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# taz.de -- Reisebüros und Corona: „Die ganze Branche ist todkrank“
> Reisebüros planen und verkaufen die schönsten Tage des Jahres. Ein
> emotionaler Job, sagt Familie Wolf aus Essen. Mit Corona kam bei ihnen
> die Krise.
Bild: „Die Krise heißt für uns: Stornieren und Provision zurückzahlen“: …
Die Sommersonne brennt in Essen-Kettwig auf die Pflastersteine. Im Fenster
des Reisebüros Wolf stehen die aktuellen Angebote: Korfu 950 Euro, Sylt 805
Euro. An der Tür die geänderten Öffnungszeiten: 9.30 bis 13.30 Uhr und nach
terminlicher Vereinbarung.
Aus der Hitze flieht man gern hinein, ins kühle Reisebüro. Dort empfängt
einen Michael Wolf, der sich aus seinem Schreibtischstuhl erhebt und zur
Tür kommt, um einen zu begrüßen. Allzu viel Gäste verirren sich im Moment
nicht zu ihm.
„Die ganze Branche ist todkrank. Deshalb hoffen wir darauf, dass bald ein
Impfstoff oder ein wirksames Medikament auf den Markt geht“, sagt der
63-jährige Wolf.
## 70 bis 80 Prozent Verlust
Der Branche ging es vor Corona gut. In den vergangenen Jahren stiegen die
Gesamtumsätze leicht an – auf zuletzt 27 Milliarden Euro bei 11.000
Reisebüros. Flüge, Züge und Einzelübernachtungen bucht man heute selbst.
Aber für Fernreisen, Geschäftsreisen, Kreuzfahrten und Studienreisen suchen
viele Menschen noch oder wieder Beratungen auf. Ausgerechnet diese Zweige
brechen jetzt weg. Bricht nun auch die ganze Branche zusammen?
„Die Kollegen sind sich einig, dass wir 70 bis 80 Prozent Umsatz im
Vergleich zum Vorjahr verlieren werden. Bei uns sind es derzeit 80
Prozent“, sagt Michael Wolf. Wolf sitzt mit verschränkten Händen an einem
von drei Plätzen eines langen Beratungstresens.
In einem Rondell hinter ihm stehen akkurat aufgereiht Prospekthefte für
ferne Länder, die nun unerreichbar sind. Der Platz seines Sohnes Philip,
Experte für Reisen nach Afrika und Israel, bleibt unbesetzt. Die
Spezialgebiete seiner Frau Barbara sind Australien, Neuseeland und Kanada.
Das Telefon klingelt. Am Ende des Tresens hebt Barbara Wolf den Hörer des
Schnurtelefons ab. „... wann war das? Wir sind derzeit im Nachgang, weil
wir sehr viel zu tun haben“, hört man sie mit starrem Blick auf den
Bildschirm sagen.
„Die Krise heißt für uns: Wir stornieren und müssen die Provision an die
Reiseveranstalter zurückzahlen. Das ist ruinös“, sagt Michael Wolf.
Stornierungen bedeuteten so viel Arbeit, dass sie zum Teil zwölf Stunden am
Tag im Büro saßen. „Da stell ich mich mit der Schaufel hin und hebe mein
eigenes Grab aus“, sagt Barbara Wolf.
Barbara Wolf ist eine freundliche Frau. Sie trägt ein weißes Kleid, das mit
Blüten und Vögeln bedruckt ist. Ihr fällt es derzeit morgens manchmal
schwer, aufzustehen. „Man sitzt hier jeden Tag und macht genau so was. Und
das bei Buchungen, von denen man weiß, der Kunde hat hier Stunden gesessen,
um den haben wir uns gekümmert.“
Der Verlust ist nicht nur ein finanzieller. „Urlaub vermitteln ist
emotional. Es gibt wenige Berufe wie unseren. Wir verkaufen die schönsten
Tage des Jahres, wir müssen begeistern.“ Wenn die Stornos reinflattern,
dann ginge das „hier rein“, sagt Barbara Wolf und führt ihre zu einer
Spitze zusammengezogenen Fingerspitzen an ihre Brust.
Mittlerweile seien die meisten Stornierungen abgearbeitet, die Arbeit
weniger geworden. Michael Wolf trägt am linken Handgelenk eine Armbanduhr,
am rechten einen Fitness-Tracker. So unterteilt er auch seinen Tag: die
erste Hälfte hoffen die Wolfs auf neue Buchungen, in der zweiten machen sie
lange Spaziergänge. „Es ist wichtig, rauszugehen und den Kopf
freizukriegen“, sagt Michael Wolf.
## Was geht, was geht nicht
Zaghaft gehe es gerade wieder los, sagt Wolf. Seine Frau sucht unterdessen
kurzfristig für einen Stammkunden nach einer Reise. [1][Deutschland sei
jedoch gerade so teuer], „da ist man schnell beim Mittelmeer“. Sie mag die
Herausforderungen, dafür seien sie ja da: Eine Idee mehr haben, nochmal
überlegen, was geht, was nicht.
„Reisen ist ein Luxusgut, das kann man mal aussetzen“, sagt sie. Vielleicht
hielten sich die finanziellen Ausgleichszahlungen von Land und Bund
[2][deshalb in Grenzen].
Die Branche ist im Umbruch. „In den Siebzigern und Achtzigern haben sich
viele selbstständig gemacht, die in ihren Zwanzigern waren. Bei denen steht
in absehbarer Zeit die Rente an“, sagt Michael Wolf. „Viele rechnen damit,
dass wegen der Coronakrise jedes dritte Reisebüro schließen wird.“ Wolf
sagt aber auch, dass die Hälfte der Büros ausreiche, um alle zu bedienen.
Denn bei stabilem Gesamtumsatz sinken die Buchungszahlen – auch ohne
Corona. Über Reisebüros werden heute eben teurere Reisen gebucht.
„Die Coronakrise ist ein Brandbeschleuniger. Eine Entwicklung, die ohnehin
die nächsten vier bis acht Jahren stattgefunden hätte, wird nun in ein Jahr
gestampft. Da hat jetzt der Turbo eingesetzt“, sagt Wolf.
Die Wolfs haben ihren Familienbetrieb 1983 gegründet, seit 2001 leiten sie
ein Franchise-Reisebüro eines großen Reisekonzerns – eine Entwicklung, die
typisch ist für die Branche. Vielleicht arbeiten sie nächstes Jahr schon
aus dem Homeoffice als Reiseagenten für eine große Agentur. Denn ihr
Reisebüro wird schließen.
## Früherer Hausverkauf
Das Haus, in dem sie bald 40 Jahre lang leben und arbeiten, müssen die
Wolfs nun früher als geplant verkaufen. „Eine geordnete Schließung“, nennt
Michael Wolf diesen Prozess, der dem Lebenswerk der Familie Würde lässt.
Ihrer Tätigkeit wollen sie aber weiter nachgehen – wenn auch von zu Hause
aus.
„Jetzt kommt die große Frage: Läuft das Geschäft wieder an?“, fragt Mich…
Wolf. Vielleicht wäre die bessere Frage: [3][Wie kann das Geschäft anders
gestaltet werden?] Sind Kreuzfahrten, Fernflüge und Städtereisen, bei denen
Einheimische aus ihren Wohnungen verdrängt werden, wirklich nötig?
Michael Wolf bewegen diese Fragen, auch wenn er selbst bald in Rente gehen
wird. Manchmal scheint ein Hoffnungsschimmer auf, dass doch noch Platz für
ihr Büro bleibt. „Es wäre schön, wenn sich der Markt gesundschrumpfen
könnte“, sagt Michael Wolf.
Während die Wolfs vor einer ungewissen Zukunft stehen, ist Christoph
Dinkelaker auf einer Studienreise im Irakisch-Kurdistan. Ein lokaler
Wanderguide führt den jungen Reiseunternehmer und seine Teilnehmer:innen
entlang einer Bergkette des Gara-Gebirges durch ein Tal mit dichtem Gras zu
einem natürlichen Pool, der zwischen Gestein und Wasserfällen liegt.
Weiter oben, in den Höhen jenseits der Baumgrenze, liegt noch Schnee. In
das Gestein haben Menschen der Arbeiterpartei Kurdistans Höhlensysteme
gebaut. Manchmal kommen sie im Camp der Reisenden vorbei, um sich
auszutauschen.
Über 500 Personen nehmen an dieser Reise teil – digital. Wie auch
Dinkelaker. Er [4][sitzt zu Hause], vor dem [5][Bildschirm].
Vor zehn Jahren entstanden aus einem journalistischen Projekt das Reisebüro
und die Reiseagentur Alsharq. Während Wolf-Reisen schon von Weitem an
Aushängen erkennbar ist, ist Dinkelakers Büro nicht so leicht zu finden.
Am Ufer eines Kreuzberger Kanals im zweiten Hinterhof eines
Industriegebäudekomplexes zieht sich ein alter Fahrstuhl durch einen
Metallkäfig in das vierte Obergeschoss. Hier sitzt Alsharq – in einem
Büroloft zwischen Organisationen für Demokratieförderung und Start-ups für
veganes Popcorn.
Dinkelaker schlurft in Flipflops den langen Flur entlang. Bei ihm haben die
Kund:innen ihre Reisen ohnehin schon immer online gebucht. Die Reisen
selbst und das Geschäftskonzept von Alsharq haben sich in den vergangenen
Monaten allerdings auf den Kopf gestellt.
## Reisen per Video
„Seit Corona arbeiten wir mehr als sonst“, sagt Dinkelaker. Auch bei
Alsharq ballten sich zunächst die Rückabwicklungen. Von den 40 für dieses
Jahr geplanten Studienreisen wurden fast alle abgesagt. Dazu kam aber das
neue Standbein: Onlinestudienreisen. Am Anfang wurde dafür noch gespendet,
jetzt zahlen Teilnehmer:innen feste Beträge, und Stiftungen kaufen die
Angebote von Dinkelaker und seinen Kolleg:innen ein.
An mehreren Tagen in Folge begeben sich Reisende dann per Videoschalte in
Gebiete des Mittleren Ostens und Nordafrikas, schauen sich Bilder an, hören
Vorträge, sprechen mit Menschen vor Ort und besichtigen mit ihnen die
Gegend.
„Wir sind ein Pool an Journalist:innen, Reiseleiter:innen und
Wissenschaftler:innen. Oft haben die Menschen vor Ort andere berufliche
Schwerpunkte und sind nicht direkt von den Reisen abhängig“, sagt Christoph
Dinkelaker. Politische Bildung ist das Ziel seiner Reisen.
Sein Beruf ist dabei gar nicht so klar definiert. Derzeit wird Dinkelaker
vom Reisevermittler und -leiter zum Referenten und Marketing-Fachmann.
Website, Newsletter und Social Media müssen ständig bespielt werden. „Was
total wichtig ist, ist, dass alle Referierende das als ihr Projekt
begreifen“, sagt Dinkelaker.
Die digitalen Dienstleistungen sind für Alsharq innerhalb weniger Monate
zur wichtigsten Einnahmequelle geworden. Das ist jedoch nicht sein einziger
Antrieb: Er bekam viele positive Rückmeldungen. Viele würden zu viel
arbeiten, könnten sich echte Reisen nicht leisten oder seien physisch nicht
in der Lage, zu reisen.
Die digitalen Studienreisen werden deshalb auch nach Corona weiter
bestehen, da ist sich Christoph Dinkelaker von Alsharq sicher. Doch bis
dahin hofft auch er, dass er seine Reiseziele bald nicht mehr nur sehen,
sondern auch riechen, schmecken und fühlen kann.
25 Jul 2020
## LINKS
[1] /Eingeschraenkte-Reisemoeglichkeiten/!5697237
[2] /Markus-Tressel-ueber-Tourismuspolitik/!5690276
[3] /Anders-reisen/!5692524
[4] /Imaginaere-Lockerungsuebungen/!5682426
[5] https://www.zeit.de/entdecken/reisen/2020-06/virtuelles-reisen-alaska-fernr…
## AUTOREN
Pia Stendera
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