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# taz.de -- Sehnsüchtiger Pop von Øye und Maschat: Pingpong im Lockdown
> Die Musiker Erlend Øye und Sebastian Maschat der Band The Whitest Boy
> Alive strandeten während Corona in Mexiko – und spielten ein Pop-Album
> ein.
Bild: Vorsicht vor der nächsten Welle: Erlend Øye und Sebastian Maschat am Pa…
Wenn einem Leute erzählen, dass sie die Coronakrise als Chance sehen, zu
Sinnsuche, Entschleunigung etc., dann mag man das angesichts Abertausender
Toter zynisch finden. Dennoch ist es Erlend Øye nicht wirklich übel zu
nehmen, wenn er in seinem neuen Song „Quarantime“ (sic!) singt: „Maybe the
one thing I enjoy the most / There’s just less options knocking on my door
/ I can’t fly anywhere / I can’t make plans / Future means tomorrow / I’m…
happy man“.
Das zwiespältige Glück, das durch die Verknappung der Wahlmöglichkeiten und
die Entlastung vom ständigen Entscheidungsdruck entstehen kann, dürfte
zumindest denjenigen nicht ganz fremd sein, die bisher von Infektion und
Arbeitsplatzverlust verschont geblieben sind.
[1][Der in Sizilien lebende Norweger Erlend Øye] ist bekannt als Sänger der
Bands Kings of Convenience und The Whitest Boy Alive und geriet schon im
März in die Fänge der Pandemie. The Whitest Boy Alive, die sich nach ihrer
offiziellen Auflösung 2014 letztes Jahr wieder zusammengetan und gerade mit
„Serious“ eine neue Single veröffentlicht hatten, sollten auf einem
Festival in Mexiko spielen. Während sich die Bandmitglieder einzeln auf der
Anreise befanden, wurde das Festival wegen Corona abgesagt.
## Es kam noch dicker
Trotz großer Enttäuschung wollten sie das Beste aus der Situation machen
und in dem Ort San José del Cabo neue Songs einspielen, denn der
musikbegeisterte Besitzer des dortigen Hotels El Ganzo hatte der Band vier
Tage Studiozeit versprochen. Dann kam es aber noch dicker und der
Bundesstaat Baja California Sur ließ nur noch Europäer einreisen, die sich
schon zwei Wochen in Mexiko aufhielten. Nur Erlend Øye, der Schlagzeuger
Sebastian Maschat und der mexikanische Booker der Band, Jorge Aguilar,
erreichten den Zielort. Der Rest hing in Mexiko-Stadt fest.
Øye und Maschat waren auf sich allein gestellt und begannen eine
musikalische „Pingpong-Schlacht“ (O-Ton Øye). Zu Øyes großer Überraschu…
stellte sich in Mexiko nämlich heraus, dass sein Schlagzeuger die letzten
15 Jahre heimlich Songs komponiert hatte. Und die sollten nun endlich zum
Leben erweckt werden, genauso wie Lieder, die Erlend Øye in der virtuellen
Schublade liegen hatte.
Das Ergebnis ist eine Art Double-Feature; wenn man so will, besteht
„Quarantine at El Ganzo“ aus zwei miteinander kommunizierenden Soloalben in
einem. Immer abwechselnd sind Lieder von Øye und Maschat zu hören, wobei
jeder seine eigenen Kompositionen singt und der andere dabei auf
verschiedenen Instrumenten begleitet. Maschat spielt diverse Perkussion,
Klavier, Synthesizer, Flöte und Posaune.
## Session-Band heißt Caged Dolphins
Weitere Musiker wurden vor Ort angeheuert, denn es galt aus der Not (wenig
Sozialkontakte) eine Tugend zu machen. Neben dem mexikanischen Booker wurde
sogar ein Hotelmitarbeiter Mitglied der liebevoll Caged Dolphins genannten
Session-Band. Die Künstlerin Clara Cebrián, die ebenfalls im Hotel El Ganzo
wohnte, gestaltete das Album-Cover und ist in einem Song als Sängerin zu
hören.
Während Øyes Stimme professionell ihre reservierte Sanftheit verströmt,
klingt Maschat sympathisch underperformend. Geradezu rührend, weil
ungeschützt enthusiastisch singt er in „Wipe Out“, einem an Kinderlieder
erinnernden Song über seine Surfleidenschaft: „Oh my God, surfing is so
cool.“ Zweifellos hört man dem Album an, dass es unter provisorischen
Umständen entstanden ist, einiges bleibt ungeschliffen und skizzenhaft, für
veredelnde post production fehlte die Infrastruktur.
Zwar haben die Musiker in der sozialen Notsituation primär füreinander
musiziert, doch klingt das Ergebnis nie privatistisch, sondern einladend
und in seiner Vorläufigkeit erfrischend offen. Es gibt im Grunde keine
Refrains, aber es geht sowieso nicht um die große Geste – um einen
vermarktungsfähigen „Sound of Quarantine“ oder ähnlichen Humbug – sonde…
um die produktionsästhetische Frage, wie man die durch
Coronabeschränkungen erzwungene künstlerische Unfreiheit in eine
produktive Versuchsanordnung übersetzt.
## Impressionistischer Sound
Kleine Momente machen den besonderen Charme des Albums aus: ein
Hintergrundgesprächsfetzen dort, ein lustiges „Uh! Ah!“ dort. Die
Grundstruktur ist geprägt von einem impressionistischen, mal kargeren, mal
fülligeren Sound, der an die Bands des British-Folk-Revival der sechziger
und siebziger Jahre erinnert.
Auch Jazz und Bossa Nova sind unüberhörbare Einflussquellen, etwa in dem
bezaubernden „Butter Flies“. Und in „Distant Lover“ scheint der
Post-Rock-Pop von [2][The Sea and Cake] auf. Immer wieder fransen die Songs
gegen Ende in kleine Sessions aus, dann kann es schon mal subtil funky oder
progrockig werden. Wesentliche Unterschiede zwischen den Songs von Øye und
von Maschat sind kaum auszumachen, die beiden kennen sich ja auch schon
ewig.
Auf dem ganzen Album herrscht eine sanftmütige, unaufgeregte Stimmung vor,
die beiden scheinen ihren Frieden mit der vertrackten Weltlage gemacht zu
haben. Die Songtexte dürften – bis auf das zitierte „Quarantime“ –
weitestgehend vor der Pandemie entstanden sein. Sie verhandeln in bekannter
The-Whitest-Boy-Alive-Manier die Synkopen des Lebens, Momente, in denen
eine Liebe prekär wird, sich eine verborgene Sehnsucht zu Wort meldet oder
ein geliebter Ort seine Magie verliert. Um zu erfahren, ob die Coronakrise
nachhaltige Spuren hinterlassen hat und ob das Krisenglück von Dauer
bleibt, wird man auf das nächste, dann 'richtige’ Album von The Whitest Boy
Alive warten müssen.
9 Aug 2020
## LINKS
[1] /Neues-Album-von-Erlend-ye/!5032350/
[2] /The-Sea-and-Cake-mit-Album-und-Tour/!5509524/
## AUTOREN
Aram Lintzel
## TAGS
Pop
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Mexiko
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