| # taz.de -- Politologe über Europas Osten und Westen: „Osteuropa ohne Koloni… | |
| > Ist der Osten rassistischer als der Westen? Ivan Krastev über seinen | |
| > neuen Essay „Europadämmerung“ und die Frage, warum die EU ihr | |
| > Selbstbewusstsein verloren hat. | |
| Bild: Europa ist verschieden (das Bild zeigt das Europaparlament in Straßburg) | |
| taz.am wochenende: Herr Krastev, Sie haben den Zerfall der Sowjetunion in | |
| Osteuropa miterlebt. Sehen Sie gerade das Ende der Europäischen Union | |
| kommen? | |
| Ivan Krastev: Nein, ich sehe nicht das Ende der Europäischen Union kommen. | |
| Wir können die EU aber nicht weiter als selbstverständlich hinnehmen. | |
| Dinge, die vorher undenkbar waren, sind nun denkbar geworden. Der Brexit | |
| zum Beispiel hat eine starke psychologische Wirkungsmacht, die Angst vor | |
| politischen Fehlkalkulationen ist gewachsen. Aber was meinen wir denn | |
| eigentlich mit dem Ende? Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit? Wir haben | |
| viele Theorien zur europäischen Integration, aber keine zur Auflösung der | |
| EU. | |
| In Ihrem neuen Essay „Europadämmerung“ untersuchen Sie die Bruchlinien, die | |
| sich derzeit durch die EU ziehen. Eine der schwersten Folgen der | |
| Flüchtlingskrise sei demnach die Spaltung zwischen West- und Osteuropa. | |
| Warum? | |
| Die Flüchtlingskrise hat tiefe politische und kulturelle Trennlinien | |
| verstärkt, die vorher schon da waren. Osteuropäische Länder haben keine | |
| Kolonialgeschichte. Sie sind es weniger gewohnt, mit vermeintlich Fremden | |
| in einer Gesellschaft zu leben, als Westeuropäer. In einem Land wie Polen | |
| wurde die ethnische Homogenität zum Fundament des Nationalstaats. Das Bild | |
| des Fremden an den Grenzen des eigenen Landes wirkt für viele Osteuropäer | |
| wie das Todesurteil für ihre teils kleinen ethnischen Gruppen. | |
| Die Länder auf der sogenannten Balkanroute waren ja eher Transitländer für | |
| Flüchtlinge. | |
| Ja, aber die Ablehnung des Fremden ist immer dort am stärksten, wo es kaum | |
| Fremde gibt. Nichts ist schlimmer als der imaginierte Ausländer, Migrant | |
| oder Flüchtling. Selbst Minderheiten wie die Roma wurden in Ländern wie | |
| Rumänien oder Ungarn über Jahrhunderte nicht ordentlich integriert. Die | |
| Menschen fragen sich heute also, warum sie denn noch mehr Leute mit völlig | |
| anderen kulturellen Hintergründen aufnehmen sollten. Liberaler eingestellte | |
| Menschen, die dort leben, wollen in westeuropäische Länder auswandern. Das | |
| verstärkt die Verunsicherung noch. | |
| Heißt denn Europa zum Beispiel für einen Bulgaren etwas völlig anderes als | |
| für einen Niederländer? | |
| Ganz sicher. Einige Länder sind bereits seit siebzig Jahren Teil des | |
| europäischen Projekts. Sie haben sich diese Union ganz anders angeeignet. | |
| 1989 feierte man vor allem die Öffnung der Grenzen. Davon profitierten | |
| viele Osteuropäer, die heute im Ausland arbeiten. Jetzt allerdings wirken | |
| diese offenen Grenzen für sie wie eine Bedrohung, denn besonders in ihren | |
| Heimatländern sprach man sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus. Je | |
| mehr aber die Rhetorik gegen Fremde in Westeuropa zunimmt, desto eher | |
| werden auch Arbeitsmigranten aus dem Osten Opfer davon. Das sah man nach | |
| dem Votum zum Brexit, als es in England zusehends zu Übergriffen auf Polen | |
| und andere Einwanderer kam. | |
| Sie schreiben in Ihrem Essay, osteuropäische Staaten teilten die | |
| kosmopolitischen Werte nicht, die am Grund der europäischen Identität | |
| liegen. | |
| Einer der großen Unterschiede liegt darin, was 1968 für West- und Osteuropa | |
| bedeutete. Im Westen solidarisierte man sich mit | |
| Dekolonialisierungsbewegungen weltweit, auch im Hinblick auf die eigenen | |
| Kolonialgeschichten und die Folgen des Zweiten Weltkriegs. Damit ging ein | |
| sehr multikulturalistisches Mindset einher. In Polen oder der | |
| Tschechoslowakei kamen die Demonstrationen 1968 eher einem nationalen | |
| Erwachen gleich. Die Menschen dort wehrten sich gegen den | |
| Sowjetimperialismus, den die osteuropäischen Regimes mit der angeblich | |
| internationalen kommunistischen Revolution legitimierten. Das ist ein | |
| völlig anderes Motiv als im Westen. | |
| Zeigt sich dieser Emanzipationsdrang denn auch heute noch? | |
| Der Vorsitzende der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), | |
| Jarosław Kaczyński, ist ein gutes Beispiel dafür. Er hat immer schon daran | |
| geglaubt, dass Polen nur frei und demokratisch sein kann, wenn es völlig | |
| souverän ist. Kaczyński lehnt es komplett ab, dass Polen seine Souveränität | |
| mit irgendjemandem teilt. Aber die Europäische Union ist schließlich genau | |
| um diese kosmopolitische Idee herum organisiert. Die Union muss also einen | |
| funktionierenden Mittelweg finden. Das kann allerdings nicht bedeuten, | |
| offene Grenzen als problemlos abzutun, denn das sind sie nicht. | |
| Glauben Sie denn, dass Länder wie die Slowakei trotzdem bei der | |
| Umverteilung von Flüchtlingen einlenken werden? | |
| Osteuropäische Gesellschaften haben das Gefühl, dass ihnen diese | |
| Umverteilung aufgezwungen wird. Die deutsche Bundesregierung hat sich für | |
| die Öffnung der Grenzen entschieden. Als das zu Spannungen in Deutschland | |
| führte, entschloss man sich, die anderen Länder moralisch in die Pflicht zu | |
| nehmen. Es gab dazu aber keine ernsthafte Diskussion. Das wiederum erlaubte | |
| einigen osteuropäischen Regierungschefs, die europäische Migrationspolitik | |
| generell infrage zu stellen. Es ist lächerlich, aber manche Länder wollen | |
| nicht einmal eintausend Menschen aufnehmen. | |
| In Ihrem neuen Buch „Europadämmerung“ schreiben Sie über Sinn und Unsinn | |
| von Volksabstimmungen und direkter Demokratie. Welche Auswirkungen haben | |
| denn Referenden wie jenes 2016 in den Niederlanden zum | |
| Assoziierungsabkommen mit der Ukraine? Sechzig Prozent der Wähler stimmten | |
| dagegen. | |
| Dieses Referendum war unfassbar. Ich glaube, die Mehrheit der | |
| niederländischen Bevölkerung weiß nichts über das Assoziierungsabkommen der | |
| Europäischen Union mit der Ukraine, und sie interessiert sich auch nicht | |
| dafür. Die Abstimmung stand stellvertretend dafür, wie politische | |
| Gruppierungen oder gar die Regierung eines Landes Popularität bei den | |
| Menschen gewinnen wollen. Sie möchten den Eindruck erwecken, für die | |
| Mehrheit der Bürger zu sprechen. Wenn es mehr solcher Referenden geben | |
| sollte, wird die EU gelähmt. Ich halte sie für gefährlicher als mögliche | |
| Exit-Abstimmungen. | |
| Welche Rolle spielt Russland bei den Spannungen zwischen West- und | |
| Osteuropa? | |
| Osteuropas Verhältnis zu Russland ist gespalten. Polen und das Baltikum | |
| fühlen sich von Russland bedroht. In Viktor Orbán wiederum hat Wladimir | |
| Putin einen seiner größten Verbündeten in Europa. Ich glaube, Moskau wird | |
| immer versuchen, sich mit einzelnen Ländern Europas zu arrangieren, nicht | |
| aber mit der Europäischen Union als Ganzes. Das wird sich noch verstärken, | |
| wenn Russlands Beziehungen zu den USA so schlecht bleiben. Ein Ziel Moskaus | |
| wird es sein, die EU von den USA zu lösen, und das war noch nie so | |
| vielversprechend wie jetzt mit Donald Trump als Präsidenten. Das Verhältnis | |
| zwischen den USA und Europa ist so angespannt wie seit dem Zweiten | |
| Weltkrieg nicht mehr. Russland wird die Brüche in den europäischen | |
| Gesellschaften vertiefen und instrumentalisieren wollen, um die USA wieder | |
| in eine Verhandlungsposition bezüglich der Sanktionen zu drängen. | |
| Bieten die Spannungen zwischen Russland und den USA dennoch die Chance für | |
| eine neue Identität Europas? | |
| Europa muss jetzt, mehr als jemals zuvor, eine aktivere Außen- und | |
| Sicherheitspolitik betreiben. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass | |
| Deutschland und Frankreich bereits die Idee einer autonomeren europäischen | |
| Sicherheitsrolle für die EU ins Spiel bringen. Die Entwicklungen in Polen | |
| und Ungarn werden es der EU zwar erschweren, sich zu einigen. Dennoch, auch | |
| wenn die Bedrohung aus Russland und die Spannungen mit den USA ein Risiko | |
| darstellen, glaube ich, dass sich hier die Chance bietet, eine effektivere | |
| Außen- und Sicherheitspolitik voranzutreiben. | |
| 16 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Ebeling | |
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