# taz.de -- Regisseur Elegance Bratton im Gespräch: „Ich kann mich überall … | |
> Der Regisseur Elegance Bratton erzählt im Spielfilm „The Inspection“ sein | |
> Leben. Er spricht über Empowerment durch die Marine und schwule Soldaten. | |
Bild: Ellis French (Jeremy Pope) lernt bei den Marines, er selbst zu sein | |
taz: Herr Bratton, der Protagonist Ihres Kinofilms „The Inspection“ ist | |
jung, schwarz, schwul und obdachlos. Er findet keinen Halt im Leben, die | |
US-Gesellschaft gibt ihm keine Chance. Bis er seinen Weg zum Militär | |
findet, genau genommen in die Eliteeinheit der Marines. Es ist Ihre eigene | |
Lebensgeschichte, die Sie da verfilmt haben, oder? | |
Elegance Bratton: Ich bin in einem sehr religiösen Haushalt aufgewachsen. | |
Mir wurde beigebracht, dass Homosexualität ein Fehler ist und dass mein | |
Leben deshalb misslungen sei. Verflucht wegen des Fehlers, als der ich | |
geboren wurde. Als ich zu den Marines ging, sagte mein Ausbilder zu mir | |
etwas Unerwartetes. Er sagte: „Weißt du was? Du liegst falsch. Du bist | |
wichtig. Dein Leben hat einen Sinn, weil du die Verantwortung hast, den | |
Marine zu deiner Linken und zu deiner Rechten zu beschützen.“ An diesem | |
Vertrauen habe ich festgehalten, und es hat mich aus dem Obdachlosenheim | |
herausgeholt. | |
Das Verhältnis Deutschlands zu seinem Militär ist durch die historischen | |
Verbrechen des Landes ein anderes als das in den USA. Sie beschreiben Ihren | |
Werdegang bei den Marines als Emanzipationsprozess. Militär und | |
Empowerment, wie geht das zusammen? | |
Die meiste Zeit wurde ich dort behandelt wie jeder andere. Ich wurde | |
wertgeschätzt für das, was ich war – eine Erfahrung, die mir bis dahin | |
fremd war. Im Bootcamp waren alle gleich, mussten laufen, Liegestütze und | |
Klimmzüge machen. Und Mann, war ich schnell. Ich war auch stärker als die | |
meisten anderen. Diese Erfahrung war wirklich ermutigend für mich. | |
Für „The Inspection“ haben Sie sich von dem dokumentarischen Ansatz Ihrer | |
früheren Arbeiten „Pier Kids“ und „My House“ verabschiedet und sich der | |
filmischen Fiktion und dem Spielfilm zugewendet. Wie kam es zu dieser | |
Entscheidung? | |
Ich habe das, was ich filmische Legasthenie nennen würde, da ich persönlich | |
keinen Unterschied zwischen Dokumentar- und Spielfilm erkennen kann. Ich | |
denke, dass es am Ende einfach ein Film ist. Und es gibt zwei verschiedene | |
Wege, einen zu machen. Der eine Weg ist das Filmen von unkontrollierter | |
Handlung, der andere Weg ist die Kontrolle der Handlung. Beim | |
Dokumentarfilmdreh kann man einer Person stundenlang folgen. Und man weiß | |
nicht wirklich, wonach man sucht, bis es sich offenbart. Das kann in zwei | |
Minuten passieren. Bei einem Spielfilm kann man stundenlang eine Aufnahme | |
vorbereiten. Man lässt die Schauspieler proben und tut alles, was man tun | |
muss. Und dann findet der Schauspieler einen ganz anderen Zugang, als du | |
erwartet hast, und du jagst genau dem nach. Von da an heißt es: „Scheiß auf | |
die Pläne. Vergessen wir die Proben. Wir fangen von vorne an.“ Es gibt eine | |
Art improvisatorisches Element in dem, was ich als Geschichtenerzähler tue, | |
eines, das die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion verwischt. | |
Der Film spielt [1][während der „Don’t ask, don’t tell“-Zeit im | |
US-Militär]. Was ist für den Zeitabschnitt prägend? | |
„Don’t ask, don't tell“ bedeutet, dass man beim Militär nicht gefragt | |
werden darf, ob man schwul ist. Man muss es nicht mitteilen. Aber wenn das | |
Militär herausfindet, dass man schwul ist, wird man wegen seiner | |
Homosexualität rausgeschmissen. Ich hatte einen Vorgesetzten, der sagte zu | |
mir: „Hör mal, dein Name ist Elegance. Du bist 29 Jahre alt. Du hast keine | |
Kinder. Du hast keine Freundin, du wirst nicht befördert werden. Du kannst | |
keine Karriere beim Marine Corps machen, wenn wir nicht wissen, ob du | |
schwul bist oder nicht. Denn wir werden einfach davon ausgehen, dass du es | |
bist.“ Sie brauchen dich gar nicht zu fragen. Deine ganze Karriere kann | |
durch die Wahrnehmung, dass du schwul bist, beeinträchtigt werden, selbst | |
wenn du es nicht bestätigst. | |
Das hört sich nach einer zwiespältigen Situation für Sie an. Hat sich die | |
Situation im Militär seit Ihrer Dienstzeit verbessert? | |
Das Gesetz ist aufgehoben und 2011 außer Kraft gesetzt worden. Aber wissen | |
Sie, Gesetze zu ändern, ist eine Sache. Die Kultur zu verändern, ist eine | |
ganz andere Sache. Das Marine Corps ist ein Mikrokosmos Amerikas, eines | |
Landes, in dessen einer Hälfte man in der Schule nicht offen sagen darf, | |
dass man schwul ist. [2][Der Bundesstaat Florida verbietet buchstäblich | |
queere Bücher in seinen Schulbibliotheken]. Nur weil man ein Gesetz ändert, | |
heißt das nicht, dass sich auch die dahinterstehende Kultur verändert. | |
Im Film folgen wir Ihrem Protagonisten, gespielt von dem Schauspieler | |
Jeremy Pope aus der Obdachlosigkeit und den Straßen von New York City ins | |
Bootcamp der Marines. Da Sie selbst diesen Weg beschritten haben: Was war | |
das Prägendste in dieser Zeit? | |
Die Erfahrung unserer Vergänglichkeit. Besonders wenn du jung bist auf der | |
Straße. Ich erinnere mich noch gut an mein Alter von 16 bis 23. Ich sah | |
mich selbst als Straßenpoet und wohnte teils bei Freunden, die noch im | |
College waren. Wir alle nahmen Drogen, wir alle gingen auf Partys. Es war | |
so eine Art Boheme-Erfahrung. Alles scheint möglich. Mit Mitte zwanzig aber | |
beginnen die Möglichkeiten zu versiegen. Und dieses Übergangsleben beginnt | |
mehr und mehr nach Obdachlosigkeit auszusehen. So bin ich mit Mitte zwanzig | |
im Homeless Shelter gelandet. In New York und in anderen Städten an der | |
Ostküste. Meine Lektion der Vergänglichkeit hatte ich spätestens gelernt, | |
als ich das erste Mal jemanden um Geld angebettelt habe. | |
Fiel es Ihnen das zunächst schwer? | |
Ich habe gelernt, nicht direkt nach Geld zu fragen, sondern auf Umwegen. | |
Oft ging es darum, einen Platz zum Schlafen zu finden oder dass jemand im | |
Supermarkt meine Einkaufskosten übernimmt. Es war auch eine gewisse | |
Verführungs- und Manipulationskunst, die mir später als Regisseur sehr | |
geholfen hat, wenn es darum ging, von Produzenten Geld zu bekommen. | |
Gibt es Eigenschaften, die Sie seit der Zeit auf der Straße beibehalten | |
haben? | |
Ich bin in der Zeit zum begeisterten Menschenbeobachter geworden und bin es | |
auch heute noch. Damals war es entscheidend für mich, eine Situation, einen | |
Raum, eine Menschenmenge richtig einschätzen zu können – das ist es für | |
mich auch heute. Was mich bis heute nicht verlassen hat, ist meine Angst, | |
wieder obdachlos werden zu können und all das noch mal durchmachen zu | |
müssen. Diese Angst ist existenziell, ich kann sie nicht abschütteln, egal | |
wie erfolgreich ich heute sein mag. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass | |
sich jemand anderes so viele Gedanken macht wie ich über meine Deadlines. | |
Ich habe das Gefühl, wenn ich nicht pünktlich liefere, stehe ich mit einem | |
Bein wieder im Obdachlosenheim. | |
Im Film erleben die Zuschauer die Erniedrigung des Protagonisten bei den | |
Marines, teils auch rassistische Gewalt gegen ihn. Andererseits wird auch | |
sichtbar, dass seine Mitsoldaten für ihn einstehen. Welche der beiden | |
Erfahrungen überwiegt für Sie? | |
Beide Erfahrungen sind gleichwertig. Es gibt beim Militär offenen | |
Rassismus, der gewalttätig und beängstigend sein kann, und es gibt ihn in | |
versteckter Form. Dieser versteckte Rassismus äußert sich vor allem darin, | |
dass einem Karrierechancen verwehrt bleiben. Was ich aber bei den Marines | |
gelernt habe, ist, dass ich überall in der Lage sein kann, mich zu | |
behaupten. Dass ich nicht nur in einer Schwulenbar befreit leben kann. Ich | |
muss nicht unbedingt Frauenkleider tragen. Ich muss nicht auf einem | |
Voguing-Ball tanzen, um einen Platz in der Welt zu haben. Ich kann gehen, | |
wohin ich will, und ich kann mich entfalten, wo immer ich es für richtig | |
halte. | |
24 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Chris Schinke | |
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