| # taz.de -- Porträt der Journalistin Ksenia Lutskina: Gnade vor Recht | |
| > Ksenia Lutskina wurde in Belarus zu acht Jahren Gefängnis verurteilt – | |
| > weil sie ihrem Beruf nachging. Was sie zu erzählen hat, geht uns alle an. | |
| Bild: Ksenia Lutskina am 15. April 25 in Berlin | |
| Noch arbeitet [1][Ksenia Lutskina] nicht. Sie braucht noch Zeit, um sich | |
| von der Haft zu erholen. Acht Jahre lang sollte die heute 41-Jährige im | |
| Gefängnis verbringen, urteilte das Regime Lukaschenko. Die Führung in | |
| Belarus hat etwas gegen Journalistinnen. Doch dann wurde sie nach der | |
| Hälfte der Zeit begnadigt – und im März aus Belarus evakuiert. Heute lebt | |
| die Journalistin mit ihrem 15-jährigen Sohn in Berlin. | |
| Am 22. Dezember 2020 liefen die landesweiten Proteste schon seit Monaten – | |
| Zigtausende prangerten die gefälschte Präsidentschaftswahlen an. An diesem | |
| Tag hatte Ksenia Lutskina gerade Geschenke für ihren Sohn gekauft, da kamen | |
| fünf Männer auf sie zu. Einer schlug ihr ins Gesicht, dann wurde sie | |
| gewaltsam in ein Auto gezerrt. | |
| Lutskina schrie um Hilfe, aber „alle Passanten waren plötzlich | |
| verschwunden“, erinnert sie sich. Man brachte sie zu ihrer Wohnung, die | |
| durchsucht wurde. „Niemand hat mich über meine Rechte aufgeklärt, es gab | |
| keinen Durchsuchungsbefehl, keiner der Männer hat sich ausgewiesen“, sagt | |
| Lutskina. Die „Silowiki“ genannten Einsatzkräfte hätten nach einer halben | |
| Million Euro gesucht, die sie angeblich für die Gründung eines | |
| alternativen, unabhängigen Nachrichtensenders in Belarus erhalten habe, | |
| erzählt die Journalistin. | |
| Den Sender gab es tatsächlich, Lutskina hatte ihn mit einigen anderen | |
| Journalisten gegründet und bereits erste Aufnahmen gemacht. Das Geld aber | |
| gab es nicht. „Als sie kein Geld in meiner Wohnung fanden, waren sie | |
| erstaunt. Offenbar konnten sie sich nur schwer vorstellen, dass jemand | |
| umsonst arbeitet. Aber meine ehemaligen Kolleg*innen und ich haben so | |
| für unsere Ideen gebrannt, dass wir es damals ohne Bezahlung getan haben. | |
| Wir wollten uns erst später über Abos und vielleicht Werbung finanzieren.“ | |
| ## Als „Volksverräterin“ beschimpft | |
| Nach der Hausdurchsuchung wurde Lutskina zur Finanzermittlungsbehörde in | |
| Minsk gebracht. Die Behörde ist zuständig für die Aufdeckung, Verhinderung | |
| und Untersuchung von Wirtschafts- und Finanzkriminalität. Zwei Tage lang | |
| wurde sie verhört: Einer der Ermittler habe Mitleid gezeigt und ihr Wasser | |
| angeboten, der andere habe sie als „Volksverräterin“ beschimpft. | |
| Danach wurde sie ins berüchtigte Okrestina-Gefängnis gebracht, wo | |
| Demonstrierende geschlagen werden. [2][Es ist bekannt als | |
| „Isolationsgefängnis“ und als Symbol der Folter]. | |
| Laut Lutskina gab es weder Essen noch Wasser. „Die Wände in der Okrestina | |
| waren vollgeschrieben mit Gedichten und Liedern in verschiedenen | |
| europäischen Sprachen.“ Schlafen konnte sie nicht. „So las ich immer | |
| wieder, was dort an den Wänden stand. Das gab mir Kraft, weil ich verstand: | |
| Ich bin nicht die Erste hier. Und leider auch nicht die Letzte.“ | |
| In der Anklageschrift hieß es, die Journalistin habe „mit der Absicht | |
| gehandelt, die Autorität der Staatsgewalt zu untergraben“. Als Beweis | |
| präsentierten die Ermittler erste Aufnahmen für das alternative Fernsehen. | |
| Interviews mit Belarussen, die wegen Repressionen aus dem Land geflohen | |
| waren, oder Videos, in denen eine Journalistin Menschen danach fragt, was | |
| sie von der derzeitigen rot-grünen Flagge halten und der weiß-rot-weißen, | |
| dem Symbol der Opposition. | |
| ## Eine besondere Prüfung | |
| In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember wurde Lutskina ins | |
| Untersuchungsgefängnis in Minsk gebracht. Wurde gedemütigt: „Die Frau, dich | |
| mich durchsuchte, zog grinsend am Gummi meines BHs und ließ ihn dann abrupt | |
| wieder los. Das traf mich wie ein Schlag in den Rücken. Sie sah mir in die | |
| Augen und sagte mit einem Lächeln: ‚Na, spürst du das, du Miststück?‘“ | |
| Lutskina kam in eine Durchgangszelle, wo normalerweise Häftlinge | |
| untergebracht werden, bevor sie in psychiatrische Einrichtungen verlegt | |
| werden. „Mit psychisch instabilen Menschen in einer Zelle zu leben, ist | |
| eine besondere Prüfung“, meint Lutskina. In der Situation half es, an ihren | |
| Sohn zu denken. Während sie in der Zelle saß, verlangte er, dass der | |
| Weihnachtsbaum, den sie vor der Festnahme besorgt hatten, in der Wohnung | |
| bleiben soll. Alles sollte bleiben wie an dem Tag, an dem Lutskina | |
| „abgeholt“ wurde. „Das war seine Art zu warten“, erklärt Lutskina. Das | |
| „Denkmal“, wie sie es nennt, blieb zweieinhalb Jahre in der Wohnung – dann | |
| konnte Lutskina ihren Vater und ihren Sohn überzeugen, den Baum | |
| wegzuräumen. „Zuerst war er ein Symbol der Hoffnung, später eine ständige | |
| Wunde. Eine Erinnerung an die ‚Verbrechen‘, die ich nicht begangen hatte.“ | |
| Silvester 2020 wurde bekannt, dass man Lutskina wegen Steuerhinterziehung | |
| angeklagt hatte. Das Verfahren wurde später eingestellt und ein neues | |
| eröffnet – wegen „Verschwörung zur Erlangung der Staatsmacht“. | |
| „Bei jedem Verhör war es die selbe Rhetorik: ‚Haben Sie Ihre Heimat | |
| verraten?‘ ‚Sie sind eine Volksfeindin.‘ ‚Sie haben das Vertrauen der | |
| Menschen zerstört.‘ Das wiederholte sich Tag für Tag. Sie haben alles als | |
| Druckmittel verwendet: Emotionen, Vergangenheit, Beruf. Und sie haben immer | |
| noch nach diesen unglückseligen 500.000 Euro gesucht. Die es nie gegeben | |
| hat.“ | |
| Am 25. März 1918 erklärte die Belarusische Volksrepublik erstmals ihre | |
| Unabhängigkeit und machte die weiß-rot-weiße Flagge zu ihrem Symbol. Am 25. | |
| März 2021, dem „Tag der Freiheit“, bemerkten Ksenia Lutskina und ihre | |
| Mithäftlinge im Untersuchungsgefängnis, dass sich die Atmosphäre plötzlich | |
| geändert hatte: Die Wachen bereiteten sich auf einen möglichen Sturm vor. | |
| Das Sicherheitspersonal lief laut Lutskina in kugelsicheren Westen herum, | |
| mit gezückten Waffen. „Am Ende des Tages stellten sie das Radio auf laut – | |
| um sowohl unsere Gespräche als auch die Stille zu übertönen. Aber plötzlich | |
| wurden in einer Zelle belarussische Lieder gesungen. Sofort brüllten die | |
| Wachmänner, sie sollten aufhören zu singen. Dann begann eine andere Zelle.“ | |
| Die Gefängniswärter seien von Zelle zu Zelle gerannt, um dagegen | |
| vorzugehen. Aber wir hörten nicht auf. In jeder Zelle saßen auch politische | |
| Gefangene: zwei oder drei von sechs. Aber mit der Kraft dieses gemeinsamen | |
| Willens haben wir den Wachen klar gemacht: Wir sind nicht zu brechen.“ | |
| ## „Wir wurden nach besonderen Regeln vor Gericht gebracht.“ | |
| Zwei Jahre nach ihrer Verhaftung wurde Lutskina in eine Strafkolonie | |
| überführt. Anderthalb Jahre hatten die Ermittlungen gedauert, dann folgte | |
| eine mehrmonatige Wartezeit: auf Staatsanwaltschaft, Gericht, Berufung. Der | |
| Gerichtsprozess dauerte einen Monat. | |
| „Wir wurden nach besonderen Regeln vor Gericht gebracht“, sagt Lutskina – | |
| und erzählt vom 26. Oktober 2022. „Wir Frauen wurden an diesem Tag aus dem | |
| Untersuchungsgefängnis geholt, die meisten von uns, 24 Frauen, waren | |
| politische Gefangene.“ Laut Lutskina sollten die Hände mit Handschellen | |
| hinterm Rücken fixiert werden. „Doch es gab gar nicht genügend | |
| Handschellen. Zwei Frauen waren zwar wegen Mordes verurteilt, aber trotzdem | |
| sagte der Wachmann zu mir und einer anderen Journalistin: ‚Mädls, die | |
| Handschellen sind für euch.‘ “ | |
| 12 Stunden lang seien Häftlinge aus verschiedenen Gefängnissen gesammelt | |
| worden, eine „Rundreise durch Belarus“ wie Lutskina sagt. Im verqualmten | |
| Zug, der Journalistin gegenüber eine Frau, die wiederholt straffällig | |
| geworden war. „Sie sah mich an und fragte: ‚Was ist los in diesem Land? | |
| Bist du gefährlicher als ich?‘ Ich antwortete: ‚Wahrscheinlich ja.‘ “ | |
| Nach dem Gerichtsurteil verschlechterte sich Lutskinas Gesundheitszustand | |
| stark. Sie wurde in einem gepanzerten Mannschaftswagen mit 27 anderen | |
| Frauen in die Strafkolonie gebracht. „Als sie dann die Tür des Wagens | |
| geöffnet haben, bin ich ohnmächtig in den Schnee gefallen, ich hatte | |
| Krämpfe.“ Erst in der Strafkolonie erfuhr die Journalistin: Bei einer | |
| Krankheit wie ihrer, einem Gehirntumor, darf keine Haftstrafe verhängt | |
| werden. Das zeigte sich auch in der Ausstattung vor Ort: „Der Arzt im | |
| Untersuchungsgefängnis hatte nur Ibuprofen, Paracetamol und Aspirin. Kein | |
| MRT, das ich jedes Jahr brauche, nicht die rudimentärsten Check-ups.“ Auch | |
| wenn die Ärzte versucht hätten, ihr zu helfen: „Ohne richtige | |
| Untersuchungen konnten sie mir keine Medikamente verschreiben. Es war | |
| beängstigend, so hilflos zu sein.“ | |
| Lutskina musste in der Näherei arbeiten, später – nach einer | |
| Lungenentzündung 2023 – aus hartem Synthetikgarn Duschschwämme stricken. 22 | |
| Stück am Tag. „Das ist körperlich unmöglich“, sagt Lutskina. Diese Arbeit | |
| ist gesetzlich verpflichtender Teil der ‚Besserung‘ in Belarus. Die | |
| Arbeitswochen haben sieben Tage, jede Schicht sieben Stunden und vierzig | |
| Minuten. Dazu kommen aber weitere Stunden, die theoretisch freiwillig, | |
| praktisch aber verpflichtend sind: „Wir haben das Koloniegelände | |
| aufgeräumt, Gemüse umgelagert, Bauarbeiten gemacht. Bei einer | |
| Überschwemmung schöpften wir Wasser aus dem Keller. Im Winter mussten wir | |
| Schnee räumen“, sagt die Journalistin. Aufstehen um sechs, Licht aus abends | |
| um zehn. Sporthalle, Gemeinschaftsräume und Kirche durften politische | |
| Häftlinge nicht benutzen. | |
| Am 20. August 2024 kam Ksenia Lutskina auf ein von Lukaschenko | |
| unterzeichnetes Gnadengesuch frei. Zuvor hatte es die Journalistin zweimal | |
| abgelehnt, ein solches Gesuch zu stellen. „Die anderen Häftlinge sagten: | |
| ‚Wenn sie zu dir kommen: willige ein. Das ist kein Verrat, das ist | |
| Überleben.‘ Es fiel mir schwer, zu unterschreiben, aber es nicht zu tun, | |
| hätte den Tod bedeutet.“ | |
| Aus dem Russischen Gaby Coldewey | |
| [3][Glafira Zhuk] war Stipendiatin ([4][Refugium-Auszeit-Stipendium]) der | |
| taz Panter Stiftung. Ksenia Lutskina wa Teilnehmerin des [5][Exil-Projekts | |
| der taz Panter Stiftung]. | |
| 2 Dec 2025 | |
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