| # taz.de -- Rollschuhlaufen in der NS-Zeit: „Das wirkt so unschuldig“ | |
| > In Hannover war das Rollschuhlaufen beliebt und die NSDAP wusste dies zu | |
| > nutzen, sagt Historikerin Annika Wellmann. Der Rollschuhclub hat | |
| > mitgemacht. | |
| Bild: Die Begeisterung war groß: Jubel auf der Tribüne der Rollschuhbahn in H… | |
| taz: Frau Wellmann, sind Nazis in Hannover gerne Rollschuh gelaufen? | |
| Annika Wellmann: Auf jeden Fall haben sich die Mitglieder des damaligen | |
| Hannoverschen Rollschuhclubs an nationalsozialistische Organisationen | |
| angebiedert, um eine Rollschuhbahn bauen zu können. Und sie sind [1][auch | |
| in die Ideologie eingestiegen]. Der Schriftführer des Vereins wurde Gauwart | |
| für Rollschuh- und Schlittschuhsport. Das spricht dafür, dass er auch | |
| Nationalsozialist war. Ich kann aber nicht sagen, dass Nazis begeisterte | |
| Rollschuhfahrer waren. | |
| Und trotzdem hat sich sogar die NSDAP in Hannover mit dem Rollschuhfahren | |
| beschäftigt. Warum? | |
| Die NSDAP war nur die letzte Instanz. Der Rollschuhclub hat von Anfang an | |
| mit „Kraft durch Freude“ [2][kooperiert. Das war eine NS-Organisation], die | |
| unter anderem den kommunalen Breitensport gefördert hat. Es gab gemeinsame | |
| Werbeveranstaltungen, Kraft durch Freude hat Einsteigerkurse angeboten und | |
| der Verein dann die weitere Ausbildung übernommen. Der Club war auch in den | |
| Deutschen beziehungsweise Nationalsozialistischen Reichsbund für | |
| Leibesübungen eingegliedert. Dort wurden ab 1934 alle Sportvereine | |
| gleichgeschaltet – also die, die nicht verboten wurden. | |
| Welche Vereine wurden verboten? | |
| Beispielsweise kommunistische Sportvereine. | |
| Und was hatte die NSDAP vom Rollschuhclub? | |
| Rollschuhlaufen war ein Sport, der unheimlich populär war. Der Verein hat | |
| immer vorgetragen, dass es in Hannover mehrere Tausend Kinder gab, die | |
| Rollschuh gelaufen sind. Und es gab auch viele junge Erwachsene, die das | |
| interessiert hat. Das Rollschuhlaufen war für die Nationalsozialisten | |
| einfach eine Möglichkeit, die Leute in ihre Organisationen reinzuholen. | |
| Später musste der Verein auch für die Hitlerjugend und den Bund Deutscher | |
| Mädel ein Angebot machen. | |
| Inwiefern? | |
| Das nannte sich Sportdienstgruppen und war eine Verpflichtung für alle | |
| Sportvereine. Sie mussten Sportstätten und Lehrpersonal für das Training | |
| der 10- bis 14-Jährigen stellen. Für den Rollschuhclub war das ganz gut, | |
| die konnten sich so ihren Rollschuhnachwuchs heranziehen. | |
| Um welche Sportarten geht es eigentlich? Auf Rollschuhen kann man ja ganz | |
| unterschiedliche Dinge tun. | |
| Rennen, Paartanz, aber auch Rollschuhhockey war beliebt und wurde in | |
| Hannover auch auf der Rollschuhbahn ausgetragen. | |
| Wenn Sie sagen, dass mehrere Tausend Kinder Rollschuh gelaufen sind, meinen | |
| Sie auf der Straße und nicht im Verein, oder? | |
| Genau. Erstmals waren in den 30er-Jahren viele Kinder mit Rollschuhen auf | |
| den Straßen unterwegs. Gerade in den Arbeiterwohnvierteln gab es zwar kaum | |
| Freiflächen und Grünanlagen, aber die Kinder haben dort auf den Straßen | |
| gespielt – Rollschuhlaufen wurde auch dadurch begünstigt, dass immer mehr | |
| Straßen asphaltiert waren. Das Rollschuhlaufen bedeutete für die Kinder | |
| einen Zugewinn an Freiheit, weil sie sich auch mal weiter von Zuhause weg | |
| bewegen konnten. Aber auch der Verkehr nahm immer mehr zu. Es wurde | |
| gefährlicher, und sie wurden von den Erwachsenen auch nicht gerne gesehen. | |
| Man hat die meckernden Stimmen über die rücksichtslose Jugend auf | |
| Rollschuhen gleich im Ohr. | |
| Ja, sie waren einfach laut und hatten Spaß und da gab es immer wieder | |
| Beschwerden. Die Eltern sollten gefälligst auf ihre Kinder achten und die | |
| Polizei war auch angehalten, den Kindern im Zweifel die Rollschuhe | |
| wegzunehmen. | |
| Und da kam die Rollschuhbahn ins Spiel? | |
| Ja, der Rollschuhclub wollte eine Bahn. Sie wurde dann von der Stadt | |
| Hannover gebaut und die städtische Verwaltung hat darauf geachtet, dass die | |
| Kinder dort fahren durften. Der Eintrittspreis für Kinder war mit zehn | |
| Pfennig auch recht niedrig. Ein Kinobesuch hat zu der Zeit zwischen 50 | |
| Pfennig und einer Mark gekostet. Trotzdem hat man ein eher elitäres | |
| Publikum anvisiert. Die Bahn wurde an der Eilenriede gebaut, und in der | |
| Nähe waren eher die gutbürgerlichen Viertel. | |
| Eigentlich stehen da vor allem viele Villen, oder? | |
| Genau. Ich habe zum Beispiel einen sehr interessanten Brief von einem Vater | |
| gefunden, der fragte, ob das Geld nicht lieber gesplittet und Flächen auf | |
| mehreren Spielplätzen geteert werden könnten, damit die Wege für die Kinder | |
| kürzer sind. | |
| Waren die Rollschuhe selbst ein Luxusgut? | |
| Zu der Zeit nicht mehr. In den 1870er-Jahren, als es einen ersten | |
| Rollschuh-Hype gab, waren sie ein absolutes Luxusgut. In der zweiten | |
| Rollschuhwelle, um 1910 herum, traf man sich in Hannover im Rollschuhpalast | |
| in der Südstadt. Der hatte ein hohes Eintrittsgeld und eine strenge | |
| Kleiderordnung – die Männer kamen im Anzug, die Frauen im Teekleid. Das war | |
| immer noch für ein bürgerliches Publikum gedacht. 1935 war der | |
| Rollschuhpalast dann aber nicht mehr angesagt. | |
| Warum? | |
| Den fanden die Mitglieder des Rollschuhclubs staubig und schmutzig. | |
| Außerdem schimpften sie über das sensationslüsterne Publikum. | |
| Und in den 1930ern konnten sich dann auch Arbeiterfamilien Rollschuhe | |
| leisten? | |
| Man muss sich die Rollschuhe der Zeit anders vorstellen. Heute ist ja meist | |
| der Schuh mit dran. Damals schnallte man ein Metallgestell mit Rollen unter | |
| das eigene Schuhwerk. Ich habe einen Brief eines Mädchens gefunden, das | |
| 1937 an den Bürgermeister von Hannover geschrieben hat. Sie fragt darin, ob | |
| nicht ein Schulhof bei ihr in der Nähe zum Rollschuhlaufen geöffnet werden | |
| könnte. Für ihre Eltern seien die Rollschuhe eine teure Anschaffung | |
| gewesen. | |
| Das heißt, es war eine größere Investition, aber die Eltern waren bemüht, | |
| es möglich zu machen. | |
| Ja. Und in der Zeit war Spielzeug nicht mehr vollkommen rar. Es war | |
| möglich, genau wie der Besuch der Rollschuhbahn. | |
| Wie sah die Bahn an der Eilenriede aus? | |
| Es war eine Freilichtbahn. Auf dem Feld waren Figuren aufgemalt, die die | |
| Sportler abfahren sollten. Es gab auch eine kleine Tribüne. | |
| Und bei den Turnieren wehten dann im Hintergrund die Hakenkreuzfahnen? | |
| Ja, einmal hat der Verein sogar ans Rathaus geschrieben, um sich die Fahnen | |
| zu leihen. | |
| Inwiefern hat der Rollschuhclub [3][die NS-Ideologie in den eigenen Reihen] | |
| umgesetzt? | |
| Viele Sportvereine schlossen in vorauseilendem Gehorsam – und aus einer | |
| weit verbreiteten antisemitischen Haltung heraus – Jüd:innen aus. Dazu, | |
| wie das beim Rollschuhclub lief, habe ich keine Hinweise gefunden. Ich | |
| hoffe aber, dass dazu irgendwann welche auftauchen. | |
| Was ist aus der Rollschuhbahn geworden? | |
| Die ist im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Noch vor Ende des Krieges, | |
| 1945, hat sich aber der Leiter des Sportamtes um Ersatzplatten bemüht. Die | |
| Platten, mit denen der Platz ausgelegt war, waren aus dem Material | |
| Fulgurit, also im Grunde aus Asbest. Ende der 1950er-Jahre wurden dann | |
| Tennisplätze an der Stelle gebaut. | |
| Warum ist Forschung, die sich mit Freizeitsport in der NS-Zeit beschäftigt, | |
| relevant? | |
| Das wirkt so unschuldig – Rollschuhlaufen. Da haben die Leute mitgemacht | |
| und nur an den Spaß gedacht, aber man sieht, dass sie durch dieses Hobby in | |
| die NS-Organisationen hineingezogen wurden, mit der Ideologie zusammen | |
| kamen und auch kontrolliert wurden. Es geht um die Einverleibung von | |
| Kindern und Jugendlichen in dieses System. | |
| 11 Jul 2022 | |
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