# taz.de -- Russischer Politologe über Opposition: „Die Jugend ist aktiv gew… | |
> Alexander Kynew sieht eine neue Dynamik in den Protesten der russischen | |
> Opposition. Eine führerlose Bewegung schaffe es, sich zu organisieren. | |
Bild: Flucht vor der Polizei in Moskau – „Jugendliche und Machtelite leben … | |
taz: Herr Kynew, in Russland wird in jüngster Zeit häufiger demonstriert. | |
Worauf führen Sie das zurück? | |
Alexander Kynew: Viele sehen sich in einer ausweglosen Situation. Die | |
Preise steigen, die Einnahmen sinken. Es gibt kaum Aufstiegsmöglichkeiten. | |
Gleichzeitig ist die Machtelite wie eine geschlossene Gesellschaft. Alle | |
interessanten Posten sind fest in ihren Händen. Inzwischen macht sich auch | |
die erste Generation der Kinder der postsowjetischen Elite in den Behörden | |
und in der Wirtschaft breit. Aber wer nicht zu dieser Elite gehört, hat | |
heute weniger Perspektiven als noch vor zehn Jahren. In dieser Situation | |
können schon kleinere Anlässe eine soziale Explosion hervorrufen. | |
2011, 2012 und 2013 hatte es die letzten größeren Demonstrationen gegeben. | |
Menschenrechtler und Umweltschützer gingen auf die Straße. Doch die | |
[1][jüngsten Demonstrationen in Moskau], scheint es, werden von anderen | |
Leuten getragen. | |
Die Fluktuation in Protestbewegungen ist groß. Protestieren ist ja kein | |
Beruf. Der französische Politologe Maurice Duverger hatte beim Studium der | |
französischen Linken in den 30er und 40er Jahren schon geschrieben, dass | |
sich die Bewegung der linken Aktivisten innerhalb weniger Jahre zu 75 | |
Prozent erneuerte. Wir hier erleben Ähnliches. Das liegt auch daran, dass | |
wir in einer schnelllebigen Zeit leben. Wirklich neu ist, dass die Jugend | |
aktiv geworden ist. Ein Grund ist, dass die jungen Menschen heute in einer | |
ganz anderen Subkultur und Informationswelt leben als die Machtelite. Die | |
Machthaber sprechen in ihrem kommunikativen Verhalten eher die ältere | |
Generation an. | |
So gesehen leben die Jugendlichen und die Machtelite in zwei verschiedenen | |
Welten. Hier erleben wir eine kulturelle Dissonanz. Die Jugend denkt | |
global. Die Machthaber sind einem konservativen Denken und Verhalten | |
verhaftet. Sehen Sie sich die Wahlkampfteams der neuen Kandidaten an, alles | |
junge Leute. Auch die Kandidaten sind jung. Was auch neu ist: Die | |
Generation der 30- und 40-Jährigen ist wieder auf Demonstrationen zu sehen. | |
Wenn auch Menschen dieser Altersgruppe sich Protesten anschließen, wohl | |
wissend um das Risiko, hat das hohe Bedeutung. | |
Am 27. Juli haben wir nicht eine große Demonstration in Moskau erlebt. Es | |
hat viele kleine Aktionen gegeben. Hat sich die neue Protestbewegung | |
dezentralisiert? | |
Die Opposition ist zersplittert, sie hat auch kein einheitliches Zentrum. | |
Viele Aktionen waren am 27. Juli nicht koordiniert, man agierte eher wie | |
ein Netzwerk. Die Polizei wusste oft gar nicht, zu welcher Seitenstraße | |
oder an welchen Platz sie sich als nächstes begeben sollte. Das ist ein | |
Fortschritt, dass auch eine kopflose Bewegung in der Lage ist, auf die | |
Straße zu gehen. Doch eine dezentral agierende Bewegung ohne klare | |
Führungsstrukturen birgt auch Risiken. Sie kann sich radikalisieren. | |
Führungspersönlichkeiten haben auf eine Bewegung mäßigenden Einfluss. | |
Schließlich wollen diese Personen ja auch von der Gegenseite als | |
Verhandlungspartner akzeptiert werden. | |
Kürzlich haben die Behörden Vertretern der Protestbewegung erlaubt, am 3. | |
August auf dem Sacharow-Prospekt zu demonstrieren. Doch die Demonstranten | |
bestehen auf einem zentraleren Ort. Ein neues Selbstbewusstsein? | |
Definitiv. Die Protestbewegung nimmt auch eine Verschärfung des Konfliktes | |
in Kauf. Sie will deutlich machen, dass ihr Einfluss gewachsen, sie willens | |
ist, die Tagesordnung zu diktieren. Die Opposition macht deutlich, dass sie | |
das letzte Wort haben will. | |
Im Zentrum der Kritik steht der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin. | |
Präsident Putin wird nicht kritisiert? | |
Die Ermüdung, was Putin angeht, ist sehr groß. Aber es gibt auch Ängste vor | |
Putin. Deswegen äußern viele nicht öffentlich ihre Kritik an Putin. Das | |
gilt als rote Linie. Deswegen wird auf den Demonstrationen immer nur | |
Sobjanin kritisiert. | |
Worin unterscheiden sich die heutigen Proteste von denen 2011–2013? | |
Heute hat die Protestbewegung Führungspersönlichkeiten, die klar | |
artikulieren können, was sie wollen. Neu an dieser Bewegung ist ihr Ziel: | |
die Teilnahme an Wahlen. Die Oppositionskandidaten waren bereit, sich auf | |
den Prozess einzulassen. Sie haben Unterschriften gesammelt, sich sogar an | |
Bedingungen gehalten, die sie als ungerecht empfinden. Das heißt, es geht | |
nicht mehr nur um Protest gegen Missstände. Es geht darum, dass man sich | |
innerhalb des Systems in den politischen Prozess einbringen will. | |
Wie weiter? | |
Ich gehe davon aus, dass die Protestbewegung weiter auf die Straße gehen | |
wird, zumindest bis zu den Wahlen. Was danach sein wird, kann niemand | |
sagen. | |
2 Aug 2019 | |
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[1] /Protest-in-Russland/!5613559 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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