| # taz.de -- Proteste in Frankreich: Schaut uns an! | |
| > Mit starken, aber teils auch problematischen Gesten: Der Kampf gegen | |
| > Macrons Rentenreform erreicht eine neue Dimension. | |
| Bild: Mit aller Härte fordern die Feuerwehrleute bessere Arbeitsbedingungen un… | |
| Plötzlich stehen sie in Flammen. Zwei Feuerwehrmänner in Schutzanzügen, | |
| umringt von ihren Kollegen. Fernsehkameras und Handys sind auf sie | |
| gerichtet – und schon verbreiten sich am 28. Januar die grausigen Bilder in | |
| sozialen Netzwerken und laufen in Dauerschleife auf Nachrichtensendern. | |
| In diesen Tagen geht es in Frankreich viel um die Macht der Bilder, um | |
| eindringliche Gesten, denn die klassischen, gewerkschaftlich organisierten | |
| Demonstrationen gegen die [1][Rentenreform der Macron-Regierung] verlieren | |
| an Zulauf. Bei vielen herrscht Frustration über eine sich taubstumm | |
| stellende Regierung, an der ihre Argumente abzuprallen scheinen. | |
| Doch nicht nur die Rentenfrage erzeugt Ärger: Emmanuel Macron hat mit | |
| seinem Reformeifer so viele Bevölkerungs- und Berufsgruppen gegen sich | |
| aufgebracht, dass es schwerfällt, bei andauernden Protesten noch den | |
| Überblick zu behalten. Da sind neben den Feuerwehrleuten auch | |
| Polizist*innen, Lehrer*innen, Mediziner*innen und Jurist*innen, ganz zu | |
| schweigen vom harten Kern der Gelbwestenbewegung. | |
| Es geht um den gravierenden Pflegenotstand in Krankenhäusern, um die für | |
| 2021 geplanten Änderungen beim Abitur oder die Umstrukturierung des | |
| öffentlichen Dienstes. In diesem Dschungel von Interessen und Forderungen | |
| wird es immer schwieriger, sich mit den eigenen Anliegen Gehör zu | |
| verschaffen. | |
| ## Fliegende Anwaltsroben | |
| Einigen aber gelingt gerade das hervorragend. Da sind die | |
| Attac-Aktivistinnen im Look der amerikanischen Frauenfigur „Rosie“ aus den | |
| 40er Jahren, mit angespannten Bizeps und dem Slogan „We can do it!“ Wo die | |
| Frauen im blauen Arbeiteroverall, mit gelben Gummihandschuhen und roten | |
| Kopftüchern auftauchen und ihre Tanzeinlage und einen umgedichteten | |
| Schlager darbieten, ernten sie Applaus: „Wegen Macron werden die Renten | |
| sinken, ob für Fatou oder Marion, wegen Macron werden wir die | |
| Verliererinnen sein!“ | |
| Getanzt haben auch die Ballerinen der Pariser Oper. An Weihnachten | |
| interpretierten sie Szenen aus Schwanensee auf den Treppen des Palais | |
| Garnier. Auch der Chor des öffentlich-rechtlichen Radios setzte auf die | |
| Eindringlichkeit seiner Kunst, als er mitten in der Neujahrsansprache der | |
| Intendantin von Radio France, Sybile Veil, Giuseppe Verdis „Gefangenenchor“ | |
| anstimmte. | |
| Und weil die Wünsche zum neuen Jahr ein beliebtes und wichtiges Ritual im | |
| Land sind, verliefen sie auch für andere Vorgesetzte anders als geplant. | |
| Gerade hatte Justizministerin Nicole Belloubet das Wort erhoben, flogen ihr | |
| die schwarzen Anwaltsroben der Umstehenden entgegen, die den Raum | |
| verließen. | |
| Ähnlich erging es der Leitung des Pariser Krankenhauses La Salpêtrière,wo | |
| am Ende der gutgemeinten Wünsche nur ein Berg weißer Kittel vor dem | |
| Rednerpult übrig blieb. Vor Schulämtern schichteten Lehrer*innen alte | |
| Lehrbücher zu großen Haufen. Kulturminister Franck Riester sagte seine | |
| Neujahrsansprache aus Angst vor Nachahmern schließlich ab. | |
| ## Flut von Gesten | |
| „Wir beobachten, wie Worte durch Gesten ersetzt werden“, analysiert der | |
| Politologe und Rhetorikexperte Clément Viktorovitch, bekannt für seine | |
| pointierten Sprachanalysen in der Fernsehsendung „Clique“. Er spricht von | |
| einer neuen „Grammatik der Gesten“, mit der die Protestierenden klassische | |
| Protestformen ergänzen. Denn mit effektvollen Handlungen könnten heute | |
| wenige Einzelne mehr Menschen aufrütteln und mehr Medienaufmerksamkeit | |
| gerieren als eine Menschenmasse mit Spruchbändern und Trillerpfeifen. | |
| Die politische Geschichte ist voll von Gesten, meist seitens der | |
| Herrschenden, die damit – so der französische Soziologe Pierre Bourdieu – | |
| „symbolische Gewalt“ ausdrücken, die sich in ihrem Habitus, ihrer Sprache | |
| und vielem mehr versteckt. | |
| In Frankreich erleben die Herrschenden derzeit eine Flut von Gesten seitens | |
| der Bevölkerung. Wenn Anwaltsroben oder Ärztekittel abgelegt werden, | |
| immerhin Symbole eines Berufsstandes mit Prestige und sozialer Anerkennung, | |
| dann geht es um mehr als die zukünftige Finanzierung der Renten: Es geht um | |
| die bestehende soziale Ordnung. Dass den Gesten auch Taten folgen können, | |
| bewiesen in dieser Woche über 300 Chef- und Oberärzte, die kollektiv von | |
| ihren Leitungsfunktionen zurückgetreten sind. Hunderte weitere drohen, es | |
| ihnen nachzutun. | |
| Bei den Protesten wird zudem häufig an die lange Geschichte, an die | |
| Protestkultur gegen die bestehende Ordnung angeknüpft. So zogen am 23. | |
| Januar Reformgegner mit Fackeln durch Paris, einige trugen Lanzen, auf | |
| denen sie gebastelte Macron-Köpfe gespickt hatten, begleitet von | |
| Sprechchören „Wir haben Ludwig XVI. geköpft, Macron, wir fangen wieder an!�… | |
| ## Repräsentative Demokratie in Gefahr | |
| Was fällt noch unter die freie Meinungsäußerung und wann schlägt die | |
| symbolische in [2][manifeste Gewalt] um? Inzwischen müssen sich | |
| Politiker*innen in Frankreich bei Auftritten in der Öffentlichkeit sorgen, | |
| unversehrt zu bleiben. So musste Macron von Sicherheitskräften begleitet | |
| aus einem Theater eskortiert werden, auch andere Minister gerieten in | |
| brenzlige Situationen. | |
| Ist die repräsentative Demokratie in Gefahr, wenn Aggressionen weiter | |
| zunehmen, wie wir es auch in Deutschland beobachten? Ja. Frankreich | |
| befindet sich an einem wichtigen Moment für seine politische Kultur. Die | |
| Demonstranten riskieren mit einigen Gesten, Sympathien innerhalb der | |
| Bevölkerung einzubüßen. Sie brüskieren, sie irritieren, wenn sie | |
| fragwürdige historische Zusammenhänge herstellen. Sie gehen auch das Risiko | |
| ein, dass statt inhaltlicher Forderungen nur noch die Geste an sich | |
| medienwirksam verbreitet wird. | |
| Solange der Politikstil der Regierung Macron sich nicht ändert, ist zu | |
| befürchten, dass die Proteste eher noch gewalttätiger werden. Bedauerlich | |
| wäre aber auch, wenn sie ganz einschliefen – und Macrons Reform ohne | |
| Gegenwind bliebe. | |
| 8 Feb 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Romy Straßenburg | |
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