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# taz.de -- Prozess wegen hundertfachen Mordes: Kollektive Amnesie der Intensiv…
> Im Prozess gegen den Krankenpfleger Niels Högel haben erstmals ehemalige
> Kolleg*innen ausgesagt. Doch die wenigsten können sich erinnern.
Bild: Todespfleger Niels Högel (li.) im Prozess gegen ihn
Oldenburg taz | Ob er noch etwas ergänzen wolle, möchte Richter Sebastian
Bührmann am Ende von dem Zeugen wissen. Schon während der Vernehmung des
Mannes, stellvertretender Stationsleiter im Klinikum Oldenburg, hatte er
nachgehakt: „Mir fällt auf, dass Sie in diesem Punkt nicht viel wissen. Ich
kann das so nicht glauben.“ Doch der Zeuge verneint. Er habe nach bestem
Wissen und Gewissen ausgesagt. Richter Bührmann greift nun zu einem
ungewöhnlichen Mittel. Er vereidigt den Zeugen, ein Zeichen dafür, dass er
seine Aussage nicht für vollständig glaubhaft hält. Sollte ihm eine
Falschaussage nachgewiesen werden, droht ihm mindestens ein Jahr Haft.
Seit Ende Oktober läuft der Prozess gegen den Krankenpfleger Niels Högel
wegen hundertfachen Mordes an Patient*innen vor dem Oldenburger
Landgericht. Schon früh stellten sich Fragen: Wieso fiel niemandem etwas
auf? Hätten die Kliniken früher eingreifen können?
Am Dienstag und Mittwoch haben erstmals Högels ehemalige Kolleg*innen aus
dem Klinikum Oldenburg ausgesagt. Doch ihre Aussagen sind von auffällig
vielen Erinnerungslücken geprägt.
Den Ermittlungen zufolge begann der Krankenpfleger im Jahr 2000 auf der
dortigen herzchirurgischen Intensivstation seine Mordserie. 2003 wechselte
er nach Delmenhorst, wurde dort 2005 auf frischer Tat ertappt. Wegen Taten
in Delmenhorst verbüßt Högel bereits eine lebenslange Haftstrafe. Im
laufenden Prozess werden Högel 100 Morde an beiden Kliniken vorgeworfen. Er
soll Patient*innen Medikamente gespritzt haben, um lebensbedrohliche
Situationen hervorzurufen und die Menschen dann zu reanimieren. 43 Taten
hat er eingeräumt. 5 Morde will er nicht begangen haben, bei den übrigen 52
sei er sich nicht sicher.
## Keine Besonderheiten auf der Station
Anfang Januar schilderten bereits die Ermittler*innen vor Gericht, ihr
Eindruck sei, die Mitarbeiter*innen aus Oldenburg hätten in den
Vernehmungen nicht die Wahrheit gesagt oder sich mit Erinnerungen
zurückgehalten.
Dieser Eindruck verfestigte sich auch am Dienstag und Mittwoch. Ihm seien
zu Högels Zeit auf der Station keine Besonderheiten aufgefallen, sagte etwa
der stellvertretende Stationsleiter. Er habe auch nichts von Besprechungen
über zu hohe Kaliumwerte mitbekommen, die es laut mehrerer Zeug*innen gab.
Högel nutzte unter anderem Kalium für seine Taten. Niemand habe mit ihm
darüber gesprochen, auch Gerüchte habe er nicht gehört, sagte der
stellvertretende Stationsleiter. Als Högel aufflog, habe es zwar Gerede
gegeben. Der Stationsleiter habe dann allen gesagt, wer etwas wisse, solle
zur Polizei gehen.
Auch der Stationsleiter war am Dienstag als Zeuge geladen, machte aber von
seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Gegen ihn ermittelt die
Staatsanwaltschaft.
Dem leitenden Oberarzt der Station will ebenfalls nichts Besonderes
aufgefallen sein. Irgendwann seien die Ärzte vom Chefarzt aufgefordert
worden, ein Auge auf Högel zu werfen, erzählte er. Es habe aber nie Beweise
gegeben, die eine Meldung bei der Polizei rechtfertigten, so der Arzt.
## Schwere Vorwürfe gegen die Klinik
Richter Bührmann sagte, er könne nur schwer nachvollziehen, wie der Arzt
als „zweiter Mann nach dem Chefarzt“ nicht tiefer in die Angelegenheit
verwickelt sein konnte. Er vereidigte auch diesen Zeugen.
Högels ehemaliger Kollege Frank Lauxtermann ist bisher der einzige unter
den Mitarbeiter*innen, der sich umfassend erinnern kann und aussagt. Er
erhob schwere Vorwürfe gegen die Klinik und die Mitarbeiter. Er halte es
für unwahrscheinlich, dass Informationen über Verdachtsfälle gegen Högel an
dem Oberarzt vorbeigegangen seien, meinte Lauxtermann. Noch Jahre nach
seinem Weggang von der Intensivstation sei Högel ein Thema in Gesprächen
unter ehemaligen Kolleg*innen gewesen, erzählte Lauxtermann. Sie hätten ihn
nach Högels Auffliegen gebeten, anonym Anzeige zu erstatten.
Högels Exfreundinnen, die auch mit ihm arbeiteten, wurden am Mittwoch unter
Ausschluss der Öffentlichkeit befragt. Der Prozess wird in der kommenden
Woche fortgesetzt.
23 Jan 2019
## AUTOREN
Marthe Ruddat
## TAGS
Niels Högel
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Zeuge
Mord
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Geburtshilfe
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Niels Högel
Niels Högel
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