# taz.de -- Menschenrechtlerin über Russland: „Putin konnte liebenswürdig s… | |
> Im russischen Menschenrechtsrat hat Swetlana Gannuschkina Putin beraten | |
> und auf Gesetze eingewirkt. Warum sie sich 2012 von ihm abwandte, erklärt | |
> sie hier. | |
Bild: Der Mann hat sie beeindruckt: Svetlana Gannuschkina hat Putin beraten | |
Swetlana Gannuschkina sitzt auf dem Rücksitz eines Taxis irgendwo zwischen | |
dem Flughafen der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku und dem Stadtzentrum. | |
Es ist eines der vor einigen Jahren in Baku in Mode gekommenen | |
London-Taxis. Vieles habe sich in Baku, der Stadt, in der ihre Mutter | |
aufgewachsen ist und zu der sie seit ihrer Kindheit eine besondere Liebe | |
hat, in den vergangenen Jahren geändert. Baku hat für ihr Leben wichtige | |
Weichen gestellt, hier hatte sie noch zu Zeiten von Präsident Gorbatschow | |
erstmalig als Korrespondentin für eine Dissidentenzeitung gearbeitet, von | |
hier waren zur Zeit des Berg-Karabach-Konflikts die ersten armenischen | |
Flüchtlinge nach Moskau gekommen. Nun ist sie wieder hier. | |
taz.am wochenende: Frau Gannuschkina, Sie waren Ihr gesamtes berufliches | |
Leben Mathematikerin. Hat Ihnen das irgendwann in Ihrem Leben mal geholfen? | |
Swetlana Gannuschkina: Nun, mal im Spaß jetzt, 65 Jahre später: Ich bin | |
Mathematikerin geworden, weil ich mich als 12-jähriges Mädchen in meiner | |
Klasse selbst beweisen wollte. In der ersten Klasse war ich krank, konnte | |
wegen meiner Herzattacken drei Jahre lang nicht in die Schule gehen. In | |
dieser Zeit bin ich sehr dick geworden. Als ich dann in die Schule kam, | |
haben mich meine Klassenkameradinnen ausgelacht. | |
Und da hat dann Mathematik geholfen? | |
Irgendwann kamen Jungs in unsere Klasse. Das waren Jungs, die haben auf der | |
Straße gelebt. Ihre Väter waren im Krieg gefallen, ihre unglücklichen | |
Mütter tranken, weil sie von den Nächten in den Bombenkellern traumatisiert | |
waren. Irgendwer musste diesen Jungs helfen, ihr Klassenziel zu erreichen. | |
Das habe ich getan. Und im Gegenzug haben sie mich beschützt. | |
Es hat doch sicher auch ernsthaftere Gründe gegeben, warum Sie | |
Mathematikerin geworden sind? | |
Ja, sicher. Schon in der Zeit, in der ich krank zu Hause war, habe ich | |
immer wieder spannende Aufgaben gelöst, war fasziniert von der Schönheit | |
der Logik und der Mathematik. Und auch Mathematik zu lehren macht Spaß. Man | |
bringt den Menschen das Denken bei. | |
Es gab auch eine Phase in Ihrem Leben, in dem Sie Hausfrau und Mutter waren | |
– hat Sie das erfüllt? | |
Ich war eigentlich nie nur Hausfrau. Kurz nach meiner Heirat mit meinem | |
Kommilitonen Schenja ist die bezaubernde und lustige Anka auf die Welt | |
gekommen. Doch ich habe nicht aufgehört zu arbeiten, habe mich dann eben | |
abends an den Schreibtisch gesetzt. Und als Petja auf die Welt kam, habe | |
ich meine Lehrtätigkeit nur für drei Monate eingestellt. Das war das Schöne | |
am Unterrichten: Ich konnte abends und am Samstag arbeiten und tagsüber bei | |
den Kindern sein. Kindererziehung gehört für mich zur Selbstverwirklichung | |
als Frau. Ich habe immer Komplexe gehabt, mich als Frau nicht besonders | |
hoch eingeschätzt. Dass ich heiraten konnte, Kinder bekam, das war ein | |
großes Glück. Es war so schön für mich zu sehen, wie sie groß werden. | |
Tagsüber war ich Hausfrau, habe geputzt, gekocht, gewaschen – ohne | |
Waschmaschine übrigens. Und damals, als es in den Geschäften kaum etwas | |
gab, war Kochen noch eine Kunst. | |
Es war die Zeit der Sowjetunion. | |
Ja. Aufgrund meiner Erkrankung war ich als Kind nicht bei den Pionieren. So | |
wurde ich von der Ideologie weitgehend verschont. Freunde unter | |
Gleichaltrigen habe ich eigentlich erst in der Universität gehabt. Da habe | |
ich auch Sport gemacht – und sechzehn Kilo abgenommen. | |
Was haben Sie über den Staat gedacht? | |
Gerne hätte ich geglaubt, was man uns im Radio erzählt hat. Doch das reale | |
Leben sah anders aus. Zu Hause wurde das Thema Politik gemieden. Lediglich | |
mein Opa hatte – immer wenn er von Baku aus zu Besuch war – die Dinge beim | |
Namen genannt. So hatte ich am Ende der Universität alle Illusionen über | |
die Sowjetunion verloren. Verstärkt hat sich diese Ablehnung 1968 nach dem | |
sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei. Für meinen Mann und mich | |
war das eine Tragödie. | |
Heute sind Sie eine der aktivsten Frauen Russlands. Wie war das damals? | |
Da war ich eher Einzelkämpferin. Mal habe ich einer Freundin geholfen, weil | |
sie entlassen worden ist, dann einem Kollegen, weil er aufgrund seines | |
Jüdischseins gehen musste. Überhaupt war Antisemitismus ein Problem, gerade | |
an der mathematischen Fakultät der Moskauer Uni, meiner Alma Mater. Auch am | |
Institut für Geschichte und Archivwesen, wo ich Dozentin war, gab es | |
Antisemitismus. Ich fühlte mich insgesamt eher den Dissidenten nah. | |
Wie haben Sie das Ende der Sowjetunion erlebt? | |
Die ersten Monate der Perestroika waren eine schöne Zeit. Es wehte ein | |
frischer Wind. Wir konnten uns nun ohne Angst treffen, Organisationen | |
gründen. Statt der langweiligen Parteitage der KPdSU gab es einen | |
spannenden Kongress der Volksdeputierten. Doch es entstanden auch neue | |
Probleme – es waren ja nicht nur gute Kräfte vom Joch befreit worden. Auch | |
die bisher unterdrückten Konflikte zwischen den Ethnien brachen nun wieder | |
auf. Gorbatschow, so scheint mir, hatte dies nicht erwartet. Er hatte | |
geglaubt, dass das Volk seine „sozialistische Entscheidung“ getroffen habe | |
und dass sich das alles schnell wieder legen werde. Doch er hatte sich | |
getäuscht. Nach den Pogromen an den Mescheten im usbekischen Fergana-Tal | |
ist dann der armenisch-aserbaidschanische Konflikt ausgebrochen. | |
Und Baku in Aserbaidschan, die Geburtsstadt ihrer Mutter, stand plötzlich | |
im Zentrum der Ereignisse. | |
In den Dissidentenkreisen, in denen ich verkehrte, hatten wir bei einem | |
unserer ersten Treffen über den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt zu | |
Nagorni Karabach gesprochen. Aus Armenien waren eigens Aktivisten | |
angereist, die für eine Herausnahme von Nagorni Karabach aus der | |
Aserbaidschanischen Sowjetrepublik und deren Übergabe an die Armenische | |
Sowjetrepublik kämpften. | |
Und dann haben Sie sich selbst aufgemacht nach Baku? | |
Wir waren alle der Auffassung, dass die Armenier die Opfer seien. Und so | |
wollte ich zu einem Meeting nach Armenien reisen. Doch dann habe ich mich | |
umentschieden, machte mich im Januar 1989 auf den Weg nach Baku. | |
Warum dann aber Baku und nicht Eriwan? Weil Ihre Mutter von dort stammt? | |
Wahrscheinlich. Und diese Reise hat mein Leben verändert. Damals, im Januar | |
1989, habe ich das erste Mal Flüchtlinge gesehen. Flüchtlinge, die aus | |
Armenien vertrieben worden sind. Es waren Aserbaidschaner, die im Winter zu | |
Fuß über die Berge nach Aserbaidschan hatten marschieren müssen. Eine Frau | |
kann ich nicht vergessen: Sie irrte mit einem zwei Monate alten Kind in | |
ihren Armen umher. Das Kind war in Windeln eingewickelt – und bei der | |
Flucht erfroren. Beim Anblick dieses Kindes habe ich begriffen, dass es am | |
Ende nicht so wichtig ist zu begreifen, wie sich dieser ganze Konflikt | |
historisch entwickelt hat. Jede Seite hat irgendwo recht. Aber da waren | |
Flüchtlinge, auf beiden Seiten des Konfliktes. Und denen musste geholfen | |
werden. | |
In Moskau sahen das seinerzeit nicht alle so. | |
In Moskau angekommen habe ich berichtet. Und ich kann mich noch an die | |
Zwischenrufer erinnern, die mich mit Worten wie „Sie verwechseln den Henker | |
mit dem Opfer. Die Aserbaidschaner haben Sie gekauft“ unterbrachen. Ich | |
habe ihnen entgegengehalten, dass ein zwei Monate altes Kind kein Henker | |
sein könne. Und ich habe berichtet, dass aus Armenien Aserbaidschaner | |
vertrieben worden seien, die nicht einmal wussten, wo Karabach eigentlich | |
liegt. Das Einzige, was diese Aserbaidschaner wussten, war, wie man Gemüse | |
anbaut. | |
Menschen aus dem Kaukasus, die sich plötzlich in Moskau wiederfanden. | |
Ja. Wenig später, im Januar 1990, tauchten die ersten Flüchtlinge aus Baku | |
in Moskau auf. Es waren Armenier, die seit Generationen in Aserbaidschan | |
gelebt hatten. Und sie hatten berichtet, dass Baku immer eine sehr | |
tolerante Stadt gewesen ist. Doch dann seien die Menschen dort verrückt | |
geworden, Hunderttausende hätten fliehen müssen. Vierzigtausend davon waren | |
in Moskau eingetroffen. Gemeinsam mit anderen, zumeist Frauen, hatte ich | |
dann die Organisation „Zivile Unterstützung“ gegründet, mit der wir | |
Flüchtlingen und Umsiedlern gezielt helfen wollten – die Moskauer Behörden | |
blieben ja untätig. 1996 haben wir dann innerhalb der | |
Menschenrechtsorganisation „Memorial“ ein juristisches Beratungsnetz | |
aufgebaut, „Migration und Recht“. Wir leisten jedes Jahr 20.000 Beratungen. | |
Wir hatten mal in über fünfzig russischen Städten Beratungsstellen, heute | |
sind es nur noch zwanzig. Uns fehlen die Mittel. | |
Und wie kamen Sie in Putins Menschenrechtsrat? | |
2001 hörte ich, dass Präsident Putin einen Menschenrechtsrat ins Leben | |
rufen will, dessen Vorsitz sollte Ella Pamfilowa übernehmen. | |
Sie war zu Jelzins Zeiten Ministerin … | |
… von ihr hatte ich immer eine gute Meinung. Ein weiterer Grund für meine | |
Zusage war der Umstand, dass Putin auf die Forderung, dass wir nur als | |
Gruppe von Menschenrechtlern in diesem Rat mitwirken werden, tatsächlich | |
eingegangen war. | |
Und Sie hatten auch mit Putin selbst gesprochen? | |
Ja. Zu diesem Zeitpunkt standen zwei Gesetzentwürfe auf der Tagesordnung: | |
einer über ausländische Staatsbürger und einer über ein neues | |
Staatsbürgerschaftsrecht. Das war mein Thema, und so bin ich am 10. | |
Dezember 2002 bei dem ersten Treffen unseres Rates mit Putin aufgetreten. | |
Die damals geplante Gesetzesvorlage zur russischen Staatsbürgerschaft war | |
so streng, dass es eigentlich niemandem möglich gewesen wäre, auf der | |
Grundlage dieses Gesetzes die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Und | |
so wären viele unserer Landsleute für immer von ihrer Heimat abgeschnitten | |
gewesen. Nach meinem Vortrag konnte ich mit Putin persönlich sprechen. Und | |
er hatte mir gesagt, dass er das Gesetz unterschreiben werde, obwohl es ihm | |
eigentlich auch nicht gefallen habe. Wenn es nicht funktioniere, könne man | |
es ja immer noch ändern. | |
Tatsächlich? | |
Ja. Gleichzeitig hatte Putin eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die | |
diesen Gesetzentwurf noch einmal überarbeiten sollte. Dank den von uns in | |
dieser Arbeitsgruppe entwickelten Veränderungen konnten zwei Millionen | |
Bürger der ehemaligen Sowjetunion die russische Staatsbürgerschaft | |
erlangen. | |
Die Zusammenarbeit mit Putin war damals effektiv? | |
Ja. Im gleichen Jahr war man in Inguschetien dabei, Flüchtlingslager | |
abzureißen. Man wollte so die tschetschenischen Flüchtlinge zu einer | |
Rückkehr nach Tschetschenien zwingen – dort sei für die Rückkehrer alles | |
vorbereitet. Eine Lüge! Und das haben wir Putin im Menschenrechtsrat auch | |
so gesagt. Und so fragte Putin, ob denn jemand vom Rat bereit wäre, nach | |
Inguschetien zu fahren. | |
Sie fuhren? | |
Gemeinsam mit Ella Pamfilowa, der Menschenrechtlerin Ljudmilla Alexejewa, | |
dem Minister für Wiederaufbau Tschetscheniens und dem stellvertretenden | |
Direktor der Migrationsbehörde fuhr ich nach Tschetschenien. Und vor Ort | |
konnten wir den Staatsbediensteten zeigen, dass es nicht stimmte, dass für | |
eine Rückkehr der Flüchtlinge nach Tschetschenien alles vorbereitet war. | |
Zwar haben wir mit dieser Reise nicht verhindern können, dass die Lager | |
abgerissen wurden, aber wir haben den Abriss der Lager zumindest um | |
anderthalb Jahre verzögern können – und so verhindert, dass die Flüchtlinge | |
einen Winter in der Kälte auf der Straße leben mussten. | |
Wie wirkt Wladimir Putin als Mensch auf Sie? | |
Ich muss sagen, bei den ersten Treffen war ich beeindruckt. Im persönlichen | |
Kontakt war er sehr lebendig, reagierte schnell, konnte sehr liebenswürdig | |
sein. Er gab einem immer das Gefühl, verstanden zu haben und eigentlich | |
auch so zu denken wie man selbst. Nur ein einziges Mal bei insgesamt sechs | |
Treffen habe ich gesehen, dass seine Augen vereisten und er wütend wurde. | |
Das war nach der Verhaftung von Michail Chodorkowski 2003. Immer wenn die | |
Sprache auf Chodorkowski kam, war nichts mehr von seinem wohlwollenden | |
Auftreten übrig. Man spürte, dass es hier um etwas sehr Persönliches ging. | |
2012 haben Sie den Menschenrechtsrat verlassen. | |
Ja. Als er das zweite Mal an die Macht gekommen ist, hat er gegen die | |
Verfassung gehandelt. Denn die sagt eindeutig, dass man nur zwei Perioden | |
hintereinander Präsident Russlands sein kann, Punkt. | |
War das auch das Ende des Kontaktes zu Wladimir Putin? | |
Nein. Danach hatte ich noch zwei Gespräche mit ihm. Das eine Mal war, als | |
ich ihn beim Neujahrsempfang am 10. Dezember 2013 ansprach. Zu diesem | |
Empfang waren Menschenrechtler eingeladen. Ich habe die Gelegenheit | |
genutzt, ihn auf den Gesetzentwurf zu den sogenannten Gummiwohnungen | |
anzusprechen. | |
Gummiwohnungen? | |
So werden Wohnungen bezeichnet, in denen mehrere Personen unbefristet | |
gemeldet sind, obwohl sie gar nicht dort leben. Mit diesem – inzwischen in | |
Kraft getretenen Gesetz – werden Mieter und Vermieter von Gummiwohnungen | |
strafrechtlich verfolgt. Ich habe damals schon gesehen, dass man mit diesem | |
Gesetz gegen viele Unschuldige vorgehen wird. | |
Und Sie haben Wladimir Putin dann direkt darauf angesprochen? | |
Ich stand ihm gegenüber. Er antwortete: „Warum sollte ich mit Ihnen reden? | |
Sie haben ja nicht mal einen Sekt in der Hand.“ Sofort haben sich alle | |
Kellnerinnen auf mich gestürzt und mir Champagner angeboten. „Wladimir | |
Wladimirowitsch. Ich gratuliere Ihnen zum neuen Jahr“, so habe ich das | |
Gespräch angefangen. „Jetzt hören Sie mir aber erst mal zu“, habe ich dann | |
gesagt. „Hat sich der Gesetzgeber mal Gedanken gemacht, wie es dazu kommt, | |
dass sich Leute in Wohnungen unbefristet registrieren lassen wollen, in | |
denen sie gar nicht wohnen?“ Ich wollte deutlich machen, dass Mieter in der | |
Regel nur befristete Registrierungen erhalten. | |
Und dann? | |
„Na ja“, hat er gesagt, „diese Omas, die da ihre Wohnungen fiktiv | |
vermieten, die erhalten doch dafür Geld. Das ist Korruption.“ Nun, habe ich | |
mir gedacht: Minister und andere haben Millionen an Bestechungsgeldern | |
entgegengenommen. Und wenn dann mal eine Oma ein paar Rubel dazuverdient, | |
weil sie jemanden fiktiv bei sich wohnen lässt, dann ist das gleich die | |
große Korruption, die bekämpft werden muss. Ich hatte ihm dann erklärt, was | |
man tun müsse, wenn man nicht wolle, dass irgendwelche Omas sich ein paar | |
Groschen dazuverdienen. | |
Putin sagen, was man tun muss. | |
„Ganz einfach“, habe ich ihm gesagt, „man muss nur die Vorschrift, eine | |
unbefristete wohnbehördliche Anmeldung sei eine Voraussetzung zur Erlangung | |
der russischen Staatsbürgerschaft, abschaffen. Und schon wird sich niemand | |
um eine fiktive Adresse bemühen. Es ist doch bekannt, dass die Menschen | |
eine fiktive unbefristete Anmeldung nur deswegen kaufen, weil sie anders | |
keine Staatsbürgerschaft beantragen können. Im Gesetz heißt es sogar, dass | |
eine wohnbehördliche Registrierung keine Voraussetzung für die Wahrnehmung | |
eines Rechtes sein darf.“ „Ja“, sagte Putin, zu seinem Mitarbeiter gewand… | |
„ich glaube, sie hat recht. Wir sollten noch mal darüber nachdenken, bevor | |
wir das Gesetz verabschieden.“ | |
Wieder hat er auf Sie gehört? | |
Nein. Drei Tage später ging der Gesetzentwurf in zweiter und dritter Lesung | |
durch die Duma, und eine Woche später durch den Föderationsrat. Und am 25. | |
Dezember unterschrieb Putin. Er hat das Gesetz so unterschrieben, wie es | |
eingebracht worden war. Wie kann ich denn Beraterin von einem Menschen | |
sein, der sich nicht beraten lassen will? | |
Und Medwedjew, der Ministerpräsident? | |
Medwedjew ist wahrscheinlich kein schlechter Mensch. Er hätte diese vier | |
Jahre nutzen sollen, um sich seine Mannschaft aufzubauen. Aber Medwedjew | |
ist nun mal ein treuer Diener von Putin und deswegen keine eigenständig | |
handelnde Figur. | |
Und Nawalnij, der wichtigste Oppositionelle, was halten Sie von ihm? | |
Nawalnij ist für mich unakzeptabel. Er ist ein Nationalist. Er lügt | |
ständig, spricht von angeblich hohen Kriminalitätsraten unter Migranten. | |
Das Einzige, was ich von seinem Programm weiß, ist, dass er eine | |
Visapflicht für Bürger aus Zentralasien einführen will. Und das war das | |
Erste, worüber er in einem streitsüchtigen Ton gesprochen hat, als wir uns | |
eigentlich aus einem ganz anderen Anlass getroffen haben. Wie kann man nur | |
eine Visapflicht mit einem Land einführen, mit dem man keine echte Grenze | |
hat? Dass führt doch dazu, dass noch mehr Menschen sich in Russland illegal | |
aufhalten werden. Auch seine Art, wie er bei Demonstrationen Mengen | |
aufheizt mit einem „Ja oder Nein“ weckt in mir unangenehme Assoziationen. | |
Zu Anfang sprachen wir über Ihre Rolle als Frau und Mutter – inzwischen | |
sind Sie ständig unterwegs, während Ihr Mann zu Hause auf Sie wartet … | |
… ja, heute ist es Schenja, der für uns kocht und den Haushalt macht! Er | |
steht schon an der Türe, wenn er hört, dass ich nach Hause komme. Ich | |
bedauere es sehr, dass ich so wenig Zeit mit ihm verbringen kann. Drei Mal | |
in der Woche haben wir von der „Zivilen Unterstützung“ in unserem Büro auf | |
dem Olimpiskij-Prospekt Migrantenberatung. Und an diesen drei Tagen komme | |
ich selten vor 22 Uhr nach Hause. Dann essen Schenja und ich kurz zu Abend | |
und anschließend erledige ich meine Korrespondenz, schreibe Berichte, | |
organisiere Seminare … | |
Auch solche auf der Krim, die Ihre Partner dort in russischer | |
Rechtsprechung weiterbilden – obwohl sie die Annexion der Krim kritisiert | |
haben. Ist das nicht ein Widerspruch? | |
Auf unseren Seminaren unterrichten Juristen unsere Mitarbeiter über die | |
Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit dem Europäischen Menschengerichtshof | |
in Straßburg und über Geschworenengerichte. In der Ukraine gibt es keine | |
Geschworenengerichte. Und der Europäische Menschenrechtsgerichtshof ist | |
eine unserer letzten Hoffnungen. Das ist ein funktionierender Mechanismus. | |
Und deswegen denke ich, dass jeder Jurist wissen muss, wie man mit dem | |
Europäischen Menschenrechtsgerichtshof arbeiten kann. Ich denke daher, dass | |
wir nichts Schlechtes tun, wenn wir Krim-Anwälte unterrichten, wie man mit | |
dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zusammenarbeiten kann. Da geht | |
es ja um Klagen gegen Russland. Und es ist uns wichtig, dass unsere Anwälte | |
verstehen, mit Geschworenengerichten zu arbeiten. Russische Gerichte | |
sprechen in 0,48 Prozent aller Fälle frei. Bei Geschworenengerichten liegen | |
die Chancen immerhin bei 13 Prozent. | |
Haben Sie nicht schon mal daran gedacht, einfach aufzuhören? Andere haben | |
mit 75 einen ruhigeren Tagesablauf. | |
Ach, machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Ich habe meine | |
Erfolgserlebnisse. Das Wissen, ganz konkreten Menschen geholfen zu haben, | |
gibt mir viel Kraft. Kürzlich zum Beispiel hatte ich eine Tschetschenin bei | |
uns in der Beratung. Sie ist 21 Jahre alt und lebt schon seit sechs Jahren | |
in Deutschland, spricht besser Deutsch als Tschetschenisch oder Russisch. | |
Mit ihrer Familie hatte sie gebrochen. Doch eines Tages hatte sie einen | |
Anruf von ihrer Mutter erhalten, direkt aus Tschetschenien. Man habe große | |
Sehnsucht nach ihr. Ob sie nicht einmal für zwei Wochen vorbeikommen wolle, | |
bat die Mutter. Und die junge Frau hatte sich überreden lassen. Dort | |
angekommen, nahmen Mutter und Brüder ihr den Pass ab und vernichteten | |
diesen. Dann wurde sie in einem Zimmer eingesperrt. Sie habe durch ihr | |
Verhalten das Ansehen der Familie geschändet, eröffneten Mutter und Brüder | |
ihr. Sie habe die Ehre der Familie geschändet. Sie waren im Begriff, die | |
Frau erneut zwangszuverheiraten oder sie zu töten. | |
Und was haben Sie getan? | |
Wir haben dieser Frau geholfen, und so lebt sie inzwischen wieder in | |
Deutschland. Durch unsere Arbeit ist sie noch am Leben, und das ist keine | |
Übertreibung. Sie ist nicht die einzige Frau, die im Westen lebte, von | |
ihren Verwandten entführt worden ist und sich dann an uns gewandt hat. In | |
Deutschland werden derartige Eltern nicht verurteilt. Ich kann mich nur | |
wundern, wie man so tolerant gegenüber Intoleranz sein kann. | |
Ihre eigenen Kinder sind jetzt in Amerika. Sie leben ihr Leben, wie sie | |
wollen … | |
Das macht mich sehr traurig. Ich habe bis heute ihre Ausreise innerlich | |
nicht akzeptiert. Aber ich verurteile sie nicht, es war ihre Entscheidung. | |
Nur, mir fällt es sehr schwer, diese Entscheidung zu akzeptieren. | |
26 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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