# taz.de -- Prozess gegen „Todespfleger“: Selektive Erinnerung | |
> Der für über 100 Morde angeklagte ehemalige Krankenpfleger Niels Högel | |
> gesteht mehrere Taten. An viele der mutmaßlichen Morde erinnert er sich | |
> nicht mal mehr. | |
Bild: Erinnert sich an viele seiner möglichen Opfer nicht: Niels Högel im Ger… | |
OLDENBURG taz | Der Ablauf wiederholt sich: Richter Sebastian Bührmann | |
verliest den Namen eines mutmaßlichen Mordopfers von Niels Högel. Er nennt | |
das Todesdatum und den Wirkstoff des Medikaments, das der Serienmörder | |
gespritzt haben soll, obwohl es nicht angeordnet war. Dann richtet er sich | |
an den Angeklagten und fragt, ob er Erinnerungen an sein Opfer hat. | |
Erst beim dritten Namen, der an diesem Mittwoch genannt wird, legt Högel | |
sein erstes Geständnis ab: „Ja, ich hab eine Erinnerung an die | |
Krankengeschichte, an die Patientin und auch an eine Manipulation | |
meinerseits“, sagt er. Er erinnere sich an Franziska H., weil sie ein | |
besonderes Krankheitsbild gehabt habe. So ist das bei den meisten der 14 | |
Taten, die Högel an diesem Tag einräumt | |
Er gesteht, Franziska H. Lidocain gespritzt zu haben, um eine | |
lebensbedrohliche Situation hervorzurufen und sie anschließend reanimieren | |
zu können. Bei mehr als hundert PatientInnen soll er das getan haben, | |
manchmal sogar mehrfach. | |
Högel habe mit seinen Fähigkeiten vor KollegInnen und Vorgesetzten | |
angegeben und seine Langeweile bekämpfen wollen, so lautet der Vorwurf der | |
Staatsanwaltschaft. Den Tod seiner Opfer habe er dabei wenigstens billigend | |
in Kauf genommen. | |
## Auch Taten in Oldenburg gestanden | |
Seit Ende Oktober steht Högel wegen hundertfachen Mordes vor dem | |
Oldenburger Landgericht. Die Taten soll er zwischen 2000 und 2005 an | |
Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst begangen haben. 2015 wurde er wegen | |
sechs Fällen bereits zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. | |
Damals bestritt Högel noch, auch in Oldenburg gemordet zu haben. Nun, am | |
zweiten Prozesstag, räumt er auch Taten aus dieser Zeit ein. Weil aber in | |
jedem einzelnen Fall die Schuld festgestellt oder ausgeschlossen werden | |
muss, wird Högel zu jedem seiner mutmaßlichen Opfer einzeln befragt. | |
In seiner Befragung erzählt Högel, wie er vorgegangen sei. Er habe ein | |
Medikament aus der Stationszentrale genommen und sei ins Patientenzimmer | |
gegangen. Dort habe er den Alarm am Überwachungsmonitor für kurze Zeit | |
stumm geschaltet und das Medikament injiziert. Anschließend sei er zurück | |
ins Stationszimmer gegangen, damit er nicht beim Opfer war, wenn der Alarm | |
los ging. | |
Er habe PatientInnen ausgewählt, bei denen eine plötzliche | |
lebensbedrohliche Situation kein Misstrauen ausgelöst hätte, sagt Högel. | |
Diagnose und Krankheitsverlauf hätten „passen müssen“. Töten habe er aber | |
nicht wollen. Die Mehrheit der durch ihn herbeigeführten Reanimationen sei | |
erfolgreich verlaufen. „Das war ja auch der Motivator“, sagt er. | |
Wenn das stimmt, dann dürfte die Dunkelziffer Högels mutmaßlicher Opfer | |
noch höher sein. Denn angeklagt sind bislang nur Fälle verstorbener | |
PatientInnen, bei denen die Exhumierung oder Gutachten Auffälligkeiten | |
aufwiesen. Teilweise liegen Monate zwischen den angeklagten Taten. Högel | |
sagt, er wisse nicht, dass er überhaupt eine Pause gemacht habe. | |
In den vergangenen Wochen hatte Högel einen Laptop in seiner | |
Gefängniszelle. Darauf sind die Krankenakten der Menschen gespeichert, die | |
er getötet haben soll. Als Krankenpfleger verbinde Högel weniger mit den | |
Namen der Menschen, als mit ihren Krankenakten, begründete der Richter das | |
zum Prozessauftakt. | |
## Nur eine Tat streitet Högel ab | |
Bei manchen Taten erinnert er sich an Details wie den Bettplatz oder die | |
Art von Zugängen, die die PatientInnen hatten. An die Reanimationen selber | |
erinnert er sich nur selten. In elf Fällen brachte auch die Einsicht in die | |
Krankenakte offenbar nichts. Dass er aber auch für diese Todesfälle | |
verantwortlich sei, wolle er nicht ausschließen. Nur eine Tat streitet er | |
ab. | |
Wie schon am ersten Verhandlungstag spricht Högel ruhig, schaut die ganze | |
Zeit denjenigen an, der ihm Fragen stellt, vermeidet den Blick ins | |
Publikum. Ab und zu reibt er sich das Gesicht, wirkt erschöpft. Das ist | |
aber vorbei, wenn er über Krankheitsbilder und -verläufe spricht. Er könne | |
sich nicht erklären, warum er damals so eiskalt und empathielos gewesen | |
sei, sagt Högel. Er habe selbst psychische Probleme gehabt, sei abhängig | |
von Medikamenten gewesen. Heute schäme er sich. Jeder Fall tue ihm | |
unglaublich leid – „auch wenn man mir das nicht immer glaubt“. | |
Weitere drei Prozesstage sind bisher für Högels Vernehmung angesetzt. Im | |
Anschluss sind 23 ZeugInnen und elf Sachverständige geladen. Einer wird | |
beurteilen, wie glaubwürdig Högels Aussagen sind. Bis Mitte Mai sind | |
insgesamt 24 Prozesstage angesetzt. | |
Auch danach wird der Fall die Gerichte weiter beschäftigen. Mehrere | |
ehemalige KollegInnen werden sich vor Gericht verantworten müssen, weil sie | |
von wenigstens etwas ahnten und Högel – selbst nachdem er auf frischer Tat | |
ertappt wurde – noch weiter arbeiten konnte. | |
22 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Marthe Ruddat | |
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