# taz.de -- Schulinitiative in Berlin-Wedding: Gegen das Bauchgefühl | |
> Weddinger Grundschulen haben keinen guten Ruf, viele bildungsbewusste | |
> Eltern ziehen deswegen weg. Eine Initiative kämpft dagegen. Mit Erfolg. | |
Bild: Ob sie im Wedding in die Grundschule gehen? Eine Initiative kämpft dafü… | |
Cansu sitzt im Klassenraum der 2d und liest. „Leon hat Geburtstag“, trägt | |
die Schülerin der Heinrich-Seidel-Grundschule vor. „Onkel Lars hat ein Buch | |
für ihn.“ Die Zweitklässlerin liest flüssig, ihre Aussprache ist | |
fehlerfrei. „Gut, Cansu“, lobt die Lehrerin. | |
Draußen vor dem Weddinger Backsteinbau sitzen Mütter mit Kopftuch und | |
ruckeln den Nachwuchs in den Kinderkarren in den Schlaf. Sie sprechen | |
türkisch. | |
Es sind nur zwei Momentaufnahmen, drinnen und draußen. Aber sie | |
verdeutlichen ganz gut das Dilemma, in dem alle Weddinger Grundschulen | |
stecken. Drinnen, im Klassenraum, sitzen Cansu, Elif und Emre und | |
buchstabieren „Geburtstag“, wie es auch ein Theo, eine Lotta und eine Marie | |
nicht besser könnten. Draußen radeln die Eltern von Lotta vorbei, hören die | |
türkischen Mütter und haben Angst: Dass ihr Kind unterfordert sein könnte, | |
wenn sie es an der Schule im Kiez einschulen. Weil die Mitschüler | |
vielleicht nicht so gut Deutsch sprechen. Weil ihr Kind vielleicht als | |
Außenseiter auf dem Schulhof stehen könnte. | |
Der Anteil von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache an den Weddinger | |
Grundschulen liegt in der Regel bei über 80 Prozent, an der | |
Heinrich-Seidel-Grundschule beträgt er 98 Prozent. Die Quoten der Kinder, | |
die „lernmittelbefreit“ sind – denen das Jobcenter also das Büchergeld | |
bezahlt –, korrespondieren in etwa mit diesen Zahlen. In Weddinger Kitas | |
trifft man auf bildungsbewusste Eltern, ob deutsch oder türkisch, die | |
sagen: „Kita ist ja noch okay, aber hier im Wedding schule ich mein Kind | |
nicht ein.“ | |
## Die Mittelschicht kommt | |
Denn auch wenn der Wedding zunehmend junge, bildungsnahe | |
Mittelschichtseltern anlockt, weil die Mieten noch einigermaßen bezahlbar | |
sind: Sobald die Kinder schulpflichtig werden, flüchten sie zurück nach | |
Pankow. | |
Karen Händschke will das ändern. Sie ist derzeit der Kopf der | |
Elterninitiative Schule-Wedding, die sich 2011 mit dem Vorsatz gegründet | |
hatte, dass genau diese bildungsbewussten Eltern nicht wegziehen, sondern | |
ihre Kinder im Wedding einschulen. Im kommenden Schuljahr wird nun der | |
erste „Jahrgang“ der Initiative, acht Jungen und Mädchen, gemeinsam an der | |
Carl-Krämer-Grundschule im Soldiner Kiez eingeschult. | |
„Das ist ein Gruppending, das gibt Sicherheit“, sagt Händschke, die | |
inzwischen bis zu 80 Elternadressen im Mailverteiler hat; die jüngsten | |
Kinder sind erst 2012 geboren. „Die Klischees über die Schulen hier können | |
ja auch Angst machen.“ Die Architektin, deren Tochter Johanna im Herbst | |
ebenfalls in die Carl-Krämer-Schule gehen soll, organisiert deshalb | |
Elterntreffen und Unterrichtsbesuche, spricht mit den SchulleiterInnen der | |
einzelnen Schulen im Einzugsgebiet: „Wir wollen natürlich, dass unsere | |
Kinder dann auch mindestens zu dritt zusammen in eine Klasse kommen.“ | |
An der Carl-Krämer-Schule sei man auf solche Wünsche eingegangen. Die | |
Schule habe sie überzeugt, sagt die zweifache Mutter: die Kunstbetonung, | |
viel Projektarbeit, „dieser sehr positive Umgang mit Vielfalt“. Das ist für | |
Händschke das Entscheidende: „Meine Kinder sollen von einem heterogenen | |
Umfeld profitieren. Alles andere, was wichtig ist, lernen sie schon auch | |
noch.“ | |
Micha Busers Tochter Alma wird erst im nächsten Jahr eingeschult, dennoch | |
hat er schon eine Reihe von Unterrichtsbesuchen mit der Initiative hinter | |
sich. „Favorit ist gerade die Heinrich-Seidel-Grundschule“, berichtet er. | |
Buser sagt zwar, er würde seine Tochter auch ohne die Gruppe im Hintergrund | |
an der Seidel-Grundschule anmelden. Und doch: Auch er vertraut nicht | |
einfach der Einzugsgrundschule um die Ecke. | |
Damit haben diese Elterninitiativen – es gibt sie nicht nur im Wedding, | |
auch Neukölln hat die „Kiezschule für alle“ – einen logischen Fehler. S… | |
propagieren Vielfalt, trauen aber zugleich ihrer eigenen Liberalität nicht | |
über den Weg. Das Gruppending: Man sichert sich ab, weil da immer dieses | |
Bauchgefühl ist: „Geht das jetzt zulasten meines Kindes, wenn ich die Welt | |
verändern will?“, fragt Händschke. | |
Mit ziemlicher Sicherheit nicht, sagt Kirsten Sümenicht, Leiterin der | |
Carl-Krämer-Grundschule in Wedding. Die Schule liegt mitten im Soldiner | |
Kiez. 90 Prozent der Kinder sind nichtdeutscher Herkunft, über 80 Prozent | |
sind „lernmittelbefreit“. Sümenicht ärgert es, dass diese Prozentangaben | |
immer als Indikatoren dafür herangezogen werden, was an schulischer Arbeit | |
möglich ist – und damit auch indirekt, wie es um die Intelligenz der Kinder | |
bestellt ist. „Dabei sind diese Kinder nicht weniger leistungsbereit als | |
andere Schüler.“ | |
Andererseits, sagt Sümenicht, könne man auch nicht wegdiskutieren, dass es | |
einen Zusammenhang gebe zwischen sozialer Herkunft und „dem Grad, in | |
welchem Maße die Kinder bisher gefördert wurden“. | |
## Engagierte Eltern | |
Von der Elterninitiative verspricht sich die Schulleiterin „neue Impulse“, | |
auch „sprachliche Vorbilder“ für Schüler, die nicht gut Deutsch sprechen. | |
Auch Elternarbeit sei ein Punkt: „In den letzten Jahren kamen bereits | |
verstärkt Eltern, die sehr interessiert sind an Schule und sich dann auch | |
noch mal ganz anders in der Gremienarbeit einbringen“, sagt Stefan Wegener, | |
der koordinierende Erzieher. Und es könnten noch mehr werden: Kürzlich | |
standen zwanzig Ini-Eltern in Sümenichts Büro, deren Kinder demnächst | |
eingeschult werden sollen. | |
Letztlich könnte den Eltern aber noch etwas gänzlich anderes in die Quere | |
kommen als Vorurteile und ein ungutes Bauchgefühl: die massiv gestiegenen | |
Schulanfängerzahlen im Bezirk (taz berichtete). Auch die | |
Carl-Krämer-Grundschule ist in diesem Jahr übernachgefragt und muss | |
mindestens eine zusätzliche erste Klasse aufmachen. Genaue Zahlen hat | |
Sümenicht noch nicht, denn das Schulamt ist schlicht überlastet. | |
25 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
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