# taz.de -- Saisonstart am Burgtheater Wien: Bonsoir Tristesse | |
> Die Theater in Österreich haben für die Öffnung gekämpft, sie sind | |
> zumindest halb voll. Mit Calderón ruckelt sich das Burgtheater wieder in | |
> den Alltag. | |
Bild: Szene aus „Das Leben ein Traum“, Sigismund wird rabiat | |
Wien sei eine „Theaterstadt“, sagt man. Sagt die Fremdenverkehrswerbung. | |
Sagen jene Gruppen der Gesellschaft, die in der Lage sind, sich und ihre | |
kulturellen Bedürfnisse in der Stadt zu artikulieren. Da wurde die längste | |
Theaterzwangspause seit der Wiederbegründung der Republik nach dem Zweiten | |
Weltkrieg zur causa prima der nationalen Politik, nicht nur in der | |
Hauptstadt. [1][Die Salzburger Festspiele zwängten sich durch ein rigides | |
Sanitätsregime] und auch die Wiener Großinstitutionen warfen ihre | |
prognostizierten Mehrkosten der Epidemie in die politische Waagschale. | |
Der seit einem Jahr amtierende Burgtheaterdirektor Martin Kušej hielt sich | |
in der Debatte vornehm zurück. Den Aufstand der Theaterpatriarchen gegen zu | |
viel Schließung und zu viel Abstand führte Kušejs Kollege und Konkurrent | |
Herbert Föttinger vom Theater in der Josefstadt an. | |
Das Resultat kann sich sehen lassen. Die Abstandsregeln sind weit liberaler | |
als bislang in vielen deutschen Bundesländern: personalisierte Karten zwar, | |
Maskenpflicht bis zum Sitzplatz, links und rechts einer in einem Haushalt | |
lebenden Einheit ein Platz frei, aber keine Leerreihen dazwischen. Wie eh | |
und je spürt man den Atem von MitabonnentInnen im Nacken. | |
## Gänse statt Pfauen | |
Die „Hütte“ ist zumindest halb voll. Institutionalisierte Interessen haben | |
sich zuverlässig durchgesetzt, während viele selbstständige KünstlerInnen | |
mit der regelmäßigen Verzögerung ihrer Epidemie-Almosen zu kämpfen hatten. | |
Die apokalyptische Erwartung trügt, die Krise macht alles andere als alle | |
gleich. | |
Das Ordnungspersonal, dem Folge zu leisten die Anstaltsleitung per | |
Durchsage eindringlich empfiehlt, hat sich gefühlt verdreifacht und achtet | |
auf den reihenweisen Abgang des geschätzten Publikums im Gänsemarsch. Das | |
Pfauengehabe im Publikum in und um eine Wiener Premiere ist dahin, die | |
Sache könnte irgendwo stattfinden. | |
Wie aber kann das Theater, das sich über Monate zumeist nur mit der | |
Flaschenpost verzweifelter Videostreams zu Wort gemeldet hat, auf die | |
Zumutung neuer Normalitäten reagieren? Als traditionelle Versammlungspraxis | |
steht es vor einer unerwarteten sozialen Konstellation, bekannte andere | |
werden durch das Virus potenziell zu unerkannten Feinden. Gibt es darauf | |
auch in der ästhetischen Praxis eine Antwort? Oder bleibt das Theater | |
gefangen in der Logik der Systemerhaltung: Wir haben ein Hygienekonzept | |
und können mit Einschränkungen weitermachen wie bisher? | |
Martin Kušej verlegt sich in seiner Saisoneröffnung an der Burg mit Pedro | |
Calderón de la Barcas „Das Leben ein Traum“ auf ein barockes Spiel von Sein | |
und Schein. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, aber wofür? Für | |
Calderón ist es der verborgene göttliche Plan einer absolutistischen | |
Gesellschaftshierarchie, für Kušej die Vorlage für ein heftiges | |
Dopaminfeuer à la David Lynch, das mit Projektionen, blacks und akustisch | |
unterlegten harten Schnitten seine Sehnsucht nach dem Film verrät. | |
## Ins Horrorgenre hinüberspielen | |
Auf den ersten Blick scheint die Geschichte vom Prinzen Sigismund im fernen | |
Polen (Franz Pätzold) ganz gut zu aktuellen Verschwörungsmythen zu passen. | |
Vom bösen König Basilius (Norman Hacker) wird er eines schlechten Omens | |
wegen nackt auf einer horrorfilmmäßigen Sezierpritsche gefangen gehalten. | |
Nach einem Morphiumschlaf darf er probehalber als König agieren. Eine | |
Mischung aus Kaspar Hauser und Donald Trump kostet die vorgebliche | |
Immunität im Amt aus. | |
Einem Diener dreht er den Hals um und greift Hofdamen ans Dekolleté, | |
woraufhin er nach einer weiteren Einschläferung erst einmal wieder im | |
vertrauten Gothic-Knast landet. Es ist ein wenig wie in „Matrix“, aber | |
anders als dort ist das Verhältnis von schnöder Realität (rote Pille) und | |
süßem Traum (blaue Pille) etwas komplizierter. | |
Weniger kompliziert gerät die Sache dann in der Durchführung. Was auf einer | |
schnöden Briketthalde beginnt, fächert sich auf zum schicken Designerstück | |
in der Saisonfarbe Anthrazit an Bauten und Textilen (Bühne: Annette | |
Murschetz, Kostüme: Heide Kastler). Der Hof ein Chargenspiel. Kokett ficht | |
Prinzessin Estrella (Andrea Wenzl) mit ihrem christian-grey-verklemmten | |
Galan Astolf (Johannes Zirner) und hie und da läuft ein Tröpfchen | |
Theaterblut über ihre feine weiße Haut. Schön ist’s nur, wenn’s auch | |
wehtut. Stellt sich Zeitgenossenschaft schon deswegen ein, weil man den | |
Soft-SM-Schund der jüngeren Populärkultur mit wissendem Zeigefinger | |
zitiert? | |
Die Anverwandlung ans Gewöhnliche am Ort potenziell ungewöhnlicher | |
Erfahrungen langweilt zusehends. Vielleicht liegt es am langen Lockdown, | |
dass man plötzlich die Grenzen im Theater der Interpretation entdeckt. | |
Warum braucht es eigentlich immer eine psychologische oder situative | |
Konstellation, die Texte einhegt, ihnen ihre Unwägbarkeiten und ihre | |
Abgründe nimmt, nur um sie im Horizont von Alltagserfahrungen | |
anschlussfähig zu machen? Wäre es nicht spannender, einen Text einfach | |
durch den Körper gehen zu lassen und seine erwünschten wie unerwünschten | |
Wirkungen zu untersuchen, die er auf Darstellende und Betrachtende ausübt? | |
So bleibt nur ein robustes Theater der Verwaltung, das die Lust an seinen | |
innewohnenden Anfechtungen perfekt kontrolliert. Bonsoir tristesse. | |
16 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Mattheiß | |
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