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# taz.de -- Schwerbehindertem droht Abschiebung: Auf eigenen Beinen stehen
> Raheel Afzal flüchtete vor sieben Jahren aus Pakistan nach Deutschland.
> Nun soll der schwerbehinderte 33-Jährige abgeschoben werden.
Bild: Raheel Afzal in der Buchbinderei der Stephanus-Stiftung ​in Berlin-Ober…
Berlin taz | Raheel Afzal sitzt an einem dunkelbraunen Tisch und zieht mit
einer Pinzette konzentriert weiße Buchstaben aus einer silbernen Vorlage.
Er absolviert derzeit ein Praktikum in der [1][Buchbinderei der
Stephanus-Stiftung] auf dem Gelände der Hochschule für Wirtschaft und
Technik in Oberschöneweide.
Mit am Tisch sitzen die Sozialarbeiterin der Stephanus-Stiftung Anja
Schlorke und Jobcoach Peter Wohlleben. Sie kennen Afzal mittlerweile gut
und helfen bei der Kommunikation, denn das Deutschsprechen fällt dem
33-Jährigen auch aufgrund seiner Behinderung schwer.
Afzal ist in Pakistan geboren. Vor sieben Jahren flüchtete er von dort nach
Deutschland. Aufgrund psychischer und kognitiver Beeinträchtigungen und
einer schweren Epilepsie gilt Afzal mit einem Grad von 70 Prozent als
schwerbehindert. Trotzdem soll er nun wieder nach Pakistan abgeschoben
werden, am 19. Oktober läuft seine Duldung aus.
2019 kam Raheel Afzal zum ersten Mal zur psychosozialen Beratungsstelle für
politisch Verfolgte, [2][Xenion]. Zu diesem Zeitpunkt wohnte er noch in
einer Sammelunterkunft. „Bei Raheel wurde versäumt, zeitnah die
tatsächlichen Kompetenzen und Ressourcen zur Integration und seinen
Unterstützungsbedarf zu identifizieren und adäquat auf diese Bedarfe zu
reagieren“, erklärten Vertreter unter anderem von Xenion und des
Flüchtlingsrats bereits [3][in einer Pressemitteilung Ende September.]
„Aber gerade jetzt, wo er eine behindertengerechte Beschäftigung und ein
WG-Zimmer gefunden hat, soll er abgeschoben werden“, sagt Lynn Klinger,
Sozialberaterin bei Xenion.
## Letzte Hoffnung Härtefallkommission
Klinger leitete Afzals Fall an die [4][Härtefallkommission] weiter. Die
siebenköpfige Kommission, bestehend unter anderem aus Vertretern der
Kirche, des Migrationsrats e. V. und der Senatsverwaltung für Gesundheit,
hatte mit einer Zweidrittelmehrheit für die Empfehlung gestimmt.
Für ausreisepflichtige Flüchtlinge mit besonderen humanitären Härten kann
die Härtefallkommission die letzte Hoffnung sein. Gemäß [5][Paragraf 23a
des Aufenthaltsgesetzes] kann die Berliner Kommission seit 2004
Härtefallanträge positiv bewerten und somit eine Empfehlung aussprechen,
den Flüchtlingen trotz Ausreisepflicht einen Aufenthaltstitel zu gewähren.
Die Voraussetzung: Innensenator Andreas Geisel (SPD) muss die Empfehlung
annehmen. Tut er das nicht, werden die Flüchtlinge trotz humanitärer Härten
zurück in ihre Heimatländer abgeschoben.
Doch Innensenator Geisel hat Afzal einen Strich durch die Rechnung gemacht:
Er lehnte ein humanitäres Bleiberecht entgegen der Empfehlung der
Kommission ab. Konkret bedeutet das, dass Raheel Afzal trotz seiner
schweren Behinderung so bald wie möglich wieder nach Pakistan abgeschoben
werden soll.
Auch eine Petition gegen die Abschiebung, die Klinger in diesem Sommer an
den [6][Petitionsausschuss des Abgeordnetenhauses] richtete, wurde
abgelehnt. Die mündliche Begründung des Ausschusses laut Klinger: „Herr A.
wird in absehbarer Perspektive nicht auf eigenen Beinen stehen.“
## Keine Hilfe in Pakistan
Die Sozialarbeiterin der Stephanus-Stiftung, Anja Schlorke, kritisiert
dieses Vorgehen. „Es wird oft die Argumentation genannt, dass sich die
Flüchtlinge selbst um einen Job kümmern müssen“, sagt sie, „ein
schwerbehinderter Mensch kann das aber nicht ohne Hilfe.“
Psychische und kognitive Beeinträchtigungen sind nicht die einzigen Faktor,
die Afzal den Alltag erschweren. Bei ihm wurden außerdem generalisierte
Angst- und Schlafstörungen sowie depressive Episoden diagnostiziert. Laut
eigenen Angaben hat Afzal keine Familie oder Freunde in seiner Heimat, die
sich um ihn kümmern könnten.
Auch könne ihn das pakistanische Gesundheitssystem nicht adäquat versorgen.
„In Pakistan gibt es etwa einen Neurologen pro 1,4 Millionen Einwohner, in
Europa sind es etwa zehn pro 100.000“, sagt [7][Stefan Debener, Leiter der
neuropsychologischen Abteilung der Universität Oldenburg], „bei vielen
neurologisch relevanten Erkrankungen wie der Epilepsie haben Betroffene in
Pakistan kaum eine Chance auf eine angemessene medizinische Versorgung.“
Auf Nachfrage der taz antwortete die Pressestelle von Innensenator Geisel,
man gebe aus Gründen des Persönlichkeits- und Datenschutzes keine Auskünfte
zu aufenthaltsrechtlichen Einzelfällen – vor allem in Bezug auf
Härtefallanträge.
Lynn Klinger sagt, der Innensenator habe die Empfehlung abgelehnt, weil die
entsprechenden Integrationsbemühungen von Raheel Afzal nicht ausreichen und
die Integrationskriterien nicht erfüllt würden. Dazu zählen etwa
Sprachkompetenzen und die Teilnahme am Wirtschaftssystem oder an
Bildungsangeboten. „Meines Wissens nach gibt es zwar gewisse Maßstäbe und
die Fälle werden sicherlich untereinander verglichen“, sagt Klinger,
„letztendlich wird aber immer der Einzelfall geprüft.“
## Ein Teufelskreis
Seit Anfang August absolviert Afzal ein Praktikum in den Werkstätten der
Stephanus-Stiftung. „Wir sind bereit, Herrn Afzal im Rahmen der beruflichen
Teilhabe am Arbeitsleben in unsere Werkstatt zu integrieren“, sagt
Sozialarbeiterin Schlorke. Für eine solche Festanstellung bräuchte er
jedoch eine Aufenthaltsgenehmigung. Diese kann das Landesamt für
Einwanderung wiederum nur ausstellen, wenn Afzal einen festen Arbeitsplatz
hat.
Man merkt: Es ist ein Teufelskreis. „Mit einer Aufenthaltsgenehmigung
könnten wir Raheel fest anstellen und dann wären die idealen Bedingungen
für seine Integration geschaffen“, sagt auch Peter Wohlleben, Vorsitzender
des Behindertenbeirats Berlin. Er hat Afzal bei der Einführung in sein
Praktikum begleitet und sagt, er sei begeistert von dessen Engagement in
der Werkstatt.
Wohlleben wünscht sich genauso wie Klinger und Schlorke ein Umdenken von
Innensenator Geisel. „Man könnte ihm ja erstmal ein paar Jahre geben,
jetzt, wo er endlich die idealen Voraussetzungen hat“, sagt Wohlleben, „wir
wollen Raheel ja alle hier behalten.“
15 Oct 2021
## LINKS
[1] https://www.stephanus.org/standorte/betriebsstaette-wilhelminenhof-werkstat…
[2] https://www.xenion.org/
[3] https://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/pm_28_9_21_raheel-a.-m…
[4] https://www.berlin.de/sen/inneres/buerger-und-staat/aufenthaltsrecht/haerte…
[5] https://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/__23a.html
[6] https://www.parlament-berlin.de/Ausschuesse/18-petitionsausschuss
[7] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/77278/Neurowissenschaftler-bauen-EEG…
## AUTOREN
Sara Guglielmino
## TAGS
Pakistan
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Flüchtlingsrat
Abschiebung
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