: Natürlich sorgt die Polizei als Teil des staatlichen | |
Gewaltmonopols für Sicherheit und Ordnung. Die Frage ist jedoch: Für wen? | |
Schon Walter Benjamin hat darauf hingewiesen: Die Polizei hält nicht nur | |
das Recht aufrecht, sie setzt auch Recht. Diese Interpretationsspielräume | |
in der polizeilichen Praxis zusammen mit der Möglichkeit, Ordnung über | |
Zwang und Gewalt herzustellen, führen zu Ungerechtigkeiten. Es gibt viele | |
Menschen, die die Polizei nicht als Schutz wahrnehmen, sondern als Gefahr. | |
Die Polizei schafft zeitgleich Sicherheit für die einen und Unsicherheit | |
für die anderen. | |
Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel? | |
Schauen wir uns das Frankfurter Bahnhofsviertel an. Ein migrantisierter | |
Raum, in dem sich viele Menschen bewegen. Auch solche, die drogenabhängig | |
sind oder wohnungslos, es findet Sexarbeit statt. Vor allem durch die | |
Gentrifizierung entstand die Forderung an die Polizei, dieses Viertel | |
„sicherer“ zu machen. Aber wenn gesellschaftliche Problemlagen über | |
Kriminalisierung gelöst werden sollen, bedeutet die Sicherheit der einen | |
die Unsicherheit der anderen. Wieso nicht Ressourcen investieren, die diese | |
Gruppen durch soziale Infrastrukturen unterstützen, statt sie noch mehr zu | |
kriminalisieren? | |
Wieso wird für die Lösung gesellschaftlicher Probleme trotzdem häufig mehr | |
Polizei gefordert? | |
Ich beobachte in der weißen, gut situierten Mehrheitsgesellschaft eine | |
Identifikation mit einem Sicherheitsverständnis, das nicht mitdenkt, | |
inwiefern diese Sicherheit auch mit der Unterdrückung der Kriminalisierten | |
zusammenhängt – das passiert entlang von verschränkten | |
Ungleichheitsdimensionen wie Rassismus, Vergeschlechtlichung oder | |
psychischer Gesundheit. Wir müssen marginalisierte Bevölkerungsgruppen | |
[1][ernst nehmen], die am Ende polizeilicher Praxis stehen und sagen, dass | |
sie sich nicht sicher fühlen. | |
Vor dem Gespräch haben Sie betont, um die Polizei zu verstehen, müssten wir | |
auch über ihre Entstehung sprechen. Wieso? | |
Die moderne Polizei ist Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden. Schon damals | |
war sie an die Verteidigung und Kontrolle von rassifizierten und | |
vergeschlechtlichten Besitz- und Ausbeutungsverhältnissen gebunden. Das hat | |
sich in Europa an Kontrollen von Sinti und Roma gezeigt, wurde aber auch in | |
Kolonien sichtbar. Wir können die Entstehung der modernen Polizei nicht | |
verstehen, ohne über den Kolonialismus nachzudenken. Das heißt übrigens | |
nicht, dass die heutige Polizei wie die Kolonialpolizei ist. Aber dieser | |
Zusammenhang ist wichtig, um zu verstehen, wie bestimmte Praktiken trotz | |
Wandel immer noch fortwirken. | |
Auf Demonstrationen von Black Lives Matter war zuletzt die Forderung | |
[2][„Abolish the Police“] zu hören. Was ist damit gemeint? | |
Der Abolitionismus steht in der Tradition des Kampfes um die Abschaffung | |
von Versklavung. Es gab in den USA, in der Karibik, aber auch in Europa | |
reformistische Ansätze, die Bedingungen innerhalb der Versklavung | |
verbessern wollten. Der transnationale Abolitionismus entgegnete: Das | |
gehört abgeschafft, das ist ein entmenschlichendes System, das nicht | |
reformiert werden kann. Neuere abolitionistische Bewegungen setzen sich mit | |
der Überwindung von staatlicher Gewalt in Gefängnissen, Lagern oder der | |
Polizei auseinander. Es geht beim Abolitionismus aber nie nur um eine bloße | |
Abschaffung im Sinne von Überwindung, es geht um eine gesellschaftliche | |
Transformation weg von Kriminalisierung hin zu sozioökonomischer und | |
politischer Gerechtigkeit und Teilhabe. | |
Es geht also weniger darum, die Polizei abzuschaffen, und mehr darum, sie | |
überflüssig zu machen? | |
Abolitionismus ist kein Ruf nach Chaos. Auch abolitionistischen | |
Perspektiven ist ein Leben in Sicherheit und Schutz wichtig, aber für alle. | |
Die Frage ist, ob diese Sicherheit durch Kriminalisierung hergestellt | |
werden oder ob stattdessen in soziale und ökonomische Gerechtigkeit | |
investiert werden soll, in Zugang zu progressiver Bildung, zu sozialem | |
Wohnen, in die Gesundheitsversorgung und Institutionen politischer | |
Teilhabe. Eine abolitionistische Kernfrage ist: Was brauchen besonders | |
marginalisierte Bevölkerungsgruppen, um sich sicher zu fühlen? Wir sehen ja | |
derzeit ganz deutlich, dass etwa Menschen in mentalen Krisen keine Polizei | |
brauchen, sondern Infrastrukturen, die für psychische Gesundheit sorgen. | |
Wie könnten tragfähige Alternativen zur Polizei aussehen? | |
Es gibt abolitionistische Ansätze wie Transformative Justice oder Community | |
Accountability, die seit Jahrzehnten erprobt werden. Sie wurden vor allem | |
von Schwarzen trans Frauen und migrantisierten Sexarbeiterinnen entwickelt, | |
die intersektional, also mehrfach von Ungleichheitsverhältnissen betroffen | |
sind. Sie sind in ihren Communitys sexualisierter oder häuslicher Gewalt | |
ausgesetzt, können aber auch nicht die Polizei rufen wegen Prozessen | |
staatlicher Kriminalisierung. Sie sagen: Wir wollen Sicherheit ohne | |
staatliche Gewaltformen, wir müssen aber auch die Gewalt in unseren | |
Communitys angehen. Bei diesen Ansätzen steht die Person, die Gewalt | |
erfährt, im Mittelpunkt. Braucht sie sozioökonomische Unterstützung? Will | |
sie Abstand? Und es wird gefragt: Wie ist es überhaupt dazu gekommen? | |
Solche Konzepte betonen, dass Gewalt nie nur von Individuen ausgeht, | |
sondern gesellschaftlich eingebunden ist. Die Person, die die Gewalt | |
ausgeübt hat, und die Community übernehmen dann gemeinsam Verantwortung. Es | |
gilt, die Strukturen zu verändern, die gewalttätige Handlungen mit | |
hervorbringen. | |
Der Gedanke, keine Polizei zu haben, scheint bei vielen dennoch eine | |
diffuse Angst vor Kriminalität und Chaos hervorzurufen. | |
Es ist interessant, wer solche Argumente nutzt. Diejenigen, die sagen, | |
keine Polizei führe zu Chaos, gehören häufig zu denen, die gar keinen | |
alltäglichen Kontakt mit der Polizei haben. Herrscht denn in den Communitys | |
dieser Menschen deswegen Chaos? Ich zeige zwar bei diesem Thema ungern auf | |
die USA, weil sich die Kontexte unterscheiden, aber ein Blick auf einen | |
Bummelstreik der New Yorker Polizei im Dezember 2014 kann uns weiterhelfen: | |
Damals ist trotz der Reduktion polizeilichen Handelns weder die | |
Kriminalität angestiegen noch haben sich die Menschen im Alltag unsicher | |
gefühlt. Viele Schwarze Menschen und weitere rassifizierte Gruppen haben | |
erleichtert gesagt: So muss es sich anfühlen, weiß zu sein. | |
Auch in Deutschland wird stellenweise über Polizeireformen diskutiert: Die | |
Kennzeichnungspflicht, nun das [3][Berliner | |
Landesantidiskriminierungsgesetz]. Gehen Reformen wie diese weit genug? | |
An sich lässt sich nichts gegen diese Reformen als Zeichen zu mehr | |
demokratischer Kontrolle der Polizei sagen, trotzdem glaube ich, dass sie | |
das Problem nicht an den Wurzeln packen. Dass es in der Öffentlichkeit | |
wegen dieser Reformen zu so aufgebrachten Reaktionen kam, irritiert mich. | |
Diese Gesetze nehmen Institutionen und Behörden einer demokratischen | |
Gesellschaft in die Verantwortung, nach Antidiskriminierungsrichtlinien zu | |
handeln, sie ernst zu nehmen und zu praktizieren. Was sagt es uns, dass es | |
da einen Aufschrei gab? | |
Eine häufige Kritik in der Debatte um Rassismus in der Polizei lautet, man | |
würde generalisieren. | |
Als Rassismusforscherin finde ich das frustrierend. Dieses auf Individuen | |
fokussierte Verständnis von Rassismus ignoriert die letzten vierzig Jahre | |
Forschung komplett. Rassismus ist ein gesellschaftliches Machtverhältnis, | |
das in postkolonialen Gesellschaften wie der unseren in alle Institutionen | |
eingewoben ist. Bei einer Kritik an institutionellem Rassismus geht es | |
nicht um Intentionen, um gute oder böse Polizeibeamte. Die Frage ist nicht: | |
Sind wir rassistisch? Sie muss lauten: Wie können wir verhindern, dass wir | |
Rassismus reproduzieren? Es fehlt eine systematische Auseinandersetzung mit | |
Rassismus. Wir können Fragen der sozialen Gerechtigkeit nicht adäquat | |
stellen, solange wir uns an einem individualisierten und ahistorischen | |
Verständnis von Rassismus abarbeiten müssen. Um es in aller Deutlichkeit zu | |
sagen: Dies ist eine systematische Aberkennung der eigenen Verantwortung in | |
der Herstellung von Ungleichheiten. | |
7 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Simon Sales Prado | |
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