| # taz.de -- Serie: Wie weiter, Germans (10): Die Mutter aller Revolutionen | |
| > Nach der Geburt ihres Kindes fühlt sich die Autorin isoliert und allein | |
| > gelassen. Ein Plädoyer für einen neuen Umgang mit Mutterschaft und | |
| > Sorgearbeit. | |
| Bild: Auf einmal ist man zu zweit | |
| Wenn ich mich an die ersten Monate mit Hannah erinnere, sehe ich mich durch | |
| ein unwirtliches, verregnetes Berlin hetzen. Ich bin zu spät und | |
| ungeschminkt, über meiner Oberlippe glänzt Schweiß und ein Spucktuch hängt | |
| aus meiner linken Manteltasche. Hannah schreit auf meinem Arm, während ich | |
| mit dem anderen versuche, den sperrigen Wagen auf eine Rolltreppe zu | |
| manövrieren. | |
| Ich bin mit einem Mann verabredet, neben dessen geschniegelter und | |
| gebügelter Erscheinung ich mir schäbig vorkomme und der mir Dinge über | |
| meinen Film sagen wird, den ich gerade versuche fertigzustellen. Er wird | |
| sagen, dass ich „alles richtig gemacht“ habe, dass der Film | |
| „avantgardistisch“ und „besonders“ sei, „ein richtiger Festivalfilm�… | |
| ich solle mir keine Hoffnungen machen: „Geld kann man damit nicht | |
| verdienen.“ | |
| Ich sehe mich, wie ich nicke, dankbar, fast ein bisschen unterwürfig, und | |
| Hannah mit einer Rassel vor dem Gesicht rumfuchtele, während ich das | |
| Mobiltelefon aus der Hosentasche fische. Ich muss weiter zu einer | |
| Veranstaltung zu Gender und Film. Weil es dafür kein Geld gibt und ich | |
| keine Kinderbetreuung habe, muss ich Hannah vorher bei meinem Vater | |
| abgeben, der mich in die Stadt gefahren hat. | |
| Wenn das ein Film wäre, wäre das lustig, sofort bekäme die Protagonistin in | |
| ihrer Erbärmlichkeit einen heroischen Glanz. In Wahrheit habe ich mich sehr | |
| oft elend gefühlt in diesen ersten Monaten. Eines der vorherrschenden | |
| Gefühle war Einsamkeit, gefolgt von Wut und Enttäuschung (die oft meinem | |
| Freund Mathias galten). Oft habe ich mich fehl am Platz gefühlt, oft fand | |
| ich mich selbst langweilig (als Freundin, als Künstlerin). Um | |
| herauszufinden, womit das zusammenhängt, gehe ich ein Stück zurück. | |
| ## Abgestoßen von rosaroten Websites | |
| Über die Veränderungen, die während der Schwangerschaft mit mir und meinem | |
| Körper passierten, und die Gefühle, die das in mir auslöste, sprach ich nur | |
| wenig. Von den rosaroten Schwangerschafts-Websites war ich abgestoßen. | |
| Andere Mütter kamen mir vor, als würden sie mich auf ihre Seite ziehen | |
| wollen, und ich wollte doch auf keine Seite. | |
| Mit Mathias konnte ich wenig teilen, denn er wohnte in einer anderen Stadt | |
| und war viel mit seiner Band auf Tour. Für ihn war meine Schwangerschaft | |
| noch eine abstrakte Tatsache, die er hin und wieder vergaß. Jedes Mal, wenn | |
| meine Schwangerschafts-App mir riet, ich solle mich von meinem Freund | |
| massieren lassen oder ein romantisches Bad mit ihm nehmen, versetzte es mir | |
| einen Stich, und ich ertappte mich dabei, von Mathias als dem Klischee des | |
| Mannes, der nie da ist, zu denken. | |
| Die Mütter um mich herum sagten, ein Vater würde sich eh erst für sein Kind | |
| interessieren, wenn es laufen könne. Sie sagten, dass sie de facto die | |
| Sorgearbeit allein übernähmen – egal, was vorher abgemacht gewesen sei. Das | |
| sei eben so. | |
| Wie sehr ich mich in diesem „Das ist eben so“ eingerichtet hatte, merkte | |
| ich, als ich in dem Buch „The Mamas and the Papas – Reproduktion, Pop und | |
| widerspenstige Verhältnisse“ auf das 50/50-Prinzip stieß. Ich las zum | |
| ersten Mal den Begriff „Sorgearbeit“ oder zumindest brachte ich ihn das | |
| erste Mal mit mir in Verbindung. | |
| Die Idee, diese gerecht zwischen Mathias und mir aufzuteilen, machte mich | |
| schwindelig. All die freie Zeit! Innerlich hatte ich mich schon damit | |
| abgefunden, mindestens ein Jahr zu „verlieren“. Mathias reagierte freudig | |
| auf das Konzept. Er hatte sich auf den frustrierenden Zustand vorbereitet, | |
| die meiste Zeit untätig neben seiner stillenden Freundin zu sitzen und sich | |
| nicht zu trauen zu fragen, ob er ins Studio fahren könne. Die Aussicht | |
| darauf, Hannah gleichberechtigt neben mir großzuziehen, statt nur genau so | |
| viel Raum einzunehmen wie ich ihm überlassen würde, erfüllte ihn mit | |
| Vorfreude. | |
| ## Irre, was mein Körper kann | |
| Die Geburt erlebte ich dank einer Hebamme, die uns viel zutraute, als | |
| ermächtigend. Ich entdeckte meine Dankbarkeit für meinen Komplizen Mathias | |
| wieder. | |
| Es war irre, dass mein Körper pro Tag einen Dreiviertelliter Milch | |
| herstellen und damit einen Menschen ernähren konnte. Aber auch in meiner | |
| Freude darüber, dass das klappte, fühlte ich mich beobachtet. War das jetzt | |
| nicht schon Biologismus? War ich vielleicht dabei, auf alte Begriffe von | |
| Natürlichkeit und Ursprünglichkeit zurückzufallen, die ich längst | |
| überwunden geglaubt hatte? | |
| Argwöhnisch beobachtete ich meine intime Beziehung zu Hannah. War sie auch | |
| ja nicht zu eng? War ich vielleicht schon dabei, mich in meiner | |
| Mutterschaft aufzulösen und meine Beziehung zu Mathias gegen die zu Hannah | |
| einzutauschen? | |
| Die ersten Wochen waren Mathias und ich voll und ganz damit beschäftigt, | |
| die bloße Existenz von Hannah zu verarbeiten. Wir teilten uns die Aufgaben, | |
| so gut es ging, und alles, was wir lernten, war für uns beide gleichermaßen | |
| neu. Wir waren oft mit den Nerven am Ende, und es gab Momente, in denen wir | |
| unsere Entscheidung für Hannah bereuten, aber immer hatte einer noch gerade | |
| so viel Kraft, den anderen zu trösten. | |
| ## Nichts als Erschöpfung | |
| Dann, nach ein paar Wochen, fuhr Mathias wieder mit der Band auf Tour. Die | |
| Tage erschienen mir wie eine endlose Folge kleiner Verrichtungen, kleiner | |
| Aufschübe vor dem nächsten Schrei. Auf die Frage: „Wie geht es dir?“ | |
| antwortete ich mit einem Schulterzucken. Ich wusste es nicht. Es kam mir | |
| vor, als wären die Stillpausen nicht lang genug, um überhaupt irgendetwas | |
| anderes zu fühlen als Erschöpfung. | |
| Sobald mir Mathias in den Kopf kam, kamen mir meine Erlebnisse im Vergleich | |
| zu seinen lächerlich und langweilig vor, und ich empfand dann doch etwas: | |
| Scham für diese Langweiligkeit und Eifersucht auf seine Freiheit. | |
| Ich wusste nicht wohin. Es war Winter und alle Orte, an denen ich vorher | |
| immer gewesen war, schienen mir plötzlich unpassend. In den Augen der | |
| Menschen erkannte ich, dass ich jetzt eine Mutter war. Ich mochte diese | |
| neuen Blicke nicht. Ich wollte den Leuten zurufen: Nur weil ich einen | |
| Kinderwagen dabei habe, heißt das noch nicht, dass ich eine „normale“ | |
| (eingefriedete, funktionierende, berechenbare) Frau bin! | |
| Je öfter ich mit dem Kinderwagen allein unterwegs war, umso schwerer fiel | |
| es mir, von Mathias als Person zu denken. Er war der Mann, der auf Tour war | |
| und mich damit zu der Frau machte, die allein zu Hause blieb. Dieses | |
| Hetero-Ding fing an, sich schlecht anzufühlen. | |
| Plötzlich waren überall andere Eltern, und zwischen uns und allen anderen | |
| gab es eine Wand. Wir waren separiert, wie im Kleinkindabteil des ICE. Es | |
| kam mir falsch vor, hier zu sitzen, aber es war sicher nett gemeint von der | |
| Deutschen Bahn, und die Gespräche übers Zahnen und die Geburt waren auch | |
| immer irgendwie nett. Nett war auch der Kinderarzt, und trotzdem zuckte ich | |
| zusammen, als er mir zuraunte: „Endlich kann man seine Puppenträume | |
| ausleben, hm?“ | |
| Ich hatte einen neuen Stadtplan im Kopf, mit Orten, an denen ich stillen | |
| und wickeln konnte, denn ich hatte es satt, auf einem halben Quadratmeter | |
| Fliesen auf dem Boden einer Café-Toilette zu wickeln, „zum Schutz der | |
| anderen Gäste“, aber in den Still-Abstellkammern der Apotheken kam ich mir | |
| auch dämlich vor. | |
| ## Junge oder Mädchen? | |
| Auf den Spielplätzen wollten alle immer wissen, ob Hannah ein Junge oder | |
| ein Mädchen sei, weil das an ihrem blauen Jumper und dem rosafarbenen | |
| Nuckel nicht eindeutig festzustellen war. In Eltern-Kind-Cafés fanden die | |
| gleichen Gespräche statt, die sich irgendwann anfühlten wie Autokarten | |
| spielen. Gab es denn keinen Ort, an dem Zeit mit dem Kind nicht automatisch | |
| Freizeit war? Zu Hause fiel mir die Decke auf den Kopf, aber draußen kam es | |
| mir noch enger vor. | |
| Wenn ich mit Hannah allein war, war alles, wie es eben war: zwingend und | |
| krass. Sobald ich uns irgendwo verortete – in der Gesellschaft, in der | |
| Stadt, in der Beziehung zu Mathias –, fühlte es sich falsch an, Mutter zu | |
| sein; wie ein Verlust. | |
| Mein Muttersein wurde zunehmend unkommunizierbar. Plötzlich kam es mir | |
| logisch und unvermeidlich vor, zum Lohn für Verzicht und Entbehrungen seine | |
| privilegierte Beziehung zum Kind zu mystifizieren, während auf der anderen | |
| Seite die Väter in einen essentialistischen Natürlichkeitsglauben | |
| zurückfielen, um sich in ihrer Unbrauchbarkeit einzurichten. Ich machte | |
| Mathias Vorwürfe. | |
| „Du kannst doch nicht alle Kämpfe in unserer Beziehung austragen“, sagte | |
| Mathias. „Aber wo denn sonst?“, entgegnete ich. „Andere Orte als diese | |
| Beziehung und diese Wohnung habe ich ja nicht.“ | |
| Das war das Problem: Alle Orte, durch die ich mich bewegte, waren unpassend | |
| geworden. Die Lösungen, die mir angeboten wurden, waren Lösungen für | |
| Scheinprobleme. Und auch die Sprache, die mir für das, was ich sagen | |
| wollte, zur Verfügung stand, war abgenutzt und voller Passepartouts, die | |
| gar nicht passten. Sie schien die existenziellen Erfahrungen, die ich | |
| machte, nicht zu fassen, sondern in einen harmlosen, privaten Raum zu | |
| verfrachten, in dem alles rosa und voller Schmetterlinge war, ein bisschen | |
| Nivea-Werbespot, ein bisschen Heimatfilm. | |
| Mir fiel Karin Michalskis „The Alphabet of Feeling Bad“ wieder ein, eine | |
| filmische Arbeit über die Wichtigkeit, negative Gefühle zu politisieren. | |
| Und ich dachte: Entweder streite ich weiter mit Mathias, erkläre unsere | |
| Beziehung zum Verhandlungstisch über Sorgearbeitsverteilung oder mich | |
| selbst für beziehungsunfähig oder die Hormone für verantwortlich. Oder ich | |
| gehe raus und finde eine Sprache für das, was in mir vorgeht. | |
| ## Ein Schmerz, der sprachlos macht | |
| Ich versuche also eine Sprache für den Schmerz zu finden. Für den Schmerz | |
| und die Einsamkeit und all die anderen Gefühle in mir, und während ich das | |
| so schreibe, kommt es mir vor, als wäre ich einer Sache auf der Spur. | |
| Dieser Schmerz, für den ich noch keine Sprache habe, scheint etwas | |
| Seismografisches zu haben, denn er führt mich zu den Widersprüchen und | |
| Lügen dieser Gesellschaft. Zum Beispiel werden überall Bilder von Müttern | |
| verehrt und Gleichberechtigung gepredigt, und trotzdem ist Mutterschaft und | |
| Mütterlichkeit als Handlungsmodus in unserem angeblich so humanen | |
| Kapitalismus immer noch nichts wert. | |
| Einmal aus dem Beziehungsraum herausgenommen, wird mein Leiden zu einem | |
| Leiden an den Verhältnissen. Ich sehe mich um und entdecke plötzlich eine | |
| ganze Menge möglicher Verbündeter – bloß dass die mich noch nicht erkannt | |
| haben, denn ich bin ja Mutter. Ich strecke also die Hand hoch und winke. | |
| Hier ist die Revolution! | |
| Es würde sich lohnen, Müttern zuzuhören. Es würde sich lohnen, sie in ihrem | |
| Unmut zu bestärken und sie als Kämpferinnen für eine andere Welt in | |
| Betracht zu ziehen, statt sie abzuschreiben als verloren in der | |
| heteronormativen Ödnis und Privatlebenfalle. Warum? Als Mutter bin ich in | |
| der Arbeitswelt eine Gefahr für reibungslose Abläufe, auf dem | |
| beschleunigten Markt der Romantik nur noch B-Ware. Ich funktioniere nicht | |
| mehr – zumindest nicht nach dem Gesetz der Effizienz. Darin steckt | |
| transformatorisches Potenzial. | |
| ## Die Vorstellung einer besseren Welt | |
| Fragte man mich, wie eine Welt beschaffen sein müsste, in der das | |
| Mutterwerden mich nicht automatisch aufs Abstellgleis katapultiert, würde | |
| ich eine Welt beschreiben, in der nicht alles messbar ist. Es ginge weniger | |
| um Fakten, und trotzdem herrschte keine Willkür, denn die „matters of fact“ | |
| wären im Sinne von Bruno Latour den „matters of concern“ gewichen. Das | |
| heißt, dass wir unsere Meinungen nicht mit Fakten polstern, zu denen es | |
| eben auch immer alternative gibt, oder uns damit aufhalten, die zu | |
| dekonstruieren, sondern stattdessen an stabilen „Dingen von Belang“ bauen. | |
| In dieser Welt wäre nicht die Kleinfamilie die Idealform, sondern das Dorf, | |
| das es laut einem afrikanischen Sprichwort braucht, um ein Kind | |
| großzuziehen. Freiheit würde nicht Unabhängigkeit bedeuten, sondern das | |
| Recht, sich geliebten Menschen zu verpflichten. | |
| In dieser Welt würde die elterliche Unsicherheit auf dem Neuland nicht | |
| ausgenutzt, um Mütter und Väter heimlich zu Produkt-ExpertInnen | |
| auszubilden, sondern der rasante Wechsel der kindlichen Entwicklungsphasen | |
| gälte als willkommener Anlass, die eigene Intuition und | |
| Improvisationsfähigkeit zu schulen. | |
| Das Kinderkriegen wäre überhaupt keine geheime Profession, in die man | |
| beizeiten eingewiesen würde, sondern etwas völlig Normales. Wir würden alle | |
| ein bisschen Mutter und alle ein bisschen Vater sein, immer mal wieder, und | |
| dazwischen alles Mögliche andere. Alle hätten Umgang mit Kindern – und um | |
| ein bisschen Kinder zu haben, müsste man nicht gleich selbst eins kriegen. | |
| Alle Räume wären so gestaltet, dass man sich weder als Kind noch als Mutter | |
| fehl am Platz fühlt. Das heißt nicht, dass die Welt ein großer Spielplatz | |
| wäre. Aber vermutlich gäbe es weniger Pseudoseriosität, weniger Kriege und | |
| andere Dinge, die man Kindern nicht erklären kann, weniger virtuelle Räume, | |
| weil Kinder Dinge anfassen können wollen, und keine (Filter-)Blasen, denn | |
| Kinder erkennen die nicht und mögen sowieso nur Seifenblasen. Hedonismus | |
| wäre nicht den ledigen jungen Menschen vorbehalten. Und alle Texte würden, | |
| wie dieser hier, von Händen geschrieben, die gerade noch Babybrei | |
| zubereitet haben. | |
| Dieser Text ist aus der neuen Ausgabe der FUTURZWEI. Seit dem 12. September | |
| am Kiosk oder auch [1][direkt hier zu bestellen]. | |
| 8 Oct 2017 | |
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| ## AUTOREN | |
| Susanne Heinrich | |
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