# taz.de -- Prägende Autos: Bärbel oder Stalin | |
> Unserer Autorin diente das eigene Auto zum sozialen Überleben, war Safe | |
> Space und feministisches Symbol in einem. Eine Autobiografie. | |
Bild: Von der Wetterau bis Paris – unsere Autorin hat viele Kilometer mit ihr… | |
Mein Auto heißt an guten Tagen Bärbel, an weniger guten Stalin. Damit wäre | |
schon einiges der neurotisch-liebevollen Bindung, die ich zu meinem | |
Gefährten hege, erklärt. Neuwagen, Komfort, Tempo, Statussymbol – das alles | |
hat mich nie interessiert. Ich bevorzuge Altbauwohnungen, auch | |
motorisierte. Zugig, notdürftig geflickt und mit tausend Geschichten auf | |
dem Buckel. Deshalb wäre ich nie auf die Idee gekommen, meine sowieso nur | |
spärlich vorhandene Kohle für einen Neuwagen zu sparen. [1][Meine Autos] | |
hatten stets ein paar Hundert Mark gekostet, noch ein halbes Jahr TÜV, das | |
reichte für einen Sommer. | |
Ich bin auf dem Land aufgewachsen, wo der letzte Bus nachmittags um vier | |
fuhr. Die Frage, ob man den Führerschein machte, stellte sich nicht – Auto | |
fahren war fürs soziale Überleben unabdingbar, wenn man nicht bei den | |
rotgesichtigen, NPD-wählenden Kirmesburschen im hessischen Outback | |
festhängen wollte. Um die zahlende Familie nicht mit allzu vielen | |
Fahrstunden finanziell zu ruinieren, wurde mit einem nervös mitbremsenden | |
Elternteil auf dem Beifahrersitz auf dem Promilleweg geübt – das ist der | |
Feldweg parallel zur Bundesstraße, auf dem die Besoffenen nachts nach Hause | |
fahren. | |
Ich stamme aus einer Generation, in der die Kombination der Begriffe „Frau“ | |
und „Auto fahren“ fast automatisch in einem onkelhaften Witz mündete. Mein | |
Fahrlehrer war einer dieser Macker, die breitbeinig auf dem Beifahrersitz | |
thronten, den linken Arm lässig bis hinter die Fahrerkopfstütze gestreckt, | |
und wenn man in den fünften Gang schaltete, rempelte man ihm automatisch | |
gegen’s Knie. Er gaslightete mich schon ab der ersten Fahrstunde: „Frauen | |
können sowieso nicht Auto fahren, du lernst das nie, wir können uns das | |
hier eigentlich auch gleich sparen …“ Wahrscheinlich verdanke ich ihm | |
letztendlich meinen inzwischen schon längst abgelaufenen und [2][aus purer | |
feministischer Renitenz] erworbenen Taxischein. Ich kutschiere sowieso | |
gerne Menschen durch die Gegend, am liebsten durch die Nacht. Ein | |
kollektives Erlebnis in einer Raumkapsel, völlig von der Außenwelt | |
entfernt, gleichzeitig an einem Ort und unterwegs zu sein – das ist quasi | |
schon die vierte Dimension. | |
## Das Auto ist auch ein Schutzraum | |
Das Taxifahren war dabei längst nicht nur ein herrlich autarker Broterwerb, | |
sondern eine damals noch einigermaßen hermetische Domäne ebendieser | |
Fahrlehrertypen, die es dringlich subversiv zu zersetzen galt. Und bis | |
heute ist es ein immenser Unterschied, ob Frauen in Hamburg-Eppendorf Auto | |
fahren oder ob sie es in Saudi-Arabien, den Emiraten oder Afghanistan tun. | |
Eine Frau, die das lässige Rückwärtseinparken beherrscht, ist immer noch | |
ein nicht zu unterschätzender Affront für sämtliche Macker dieser Erde. | |
Und gerade für Frauen ist das Auto in Sachen nächtlicher Gefährdung ein | |
nicht zu unterschätzender, sicherer Ort – ÖPNV aus Umweltgründen hin oder | |
her. Ein Auto mag hierzulande sicherlich inzwischen ein immer | |
anachronistischeres Statussymbol sein, in vielen Teilen der Welt ist es das | |
einzige Zuhause für komplette Familien, es bedeutet ein paar Millimeter | |
blechernen Schutz vor sexuellen Übergriffen, Morden oder einfach nur der | |
Witterung. | |
Mit meinem ersten Auto bin ich übrigens auch regelmäßig von Gießen zum | |
Anti-AKW-Camp nach Gorleben gegurkt. Zuerst wurde ich von den | |
Genoss*innen aus dem Asta schwer angepfiffen, dass ich das Bourgeoise | |
wohl noch nicht gänzlich abgelegt hätte, weil ich schließlich ein Auto | |
besaß. Dann aber stapelten sich gleich fünf knarzende Lederjacken in meiner | |
zierlichen Ente und ließen sich ketterauchend ins Wendland chauffieren. | |
## Weißt-du-noch-Erlebnisse | |
Es hatte sich so ergeben, dass es aber vor allem die Allerliebsten waren, | |
die keinen Führerschein besaßen, und so bin ich eben gefahren. In einer | |
brutheißen Sommernacht mal eben spontan an die Nordsee, und immer wieder | |
nach Berlin. In Ermangelung von Kohle für eine Übernachtung habe ich | |
unzählige Nächte in meinen jeweiligen Autos verbracht. Und Abenteuer sind | |
sowieso erst dann welche, wenn es jemanden gibt, der sie bezeugt und teilt, | |
mit dem man ein herrliches Weißt-du-noch-Erlebnis erschafft, das jederzeit | |
in dunklen Momenten aus dem Archiv gekramt werden kann. | |
Mein Auto war stets mein kleiner Salon, in den ich Leute einlud, sich bei | |
einem guten Gespräch oder auch nur als Schutz vor garstigem Schneeregen | |
ganz nebenbei von A nach B zu bewegen. Ein Auto ist ein herrlicher | |
Rückzugsort, um einfach mal mitten im öffentlichen Raum unbeobachtet zu | |
heulen, zu toben, diskret zu telefonieren oder einfach nicht dumm | |
angequatscht zu werden. Theatralische Trennungen, deren Endgültigkeit durch | |
den Rumms einer zuschlagenden Autotür unterstrichen wurden. Und wer von uns | |
hat nicht schon mal nachts vor einer elterlichen Haustür in einem Auto | |
geknutscht? | |
## Autos im Erinnerungsalbum | |
Ich bin einmal auf einem Hügel hoch [3][über Neapel gewesen], um den sich | |
ein steiles, komplett zugeparktes Sträßlein schlang. Bei näherem Hinsehen | |
waren sämtliche Autoscheiben mit Pappen oder Tüchern verdeckt, während die | |
Karossen rhythmisch wippten. Diese Straße war anscheinend der einzige Ort, | |
an dem ein bisschen Intimität stattfinden konnte, fernab der Enge einer | |
winzigen Wohnung und den wachsamen Augen der katholischen Familie. | |
Manche Menschen machen ihre Lebensstationen an Bundesligaereignissen, | |
Katastrophen oder Filmpremieren fest – bei mir waren es stets die Autos, | |
die als Erinnerungsalbum dienten. Mit meiner klapprigen Ente fuhr ich mit | |
einer Freundin spontan von Hessen nach Paris. Irgendwo hinter Saarbrücken | |
riss sie mir in voller Fahrt das Dach auf, und – rrrapp, flatterten die | |
knappen zwei Quadratmeter mürber Plane wie ein rotes Fähnchen über unseren | |
bloßen Köpfen und wurden dann in Paris gratis von einem netten Anwohner, | |
der den Dachschaden von seinem Balkon aus gesichtet hatte, mit Gaffa-Tape | |
geflickt. Weil ich mir kein neues Dach leisten konnte, fuhr ich mit meinem | |
notdürftig bandagierten Veteranen noch jahrelang, bis er mir mitten auf der | |
Straße buchstäblich auseinanderfiel. Das Dach hat bis zum Schluss gehalten. | |
## Eine Ehe mit dem Fiat Panda | |
Meine Autos habe ich übrigens nie abgeschlossen, weil das, was man | |
entwenden konnte, im Wert deutlich unter der Anschaffung einer neuen | |
Scheibe lag. Einmal sollte ich einen alten Fernseher für eine Nachbarin zum | |
Recyclinghof bringen, sie hatte mir dafür 20 Mark in die Hand gedrückt. Ich | |
schaffte es an diesem Tag nicht und ließ ihn im unverschlossenen Käfer – | |
dem Enten-Nachfolger – auf dem Rücksitz zurück. Am nächsten Morgen war er | |
verschwunden. Und ein neues Entsorgungskonzept war geboren. Alles, was ich | |
nicht mehr brauchte, platzierte ich – gut von außen sichtbar – auf der | |
Rückbank meines Autos. Und es fand stets zuverlässig seine Abnehmer. | |
Einmal war ich gerade losgefahren, als ich es hinter mir grunzen hörte. | |
Plötzlich tauchte im Innenspiegel ein Gesicht vom Rücksitz auf. [4][Der | |
freundliche Obdachlose] hatte in meinem Auto genächtigt. Ich bot ihm an, | |
dass wir das auch künftig so halten könnten. Er verbrachte also einen | |
Winter lang jede Nacht in meinem Käfer und pünktlich mit Eintritt des | |
Frühlings war er dann auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Der VW Passat | |
Kombi in sonnengelb eröffnete ungeahnte Möglichkeiten, mich auf einem der | |
damals noch regelmäßig auf dem Land stattfindenden Straßensperrmülle | |
komplett neu zu möblieren, inklusive wuchtigen Sesseln und altem | |
Nähmaschinentisch. Und dem Fiat Panda verdanke ich letztendlich die einzige | |
Ehe meines Lebens, die damit begann, dass ein Kontrabass transportiert | |
werden musste und ich zufällig dieses Auto mit ausgebauten Rücksitzen | |
besaß. | |
## Nicht nur ein Fortbewegungsmittel | |
Meine Schrottkarren von einst begegnen mir hin und wieder mal auf der | |
Straße, liebevoll hochpoliert und mit einem H-Kennzeichen versehen. Am | |
Steuer meist irgendein Existenzenvernichter mit Einstecktüchlein, der | |
garantiert noch nie eine Demo von innen gesehen hat. The times they are | |
a-changin’, und schließlich gibt’s ja auch schon längst Palitücher bei H… | |
Darüber, dass SUV Scheiße sind und der städtische Individualverkehr ein | |
Konzept aus dem letzten Jahrtausend, müssen wir nicht reden. Moralische | |
Überlegenheit muss man sich aber auch erst mal leisten können. Haben Sie | |
sich denn schon mal gefragt, wohin Ihr Hermes-Paketdienstmann eigentlich | |
nach seiner Schicht heimkehrt? Oder der freundliche Janusz, der Ihnen ohne | |
Rechnung so günstig das Bad gekachelt oder die Küche gestrichen hat? | |
Auch bei uns ist das Auto längst nicht nur Fortbewegungsmittel – es ist oft | |
genug das einzige Zuhause [5][für all die osteuropäischen Malocher] auf den | |
Erdbeerfeldern, den Baustellen und in den Schlachthöfen. Denken Sie doch | |
einfach mal kurz dran, während Sie mit Ihrem Lastenfahrrad den frischen | |
Spargel vom Wochenmarkt nach Hause karren. | |
28 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Tania Kibermanis | |
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