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# taz.de -- Menschenrechtlerin über Russland: „Putin konnte liebenswürdig s…
> Im russischen Menschenrechtsrat hat Swetlana Gannuschkina Putin beraten
> und auf Gesetze eingewirkt. Warum sie sich 2012 von ihm abwandte, erklärt
> sie hier.
Bild: Der Mann hat sie beeindruckt: Svetlana Gannuschkina hat Putin beraten
Swetlana Gannuschkina sitzt auf dem Rücksitz eines Taxis irgendwo zwischen
dem Flughafen der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku und dem Stadtzentrum.
Es ist eines der vor einigen Jahren in Baku in Mode gekommenen
London-Taxis. Vieles habe sich in Baku, der Stadt, in der ihre Mutter
aufgewachsen ist und zu der sie seit ihrer Kindheit eine besondere Liebe
hat, in den vergangenen Jahren geändert. Baku hat für ihr Leben wichtige
Weichen gestellt, hier hatte sie noch zu Zeiten von Präsident Gorbatschow
erstmalig als Korrespondentin für eine Dissidentenzeitung gearbeitet, von
hier waren zur Zeit des Berg-Karabach-Konflikts die ersten armenischen
Flüchtlinge nach Moskau gekommen. Nun ist sie wieder hier.
taz.am wochenende: Frau Gannuschkina, Sie waren Ihr gesamtes berufliches
Leben Mathematikerin. Hat Ihnen das irgendwann in Ihrem Leben mal geholfen?
Swetlana Gannuschkina: Nun, mal im Spaß jetzt, 65 Jahre später: Ich bin
Mathematikerin geworden, weil ich mich als 12-jähriges Mädchen in meiner
Klasse selbst beweisen wollte. In der ersten Klasse war ich krank, konnte
wegen meiner Herzattacken drei Jahre lang nicht in die Schule gehen. In
dieser Zeit bin ich sehr dick geworden. Als ich dann in die Schule kam,
haben mich meine Klassenkameradinnen ausgelacht.
Und da hat dann Mathematik geholfen?
Irgendwann kamen Jungs in unsere Klasse. Das waren Jungs, die haben auf der
Straße gelebt. Ihre Väter waren im Krieg gefallen, ihre unglücklichen
Mütter tranken, weil sie von den Nächten in den Bombenkellern traumatisiert
waren. Irgendwer musste diesen Jungs helfen, ihr Klassenziel zu erreichen.
Das habe ich getan. Und im Gegenzug haben sie mich beschützt.
Es hat doch sicher auch ernsthaftere Gründe gegeben, warum Sie
Mathematikerin geworden sind?
Ja, sicher. Schon in der Zeit, in der ich krank zu Hause war, habe ich
immer wieder spannende Aufgaben gelöst, war fasziniert von der Schönheit
der Logik und der Mathematik. Und auch Mathematik zu lehren macht Spaß. Man
bringt den Menschen das Denken bei.
Es gab auch eine Phase in Ihrem Leben, in dem Sie Hausfrau und Mutter waren
– hat Sie das erfüllt?
Ich war eigentlich nie nur Hausfrau. Kurz nach meiner Heirat mit meinem
Kommilitonen Schenja ist die bezaubernde und lustige Anka auf die Welt
gekommen. Doch ich habe nicht aufgehört zu arbeiten, habe mich dann eben
abends an den Schreibtisch gesetzt. Und als Petja auf die Welt kam, habe
ich meine Lehrtätigkeit nur für drei Monate eingestellt. Das war das Schöne
am Unterrichten: Ich konnte abends und am Samstag arbeiten und tagsüber bei
den Kindern sein. Kindererziehung gehört für mich zur Selbstverwirklichung
als Frau. Ich habe immer Komplexe gehabt, mich als Frau nicht besonders
hoch eingeschätzt. Dass ich heiraten konnte, Kinder bekam, das war ein
großes Glück. Es war so schön für mich zu sehen, wie sie groß werden.
Tagsüber war ich Hausfrau, habe geputzt, gekocht, gewaschen – ohne
Waschmaschine übrigens. Und damals, als es in den Geschäften kaum etwas
gab, war Kochen noch eine Kunst.
Es war die Zeit der Sowjetunion.
Ja. Aufgrund meiner Erkrankung war ich als Kind nicht bei den Pionieren. So
wurde ich von der Ideologie weitgehend verschont. Freunde unter
Gleichaltrigen habe ich eigentlich erst in der Universität gehabt. Da habe
ich auch Sport gemacht – und sechzehn Kilo abgenommen.
Was haben Sie über den Staat gedacht?
Gerne hätte ich geglaubt, was man uns im Radio erzählt hat. Doch das reale
Leben sah anders aus. Zu Hause wurde das Thema Politik gemieden. Lediglich
mein Opa hatte – immer wenn er von Baku aus zu Besuch war – die Dinge beim
Namen genannt. So hatte ich am Ende der Universität alle Illusionen über
die Sowjetunion verloren. Verstärkt hat sich diese Ablehnung 1968 nach dem
sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei. Für meinen Mann und mich
war das eine Tragödie.
Heute sind Sie eine der aktivsten Frauen Russlands. Wie war das damals?
Da war ich eher Einzelkämpferin. Mal habe ich einer Freundin geholfen, weil
sie entlassen worden ist, dann einem Kollegen, weil er aufgrund seines
Jüdischseins gehen musste. Überhaupt war Antisemitismus ein Problem, gerade
an der mathematischen Fakultät der Moskauer Uni, meiner Alma Mater. Auch am
Institut für Geschichte und Archivwesen, wo ich Dozentin war, gab es
Antisemitismus. Ich fühlte mich insgesamt eher den Dissidenten nah.
Wie haben Sie das Ende der Sowjetunion erlebt?
Die ersten Monate der Perestroika waren eine schöne Zeit. Es wehte ein
frischer Wind. Wir konnten uns nun ohne Angst treffen, Organisationen
gründen. Statt der langweiligen Parteitage der KPdSU gab es einen
spannenden Kongress der Volksdeputierten. Doch es entstanden auch neue
Probleme – es waren ja nicht nur gute Kräfte vom Joch befreit worden. Auch
die bisher unterdrückten Konflikte zwischen den Ethnien brachen nun wieder
auf. Gorbatschow, so scheint mir, hatte dies nicht erwartet. Er hatte
geglaubt, dass das Volk seine „sozialistische Entscheidung“ getroffen habe
und dass sich das alles schnell wieder legen werde. Doch er hatte sich
getäuscht. Nach den Pogromen an den Mescheten im usbekischen Fergana-Tal
ist dann der armenisch-aserbaidschanische Konflikt ausgebrochen.
Und Baku in Aserbaidschan, die Geburtsstadt ihrer Mutter, stand plötzlich
im Zentrum der Ereignisse.
In den Dissidentenkreisen, in denen ich verkehrte, hatten wir bei einem
unserer ersten Treffen über den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt zu
Nagorni Karabach gesprochen. Aus Armenien waren eigens Aktivisten
angereist, die für eine Herausnahme von Nagorni Karabach aus der
Aserbaidschanischen Sowjetrepublik und deren Übergabe an die Armenische
Sowjetrepublik kämpften.
Und dann haben Sie sich selbst aufgemacht nach Baku?
Wir waren alle der Auffassung, dass die Armenier die Opfer seien. Und so
wollte ich zu einem Meeting nach Armenien reisen. Doch dann habe ich mich
umentschieden, machte mich im Januar 1989 auf den Weg nach Baku.
Warum dann aber Baku und nicht Eriwan? Weil Ihre Mutter von dort stammt?
Wahrscheinlich. Und diese Reise hat mein Leben verändert. Damals, im Januar
1989, habe ich das erste Mal Flüchtlinge gesehen. Flüchtlinge, die aus
Armenien vertrieben worden sind. Es waren Aserbaidschaner, die im Winter zu
Fuß über die Berge nach Aserbaidschan hatten marschieren müssen. Eine Frau
kann ich nicht vergessen: Sie irrte mit einem zwei Monate alten Kind in
ihren Armen umher. Das Kind war in Windeln eingewickelt – und bei der
Flucht erfroren. Beim Anblick dieses Kindes habe ich begriffen, dass es am
Ende nicht so wichtig ist zu begreifen, wie sich dieser ganze Konflikt
historisch entwickelt hat. Jede Seite hat irgendwo recht. Aber da waren
Flüchtlinge, auf beiden Seiten des Konfliktes. Und denen musste geholfen
werden.
In Moskau sahen das seinerzeit nicht alle so.
In Moskau angekommen habe ich berichtet. Und ich kann mich noch an die
Zwischenrufer erinnern, die mich mit Worten wie „Sie verwechseln den Henker
mit dem Opfer. Die Aserbaidschaner haben Sie gekauft“ unterbrachen. Ich
habe ihnen entgegengehalten, dass ein zwei Monate altes Kind kein Henker
sein könne. Und ich habe berichtet, dass aus Armenien Aserbaidschaner
vertrieben worden seien, die nicht einmal wussten, wo Karabach eigentlich
liegt. Das Einzige, was diese Aserbaidschaner wussten, war, wie man Gemüse
anbaut.
Menschen aus dem Kaukasus, die sich plötzlich in Moskau wiederfanden.
Ja. Wenig später, im Januar 1990, tauchten die ersten Flüchtlinge aus Baku
in Moskau auf. Es waren Armenier, die seit Generationen in Aserbaidschan
gelebt hatten. Und sie hatten berichtet, dass Baku immer eine sehr
tolerante Stadt gewesen ist. Doch dann seien die Menschen dort verrückt
geworden, Hunderttausende hätten fliehen müssen. Vierzigtausend davon waren
in Moskau eingetroffen. Gemeinsam mit anderen, zumeist Frauen, hatte ich
dann die Organisation „Zivile Unterstützung“ gegründet, mit der wir
Flüchtlingen und Umsiedlern gezielt helfen wollten – die Moskauer Behörden
blieben ja untätig. 1996 haben wir dann innerhalb der
Menschenrechtsorganisation „Memorial“ ein juristisches Beratungsnetz
aufgebaut, „Migration und Recht“. Wir leisten jedes Jahr 20.000 Beratungen.
Wir hatten mal in über fünfzig russischen Städten Beratungsstellen, heute
sind es nur noch zwanzig. Uns fehlen die Mittel.
Und wie kamen Sie in Putins Menschenrechtsrat?
2001 hörte ich, dass Präsident Putin einen Menschenrechtsrat ins Leben
rufen will, dessen Vorsitz sollte Ella Pamfilowa übernehmen.
Sie war zu Jelzins Zeiten Ministerin …
… von ihr hatte ich immer eine gute Meinung. Ein weiterer Grund für meine
Zusage war der Umstand, dass Putin auf die Forderung, dass wir nur als
Gruppe von Menschenrechtlern in diesem Rat mitwirken werden, tatsächlich
eingegangen war.
Und Sie hatten auch mit Putin selbst gesprochen?
Ja. Zu diesem Zeitpunkt standen zwei Gesetzentwürfe auf der Tagesordnung:
einer über ausländische Staatsbürger und einer über ein neues
Staatsbürgerschaftsrecht. Das war mein Thema, und so bin ich am 10.
Dezember 2002 bei dem ersten Treffen unseres Rates mit Putin aufgetreten.
Die damals geplante Gesetzesvorlage zur russischen Staatsbürgerschaft war
so streng, dass es eigentlich niemandem möglich gewesen wäre, auf der
Grundlage dieses Gesetzes die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Und
so wären viele unserer Landsleute für immer von ihrer Heimat abgeschnitten
gewesen. Nach meinem Vortrag konnte ich mit Putin persönlich sprechen. Und
er hatte mir gesagt, dass er das Gesetz unterschreiben werde, obwohl es ihm
eigentlich auch nicht gefallen habe. Wenn es nicht funktioniere, könne man
es ja immer noch ändern.
Tatsächlich?
Ja. Gleichzeitig hatte Putin eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die
diesen Gesetzentwurf noch einmal überarbeiten sollte. Dank den von uns in
dieser Arbeitsgruppe entwickelten Veränderungen konnten zwei Millionen
Bürger der ehemaligen Sowjetunion die russische Staatsbürgerschaft
erlangen.
Die Zusammenarbeit mit Putin war damals effektiv?
Ja. Im gleichen Jahr war man in Inguschetien dabei, Flüchtlingslager
abzureißen. Man wollte so die tschetschenischen Flüchtlinge zu einer
Rückkehr nach Tschetschenien zwingen – dort sei für die Rückkehrer alles
vorbereitet. Eine Lüge! Und das haben wir Putin im Menschenrechtsrat auch
so gesagt. Und so fragte Putin, ob denn jemand vom Rat bereit wäre, nach
Inguschetien zu fahren.
Sie fuhren?
Gemeinsam mit Ella Pamfilowa, der Menschenrechtlerin Ljudmilla Alexejewa,
dem Minister für Wiederaufbau Tschetscheniens und dem stellvertretenden
Direktor der Migrationsbehörde fuhr ich nach Tschetschenien. Und vor Ort
konnten wir den Staatsbediensteten zeigen, dass es nicht stimmte, dass für
eine Rückkehr der Flüchtlinge nach Tschetschenien alles vorbereitet war.
Zwar haben wir mit dieser Reise nicht verhindern können, dass die Lager
abgerissen wurden, aber wir haben den Abriss der Lager zumindest um
anderthalb Jahre verzögern können – und so verhindert, dass die Flüchtlinge
einen Winter in der Kälte auf der Straße leben mussten.
Wie wirkt Wladimir Putin als Mensch auf Sie?
Ich muss sagen, bei den ersten Treffen war ich beeindruckt. Im persönlichen
Kontakt war er sehr lebendig, reagierte schnell, konnte sehr liebenswürdig
sein. Er gab einem immer das Gefühl, verstanden zu haben und eigentlich
auch so zu denken wie man selbst. Nur ein einziges Mal bei insgesamt sechs
Treffen habe ich gesehen, dass seine Augen vereisten und er wütend wurde.
Das war nach der Verhaftung von Michail Chodorkowski 2003. Immer wenn die
Sprache auf Chodorkowski kam, war nichts mehr von seinem wohlwollenden
Auftreten übrig. Man spürte, dass es hier um etwas sehr Persönliches ging.
2012 haben Sie den Menschenrechtsrat verlassen.
Ja. Als er das zweite Mal an die Macht gekommen ist, hat er gegen die
Verfassung gehandelt. Denn die sagt eindeutig, dass man nur zwei Perioden
hintereinander Präsident Russlands sein kann, Punkt.
War das auch das Ende des Kontaktes zu Wladimir Putin?
Nein. Danach hatte ich noch zwei Gespräche mit ihm. Das eine Mal war, als
ich ihn beim Neujahrsempfang am 10. Dezember 2013 ansprach. Zu diesem
Empfang waren Menschenrechtler eingeladen. Ich habe die Gelegenheit
genutzt, ihn auf den Gesetzentwurf zu den sogenannten Gummiwohnungen
anzusprechen.
Gummiwohnungen?
So werden Wohnungen bezeichnet, in denen mehrere Personen unbefristet
gemeldet sind, obwohl sie gar nicht dort leben. Mit diesem – inzwischen in
Kraft getretenen Gesetz – werden Mieter und Vermieter von Gummiwohnungen
strafrechtlich verfolgt. Ich habe damals schon gesehen, dass man mit diesem
Gesetz gegen viele Unschuldige vorgehen wird.
Und Sie haben Wladimir Putin dann direkt darauf angesprochen?
Ich stand ihm gegenüber. Er antwortete: „Warum sollte ich mit Ihnen reden?
Sie haben ja nicht mal einen Sekt in der Hand.“ Sofort haben sich alle
Kellnerinnen auf mich gestürzt und mir Champagner angeboten. „Wladimir
Wladimirowitsch. Ich gratuliere Ihnen zum neuen Jahr“, so habe ich das
Gespräch angefangen. „Jetzt hören Sie mir aber erst mal zu“, habe ich dann
gesagt. „Hat sich der Gesetzgeber mal Gedanken gemacht, wie es dazu kommt,
dass sich Leute in Wohnungen unbefristet registrieren lassen wollen, in
denen sie gar nicht wohnen?“ Ich wollte deutlich machen, dass Mieter in der
Regel nur befristete Registrierungen erhalten.
Und dann?
„Na ja“, hat er gesagt, „diese Omas, die da ihre Wohnungen fiktiv
vermieten, die erhalten doch dafür Geld. Das ist Korruption.“ Nun, habe ich
mir gedacht: Minister und andere haben Millionen an Bestechungsgeldern
entgegengenommen. Und wenn dann mal eine Oma ein paar Rubel dazuverdient,
weil sie jemanden fiktiv bei sich wohnen lässt, dann ist das gleich die
große Korruption, die bekämpft werden muss. Ich hatte ihm dann erklärt, was
man tun müsse, wenn man nicht wolle, dass irgendwelche Omas sich ein paar
Groschen dazuverdienen.
Putin sagen, was man tun muss.
„Ganz einfach“, habe ich ihm gesagt, „man muss nur die Vorschrift, eine
unbefristete wohnbehördliche Anmeldung sei eine Voraussetzung zur Erlangung
der russischen Staatsbürgerschaft, abschaffen. Und schon wird sich niemand
um eine fiktive Adresse bemühen. Es ist doch bekannt, dass die Menschen
eine fiktive unbefristete Anmeldung nur deswegen kaufen, weil sie anders
keine Staatsbürgerschaft beantragen können. Im Gesetz heißt es sogar, dass
eine wohnbehördliche Registrierung keine Voraussetzung für die Wahrnehmung
eines Rechtes sein darf.“ „Ja“, sagte Putin, zu seinem Mitarbeiter gewand…
„ich glaube, sie hat recht. Wir sollten noch mal darüber nachdenken, bevor
wir das Gesetz verabschieden.“
Wieder hat er auf Sie gehört?
Nein. Drei Tage später ging der Gesetzentwurf in zweiter und dritter Lesung
durch die Duma, und eine Woche später durch den Föderationsrat. Und am 25.
Dezember unterschrieb Putin. Er hat das Gesetz so unterschrieben, wie es
eingebracht worden war. Wie kann ich denn Beraterin von einem Menschen
sein, der sich nicht beraten lassen will?
Und Medwedjew, der Ministerpräsident?
Medwedjew ist wahrscheinlich kein schlechter Mensch. Er hätte diese vier
Jahre nutzen sollen, um sich seine Mannschaft aufzubauen. Aber Medwedjew
ist nun mal ein treuer Diener von Putin und deswegen keine eigenständig
handelnde Figur.
Und Nawalnij, der wichtigste Oppositionelle, was halten Sie von ihm?
Nawalnij ist für mich unakzeptabel. Er ist ein Nationalist. Er lügt
ständig, spricht von angeblich hohen Kriminalitätsraten unter Migranten.
Das Einzige, was ich von seinem Programm weiß, ist, dass er eine
Visapflicht für Bürger aus Zentralasien einführen will. Und das war das
Erste, worüber er in einem streitsüchtigen Ton gesprochen hat, als wir uns
eigentlich aus einem ganz anderen Anlass getroffen haben. Wie kann man nur
eine Visapflicht mit einem Land einführen, mit dem man keine echte Grenze
hat? Dass führt doch dazu, dass noch mehr Menschen sich in Russland illegal
aufhalten werden. Auch seine Art, wie er bei Demonstrationen Mengen
aufheizt mit einem „Ja oder Nein“ weckt in mir unangenehme Assoziationen.
Zu Anfang sprachen wir über Ihre Rolle als Frau und Mutter – inzwischen
sind Sie ständig unterwegs, während Ihr Mann zu Hause auf Sie wartet …
… ja, heute ist es Schenja, der für uns kocht und den Haushalt macht! Er
steht schon an der Türe, wenn er hört, dass ich nach Hause komme. Ich
bedauere es sehr, dass ich so wenig Zeit mit ihm verbringen kann. Drei Mal
in der Woche haben wir von der „Zivilen Unterstützung“ in unserem Büro auf
dem Olimpiskij-Prospekt Migrantenberatung. Und an diesen drei Tagen komme
ich selten vor 22 Uhr nach Hause. Dann essen Schenja und ich kurz zu Abend
und anschließend erledige ich meine Korrespondenz, schreibe Berichte,
organisiere Seminare …
Auch solche auf der Krim, die Ihre Partner dort in russischer
Rechtsprechung weiterbilden – obwohl sie die Annexion der Krim kritisiert
haben. Ist das nicht ein Widerspruch?
Auf unseren Seminaren unterrichten Juristen unsere Mitarbeiter über die
Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit dem Europäischen Menschengerichtshof
in Straßburg und über Geschworenengerichte. In der Ukraine gibt es keine
Geschworenengerichte. Und der Europäische Menschenrechtsgerichtshof ist
eine unserer letzten Hoffnungen. Das ist ein funktionierender Mechanismus.
Und deswegen denke ich, dass jeder Jurist wissen muss, wie man mit dem
Europäischen Menschenrechtsgerichtshof arbeiten kann. Ich denke daher, dass
wir nichts Schlechtes tun, wenn wir Krim-Anwälte unterrichten, wie man mit
dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zusammenarbeiten kann. Da geht
es ja um Klagen gegen Russland. Und es ist uns wichtig, dass unsere Anwälte
verstehen, mit Geschworenengerichten zu arbeiten. Russische Gerichte
sprechen in 0,48 Prozent aller Fälle frei. Bei Geschworenengerichten liegen
die Chancen immerhin bei 13 Prozent.
Haben Sie nicht schon mal daran gedacht, einfach aufzuhören? Andere haben
mit 75 einen ruhigeren Tagesablauf.
Ach, machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Ich habe meine
Erfolgserlebnisse. Das Wissen, ganz konkreten Menschen geholfen zu haben,
gibt mir viel Kraft. Kürzlich zum Beispiel hatte ich eine Tschetschenin bei
uns in der Beratung. Sie ist 21 Jahre alt und lebt schon seit sechs Jahren
in Deutschland, spricht besser Deutsch als Tschetschenisch oder Russisch.
Mit ihrer Familie hatte sie gebrochen. Doch eines Tages hatte sie einen
Anruf von ihrer Mutter erhalten, direkt aus Tschetschenien. Man habe große
Sehnsucht nach ihr. Ob sie nicht einmal für zwei Wochen vorbeikommen wolle,
bat die Mutter. Und die junge Frau hatte sich überreden lassen. Dort
angekommen, nahmen Mutter und Brüder ihr den Pass ab und vernichteten
diesen. Dann wurde sie in einem Zimmer eingesperrt. Sie habe durch ihr
Verhalten das Ansehen der Familie geschändet, eröffneten Mutter und Brüder
ihr. Sie habe die Ehre der Familie geschändet. Sie waren im Begriff, die
Frau erneut zwangszuverheiraten oder sie zu töten.
Und was haben Sie getan?
Wir haben dieser Frau geholfen, und so lebt sie inzwischen wieder in
Deutschland. Durch unsere Arbeit ist sie noch am Leben, und das ist keine
Übertreibung. Sie ist nicht die einzige Frau, die im Westen lebte, von
ihren Verwandten entführt worden ist und sich dann an uns gewandt hat. In
Deutschland werden derartige Eltern nicht verurteilt. Ich kann mich nur
wundern, wie man so tolerant gegenüber Intoleranz sein kann.
Ihre eigenen Kinder sind jetzt in Amerika. Sie leben ihr Leben, wie sie
wollen …
Das macht mich sehr traurig. Ich habe bis heute ihre Ausreise innerlich
nicht akzeptiert. Aber ich verurteile sie nicht, es war ihre Entscheidung.
Nur, mir fällt es sehr schwer, diese Entscheidung zu akzeptieren.
26 Sep 2017
## AUTOREN
Bernhard Clasen
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