# taz.de -- Lesen: Willi Wiberg heißt auf Arabisch Burhan | |
> Mütter mit Migrationshintergund werden in einem Seminar in Kreuzberg zu | |
> Vorleserinnen für Kindertagesstätten und Schulen ausgebildet - in ihrer | |
> Herkunftssprache. | |
Bild: Ob sie im Wedding in die Grundschule gehen? Eine Initiative kämpft dafü… | |
"Gerade und aufgerichtet sitzen, am besten auf dem vorderen Drittel des | |
Stuhls. Und den Kopf hoch!" Vorlesetrainerin Karin Kotsch gibt gute | |
Ratschläge, ihre zwölf Schülerinnen nehmen Haltung an. Nicht alle hier sind | |
daran gewöhnt, sich so selbstbewusst zu präsentieren. Die Frauen stammen | |
aus der West- und Osttürkei, aus Syrien oder aus dem Libanon und leben | |
heute in Kreuzberg, Neukölln, im Wedding oder in Tempelhof. Manche erst | |
seit ein paar Jahren, andere schon fast ihr ganzes Leben lang. Karin Kotsch | |
kommt aus Unna in Nordrhein-Westfalen und ist an diesem Wochenende ins | |
Kreuzberger Familienzentrum gekommen, um ihre zwölf Schülerinnen zu | |
Vorleserinnen auszubilden. | |
"Mama liest uns vor" heißt die fünf Tage umfassende Qualifizierung "für | |
Mütter mit Migrationshintergrund". Die Teilnehmerinnen sollen später | |
Kindern in Grundschulen und Kitas vorlesen - in Deutsch und vor allem ihrer | |
jeweiligen Muttersprache. Eine selbstbewusst aufrechte Haltung ist dabei | |
wichtig. Nicht nur, weil man so viel besser die Aufmerksamkeit der Zuhörer | |
erringt. Sondern auch, um genug Atem dafür zu haben, Kinder mit Geschichten | |
zu faszinieren. | |
An Selbstbewusstsein mangelt es den Teilnehmerinnen des Vorleseseminars | |
nicht. Die hier versammelten Frauen sind lebendige Beweise gegen die | |
Behauptung, dass Migranteneltern sich zu wenig um die Bildungschancen ihrer | |
Kinder kümmern. Die meisten sind seit Jahren an den Schulen und Kitas ihrer | |
Kinder aktiv. | |
Wie Yildiz und Nazli, die mit anderen gerade den Verein "Eltern im | |
Reuterkiez" gründen. Die 39-jährige Yildiz hat selbst in Berlin die | |
Grundschule besucht - sie kennt die schulischen Probleme zweisprachiger | |
Kinder aus eigener Erfahrung. Auch Nazli ist in Berlin zur Schule gegangen. | |
Jetzt hilft sie anderen: Einmal in der Woche leitet sie die Koch-AG an der | |
Schule ihrer Jüngsten, außerdem lässt sie sich gerade zur Stadtteilmutter | |
ausbilden. Hekmat, die vor 16 Jahren als 24-Jährige aus dem Libanon nach | |
Berlin kam, engagiert sich ebenfalls bei "Eltern im Reuterkiez" - obwohl | |
ihre Kinder die dortige Grundschule längst verlassen haben. Sie besuchen | |
nun ein Gymnasium. | |
Drei Tage lang haben die Frauen zuerst die Grundlagen guten und spannenden | |
Vorlesens gelernt - zunächst theoretisch. Welche Bücher sind geeignet? Am | |
besten solche, die bebildert sind und nicht länger als 15 bis 20 Minuten | |
Vorlesezeit beanspruchen. Wie erzeugt man Spannung, wie inszeniert man eine | |
Geschichte, welche Hilfsmittel lassen sich einsetzen? Die Frauen haben | |
dafür Bücherkisten gebastelt, die Utensilien zu einigen der ausgewählten | |
Geschichten enthalten. Wie nimmt man Kontakt auf zu Schulen und Kitas, wie | |
viele Kinder können in einer Vorlesegruppe sein? Abhängig vom Alter am | |
besten höchstens acht, empfiehlt Trainerin Kotsch und ermahnt vor allem zu | |
Regelmäßigkeit: "Wenn ihr einmal mit einer Gruppe begonnen habt, müssen die | |
Kinder sich auf euch verlassen können." | |
Mit Korken im Mund haben die Frauen in den vergangenen Tagen das deutliche | |
Sprechen, mit Liedern und Tänzen den Mut zum Auftritt geübt. Nun, am | |
vierten Tag des Seminars, gehts um die Praxis. | |
Zuerst wird den Teilnehmerinnen vorgelesen - am Ende des Seminars sollen | |
die Frauen dann vor echtem Publikum eine praktische Prüfung ablegen. Mit | |
der arabischen Version der schwedischen Geschichte vom kleinen Nisse, der | |
zur Post geht und dort ein Paket bekommt, das die ganze Welt enthält, | |
fasziniert Hekmat ihre Zuhörerinnen - von denen nur eine Arabisch versteht. | |
Doch auch die anderen sind gefesselt. Hekmats mitreißender Vortrag | |
veranschaulicht eindrucksvoll, wie das Vorlesen selbst in fremden Sprachen | |
deren Schönheit deutlich werden lässt. | |
Die aus Syrien stammende Sulaima hat sich für eine Geschichte vom kleinen | |
Willi Wiberg entschieden, der immer so viel zu erledigen hat, dass er nicht | |
pünktlich zum Frühstück mit seinem Vater kommt. Wie Hekmat liest Sulaima | |
auf Arabisch und liefert eine eigene kurze Übersetzung jeder Seite ins | |
Deutsche hinterher. Aus ihrer Bücherkiste holt sie passend zur Geschichte | |
all die Dinge hervor, die Willi - auf Arabisch heißt er übrigens Burhan - | |
daran hindern, endlich in die Küche zu gehen: Ein Auto ohne Rad, ein | |
verheddertes Klebeband wollen nur noch mal eben in Ordnung gebracht werden. | |
"Ich bin ein Bücherwurm", sagt die 34-jährige Sulaima über sich. "Bücher | |
sind für mich wertvoller als ein Stück Gold." Als Kind einer deutschen | |
Mutter und eines syrischen Vaters wuchs sie in Syrien zunächst nur | |
arabischsprachig auf. Seit 16 Jahren lebt Sulaima in Deutschland und will | |
ihre Kinder zweisprachig erziehen. Und anderen Familien dabei helfen, mit | |
Vorlesen zum Beispiel. | |
Wenn Frauen wie Hekmat, Yildiz oder Sulaima an Schulen in ihren | |
Muttersprachen lesen, werden sie auch eine Vorbildfunktion für viele Kinder | |
haben, hofft Eva Müller-Boehm. Sie hat die Qualifizierungsmaßnahme | |
organisiert. "Viele Migrantenkinder erleben Schriftsprachlichkeit in ihrer | |
Familie fast gar nicht, weil dort nicht gelesen und kaum geschrieben wird. | |
Sie lernen das Lesen nur in der Schule kennen. Und dort eben nur auf | |
Deutsch." | |
Eva Müller-Boehm weiß, wovon sie spricht. Sie ist selbst Lehrerin an einer | |
Grundschule im Wedding, organisiert dort die Lehrerfortbildung für Deutsch | |
als Zweitsprache und ist außerdem Koordinatorin für das | |
Bund-Länder-Programm "FörMig", das Kinder und Jugendliche mit | |
Migrationshintergrund fördert. "Es bedeutet für die Kinder Anerkennung, | |
wenn sie erleben, dass ihrer Herkunftssprache Wert beigemessen wird. Dass | |
es etwas Gutes ist, dass sie zwei Sprachen können." Das sei an manchen | |
Schulen leider keine Selbstverständlichkeit. "Dabei fördert das Vorlesen | |
auch in der Herkunftssprache der Kinder die Begriffsbildung und damit den | |
Wortschatz", erklärt die Expertin, "und hebt damit auch die | |
Deutschkenntnisse der Kinder an." | |
Die Prüfung zwei Tage später bestehen alle Teilnehmerinnen. Trainerin | |
Kotsch ist stolz - auch darauf, dass alle zwölf bis zum Schluss | |
durchgehalten haben. Die Schulung fand an zwei aufeinanderfolgenden | |
Wochenenden statt: "Für Mütter ist das gar nicht so leicht, sich diese Zeit | |
zu nehmen", so Kotschs Erfahrung. Die 48-jährige gelernte Buchhändlerin ist | |
durch die Bildungsdebatten nach Pisa auf die Idee zu ihren Vorleseseminaren | |
gekommen. Mittlerweile wird sie bundesweit gebucht. Und überlegt bereits, | |
nach Berlin überzusiedeln: "In Nordrhein-Westfalen ist die Entwicklung viel | |
weiter, viele Projekte sind schon abgeschlossen." In Berlin dagegen werden | |
VorleserInnen mit Migrationshintergrund noch dringend benötigt, bestätigt | |
Lehrerin Müller-Boehm. Und plant schon weitere Seminare. | |
12 Jun 2008 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
## TAGS | |
Wedding | |
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