# taz.de -- Wohnungsmarkt in Russland: Kein Recht mehr auf Wohnen | |
> In Russland gibt es erst seit 1991 einen freien Wohnungsmarkt. | |
> Hunderttausende Wohnungskäufer sind Opfer zwielichtiger Bauträger | |
> geworden. | |
Bild: Neue Wohntürme in Odinzowo, sechs Kilometer westlich von Moskau | |
Ufa, Hauptstadt der Republik Baschkortostan. Die Zelte stehen gut sichtbar | |
an einer Ausfallstraße. Gegen die Kälte der Nacht haben die Männer eine | |
Holzhütte gebaut, umhüllt mit Plastikplanen. Drinnen gibt es einen Ofen, | |
eine Kochecke und ein paar Liegen. | |
50 Wohnungskäufer, die seit Jahren darauf warten, in die Siedlung | |
Milowskipark einziehen zu können, hatten das improvisierte Camp im | |
vergangenen Sommer organisiert. 80 Tage harrten sie gemeinsam in ihren | |
Zelten aus, um die lokalen Behörden auf sich aufmerksam zu machen. Sie sind | |
Opfer eines Wohnungsbaubetrugs mit insgesamt mehr als 1.200 Geschädigten. | |
Nicht nur in der Eine-Million-Einwohner-Stadt Ufa werden viele Viertel | |
durch solche unfertigen Siedlungen oder ganze Reihen von Bauruinen | |
verunstaltet. Man findet sie in der gesamten Russischen Föderation: Am 18. | |
Dezember 2020 veröffentliche das Bauministerium eine Liste von 2.910 | |
unfertigen Gebäuden, an denen nicht mehr gebaut wird.1 Sie stehen in 73 der | |
85 russischen Regionen, und von dem Baustopp sind etwa 200.000 Personen | |
betroffen.2 Eine von ihnen ist die 60-jährige Ljubow Poslawskaja, die | |
Chefköchin des Protestcamps von Ufa. | |
Anfang Oktober, die Stadt hatte ihr Herbstkleid angelegt, zeigte sie uns | |
ihre Handyfotos von den langen Tischen, auf denen sich Berge von Blini | |
türmten, und erzählte, wie sie jeden Abend singend am Lagerfeuer gesessen | |
hatten. „Es gab auch glückliche Momente, wir waren wie eine Familie. Es gab | |
viel Solidarität. Befreundete Künstler haben für uns ein Spendenkonzert | |
veranstaltet, Unbekannte hielten an, um ihre Hilfe anzubieten und brachten | |
Kartoffeln oder Melonen vorbei.“ Es waren ermutigende Tage – nach einem | |
seit Jahren vergeblich geführten Kampf. | |
## Zu Sowjetzeiten wohnte man fast umsonst | |
Zu Sowjetzeiten wohnte man fast umsonst. Allerdings musste man auf die | |
offiziell zugeteilten Quadratmeter oft jahrelang warten. Die Warmmieten | |
machten kaum 3 Prozent des Durchschnittseinkommens aus, aber dafür lebten | |
die meisten Menschen auch beengt, oft mit mehreren Generationen in | |
Gemeinschaftswohnungen, den sogenannten Kommunalkas. Erst nach der Wende | |
machten die russischen Familien ihre Erfahrungen mit den Fallstricken des | |
freien Wohnungsmarkts. | |
Die Geschichte der Poslawskis ist eine von vielen. „Es begann mit der | |
Einzimmerwohnung, die meine Großmutter vom Staat bekam“, erzählt Ljubow | |
Poslawskaja. Als ihre Mutter Hauptmieterin der Wohnung wurde, in der sie | |
aufgewachsen war, tauschte sie die Einzimmerwohnung gegen eine etwas | |
größere. Auf diese Weise zog sie mehrmals um. Da man in der UdSSR keine | |
Wohnungen kaufen durfte, lief alles über Tausch, manchmal über eine Kette | |
von einem Dutzend Wohnungen. So konnten viele Familien ihre | |
Wohnverhältnisse deutlich verbessern. | |
Die meisten standen jedoch auf langen Wartelisten und hofften so, ein paar | |
Quadratmeter mehr zu bekommen. Kinderreiche Familien oder Kriegsveteranen | |
sollten bevorzugt behandelt werden. So auch Poslawskajas Bruder, der 1986 | |
aus dem Afghanistankrieg zurückgekehrt war. | |
Doch dann verschwand die UdSSR 1991 von der politischen Landkarte. Zwar | |
garantierte Russland als Nachfolgestaat die unter dem vorherigen Regime | |
erworbenen Rechte. Aber diese auch durchzusetzen, wurde immer schwieriger. | |
Die neuen Behörden schafften sie zwar nicht ab, doch sie versuchten, | |
Wohnungszusagen durch einmalige Entschädigungen auszulösen. Poslawskajas | |
Bruder wurden 2013 nach 27 Jahren Wartezeit 530.000 Rubel (damals 12.520 | |
Euro) zugesprochen, die er sofort seiner Schwester lieh, weil die für ihren | |
Sohn eine Wohnung kaufen wollte. | |
## Staatsbeihilfen und Förderung durch Großbanken | |
Sieben Jahre später wohnen die beiden immer noch in der von der Mutter | |
geerbten Wohnung. „Wir sitzen nicht auf der Straße“, tröstet sie sich, | |
„aber viele Opfer dieses Immobilienbetrugs sind in einer kritischen Lage. | |
Die Leute haben sich verschuldet, sie müssen gleichzeitig den Kredit und | |
die Miete für eine Wohnung bezahlen. Der Staat muss etwas tun.“ | |
Poslawskaja und ihre Mitstreiter von der Eigentümerinitiative hatten | |
niemals mit dem gerechnet, was sie in den darauf folgenden Jahren erleben | |
sollten. Zur Grundsteinlegung für die Siedlung Milowskipark war noch der | |
Präsident der Republik Baschkortostan, Rustem Chamitow, persönlich | |
erschienen. Kinderreiche Familien, Kriegswaisen, Veteranen, Hunderte von | |
Menschen aus einfachen Verhältnissen hatten hier eine Wohnung gekauft, die | |
dank diverser Staatsbeihilfen, vor allem des Programms „Wohnraum für eine | |
russische Familie“, relativ billig war. Auch die Förderung durch große | |
russische Banken wie der Sberbank oder der Rosselchosbank stimmte | |
zuversichtlich. | |
Heute bieten die unvollendeten Gebäude einen erbärmlichen Anblick. Keine | |
Schule, kein Geschäft, kein Café, keine Spur von der ursprünglich geplanten | |
Infrastruktur. Von 35 Wohnblöcken sind nur sieben fertig und bewohnt. Von | |
den 28 übrigen sind manche zu 85 Prozent fertiggestellt, andere haben erst | |
ein oder zwei Etagen. Bei einigen ist nur das Fundament vorhanden. | |
Ziegelstapel oder Zementsäcke zeugen vom plötzlichen Abbruch der | |
Bauarbeiten. | |
Schuld daran ist ein Finanzierungssystem, bei dem das Risiko auf die Käufer | |
abgewälzt wird. Der Verkauf der Wohnungen erfolgt auf Grundlage eines | |
„Beteiligungsvertrags am gemeinsam finanzierten Bau“. Die Käufer werden zu | |
Co-Investoren, die dem Bauträger das Geld vorschießen. Dafür zahlen die | |
künftigen Eigentümer pro Quadratmeter 20 bis 40 Prozent weniger als für | |
eine fertige Wohnung. Für den Bauträger hat dies den Vorteil, dass er keine | |
Kredite aufnehmen muss. Mit diesem Finanzierungsmodell, das 2017 noch bei | |
80 Prozent der neuen Eigentumswohnungen angewandt wurde, konnte man die | |
anfänglichen Schwächen des russischen Bankensystems umgehen. Das Modell sah | |
jedoch keinerlei rechtliche Absicherung und keinen Schutz für die Käufer | |
vor. | |
## Zurück blieben 20.000 verzweifelte Familien | |
Im Laufe der Jahre summierten sich die Fälle von schlechter | |
Kostenkalkulation, Bankrott von Baufirmen und organisiertem Betrug samt | |
Korruption und Bestechung. Seit Anfang der 2000er Jahre spricht man von den | |
„betrogenen Investoren“, die eine Wohnung bezahlt haben, von der sie nie | |
etwas zu sehen bekommen. Nach der Finanzkrise von 2008 nahm die Zahl der | |
Firmenpleiten noch zu und entsprechend wuchs die Zahl der Geschädigten. | |
Der spektakulärste Fall war die Insolvenz der Urban Group, des größten | |
Bauunternehmens in der Region Moskau. Zurück blieben 20.000 verzweifelte | |
Familien, Schulden von 70 Milliarden Rubel (945 Millionen Euro) und 3,5 | |
Millionen Quadratmeter Bauruine. Die „betrogenen Investoren“ organisierten | |
sich in allen Großstädten des Landes. Mit Meetings, Mahnwachen, | |
Protestcamps und Hungerstreiks wollten sie auf sich aufmerksam machen. Die | |
lokalen Medien berichteten regelmäßig über betrügerische Verkäufe, die für | |
die Käufer und deren Familien mit einer finanziellen Tragödie endeten. | |
Auch Nikita Sinzow hat 2014 eine Wohnung in der Siedlung Milowskipark | |
erworben: 60 Quadratmeter für 2,05 Millionen Rubel (40.235 Euro). Der | |
Koordinator der Eigentümerinitiative Milowskipark erinnert sich noch gut an | |
den Beginn der Bauarbeiten. „Die ersten Häuser wurden sehr schnell | |
hochgezogen. Das war das Schaufenster der Siedlung. Die Leute fuhren vorbei | |
und sagten sich: Das läuft gut, hier können wir kaufen.“ 2016 wurde die | |
Bautätigkeit eingestellt. Ende 2018, unmittelbar vor der | |
Präsidentschaftswahl in Baschkortostan, wurde sie vorübergehend wieder | |
aufgenommen. Seitdem ist nichts mehr passiert. | |
## Einsame Mahnwache als einzig mögliche Protestform | |
Sinzow steht vor der imposanten, renovierten Fassade des Regierungsgebäudes | |
aus Sowjetzeiten. Er weiß selbst nicht mehr, wie viele Stunden er hier | |
schon allein mit seinem Plakat gestanden hat. Eine solche Mahnwache ist die | |
einzige spontane Protestform, die in Russland geduldet wird; bereits das | |
Auftreten von zwei Personen gilt als Versammlung und bedarf der | |
Genehmigung. | |
„Das alles machte mich so müde“, stöhnt Simzow. „Doch leider tut sich n… | |
etwas, wenn wir Lärm machen.“ Besonders ungerecht findet er, dass „die | |
Gauner“ von Kilstroiinvest, dem Bauträger des Milowskiparks, nicht bestraft | |
werden. „Die drei Chefs sind nicht mal im Gefängnis. Einer hat Hausarrest, | |
die anderen stehen unter gerichtlicher Aufsicht.“ | |
Die Behörden haben zwar schon mehrfach versucht, strengere Regeln | |
durchzusetzen. Es gab auch Gesetzesänderungen mit dem Ziel, den | |
„Käufer-Investoren“ größeren Schutz zu gewähren. Seit 2004 ist es dem | |
Bauträger verboten, Geld einzusammeln, bevor er alle Baugenehmigungen | |
erhalten hat. Seit 2010 regelt ein neues Föderationsgesetz die formalen | |
Anforderungen eines Kaufvertrags. Das hat den Betrug jedoch nicht | |
verhindert, denn die zwielichtigen Bauträger sind schneller als die | |
Behörden. So schaffen sie es immer, die Schwachstellen des Systems | |
auszunutzen. Davon kann die Eigentümerinitiative Iglino ein Lied singen. | |
## Notunterkunft in der Datsche | |
„Unser Bauherr hat die Baugenehmigungen gefälscht, und das Kontrollamt hat | |
es nicht bemerkt“, erzählt eine Geschädigte. Die 54-jährige Mutter wohnt | |
jetzt in einer Datsche außerhalb der Stadt. Sie ist überzeugt, dass die | |
regionalen Behörden mit dem Unternehmer unter einer Decke steckten. „So | |
einen Betrug hätte er nicht ohne Komplizen an der richtigen Stelle | |
organisieren können.“ Sie möchte ihren Namen lieber nicht nennen, denn sie | |
hat schon Drohungen erhalten. | |
Die 41-jährige Marina und ihr Mann haben 2009 in Ufa für 2,8 Millionen | |
Rubel (63.450 Euro) eine Wohnung in der riesigen Merkur-Anlage gekauft. Sie | |
wohnten mit ihrer Tochter genau gegenüber und konnten aus dem Fenster den | |
Beginn der Bauarbeiten verfolgen. Die 20-stöckigen Hochhäuser sollten dem | |
Viertel ein neues Gesicht geben. Um das Geld aufzubringen, verkaufte das | |
Paar eine Einzimmerwohnung, die Marinas Schwiegereltern 1999 gekauft | |
hatten, und zog in eine Mietwohnung. „Seitdem bezahlen wir 15.000 Rubel | |
Miete. Wir wollten was Größeres und vielleicht auch noch mehr Kinder | |
bekommen. Unsere Tochter war damals 9 Jahre alt, jetzt ist sie 20 und geht | |
an die Universität. Es kommt uns vor, als würden wir seit elf Jahren auf | |
gepackten Koffern sitzen.“ | |
Die meisten Opfer fühlen sich von den Behörden im Stich gelassen. Weil sie | |
nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen, bitten viele verzweifelte | |
Wohnungskäufer Präsident Putin um Hilfe, der ihrer Meinung nach als | |
Einziger das Problem lösen kann. In Ufa-Merkur stand an der Fassade eines | |
unvollendeten Hauses in riesigen Lettern: „Putin, hilf uns!“ Bis 2019, dann | |
wurde die Fassade gestrichen und die Parole ist weg. Aber Marinas Wohnung | |
ist immer noch nicht fertig. „Ich verstehe es nicht“, sagt sie, „Wir sind | |
doch anständige Bürger. Meine Tochter hat ehrenamtlich für die Stadt | |
gearbeitet.“ | |
## Sowjetische Kommunalkas in großbürgerlichen Häusern | |
Der Konflikt um die „besorgten Investoren“ ist gesellschaftlich deshalb so | |
brisant, weil das Recht auf Wohnen seit der Russischen Revolution als | |
Menschenrecht gilt. Jeder Familie sollte eine eigene Wohnung zur Verfügung | |
stehen, lautete das Ideal zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten | |
Weltkrieg wurde die Forderung immer lauter und Ende der 1950er Jahre | |
versprach die KPdSU, das Ziel bis 1980 erreicht zu haben. | |
Damals wohnten in den Kommunalkas in den ehemals großbürgerlichen Häusern | |
in den historischen Stadtzentren noch mehrere Familien auf engstem Raum | |
zusammen; Barackenlager am Stadtrand waren weit verbreitet. Doch nun begann | |
das große Bauen. Es war die Zeit der fünfstöckigen Plattenbauten, | |
Chruschtschowkas genannt. Zwischen 1955 und 1970 verdoppelte sich in der | |
UdSSR die Zahl der Stadtwohnungen, 127 Millionen Menschen zogen um, die | |
Hälfte der damaligen Bevölkerung.3 | |
Trotz des Baubooms riss die Nachfrage nicht ab. Als die Sowjetunion 1990 am | |
Ende war, wartete immer noch jede vierte Familie auf eine eigene Wohnung. | |
Die Partei hatte ihr Versprechen nicht gehalten, aber doch Erwartungen | |
geweckt, die den Übergang zum Privateigentum und zum Immobilienmarkt | |
überdauerten, aber nur schlecht zu der neuen ökonomischen Realität passten. | |
1991 verkündete der Staat die kostenlose Privatisierung der Wohnungen. | |
Jeder Bürger konnte einen Eigentumstitel für die Wohnung erhalten, in der | |
er wohnte. | |
## Kostenlose Privatisierung nach 1991 | |
Aufgrund der sehr unterschiedlichen Qualität der Wohnungen funktionierte | |
die Privatisierung nicht wie erwartet. Die Regierung verlängerte mehrmals | |
die Frist. Aus Furcht vor hohen Unterhaltskosten hielten sich die Bewohner | |
baufälliger Wohnungen zurück, zumal wenn sie auf der Warteliste für eine | |
neue Wohnung standen. 2009 waren 75 Prozent der Moskauer Wohnungen | |
privatisiert, zehn Jahre später lag der Anteil bei 88,6 Prozent.4 | |
Parallel dazu versuchte der Staat ab 1992 Hypothekenkredite wie in den USA | |
einzuführen. Auch das ohne großen Erfolg. 2001 und 2002 gab es kaum 10.000 | |
Immobilienkredite über eine Gesamtsumme von lediglich 5 Milliarden Rubel | |
(152 Millionen Euro). In diesen zwei Jahren hat sich das Volumen immerhin | |
fast verdoppelt. Das Wachstum beschleunigte sich zwar – 2004 lag das | |
Kreditvolumen bei 25 bis 30 Milliarden Rubel5 –, aber der Staat wollte | |
mehr. 2007 versprach der russische Präsident, „den Markt zu zivilisieren“, | |
also den Bausektor zu regulieren und zu fördern. Der Wohnungsbau wurde zur | |
„nationalen Priorität“ erklärt. | |
Als ein Hebel war auch das 2006 eingeführte Mutterschaftskapital zur | |
Anhebung der Geburtenrate6 konzipiert. Das Gesetz sah eine Einmalzahlung | |
von 250.000 Rubel (damals 7.139 Euro, heute 2.786 Euro) für das zweite – | |
adoptierte oder eigene – Kind vor. Die Mütter können selbst entscheiden, ob | |
sie das Geld in die Verbesserung ihrer Wohnsituation, die Ausbildung ihrer | |
Kinder oder in ihre Altersvorsorge investieren wollen. Nachdem zunächst | |
vorgesehen war, die Leistung erst nach dem dritten Lebensjahr des zweiten | |
Kindes auszuzahlen, beschloss die Regierung im Januar 2009, dass das | |
Mutterschaftskapital auch sofort überwiesen werden kann, falls mit dem Geld | |
ein Wohnungskredit bedient wird. | |
## Mutterschaftskapital als Anzahlung für eine Hypothek | |
In einer groß angelegten Kampagne wurde direkt dafür geworben, das | |
Mutterschaftskapital als Anzahlung für eine Hypothek zu verwenden. „Wir | |
müssen Bedingungen schaffen, damit so viele Bürger wie möglich neue | |
Wohnungen kaufen und mit eigenen Mitteln, vor allem über Hypotheken, ihre | |
Lebensbedingungen verbessern können“, erklärte der damalige | |
Ministerpräsident Putin im Februar 2010 bei einer Sitzung des | |
Föderationsrats über die nationalen Prioritätsprojekte. | |
Trotz all dieser Bemühungen entsprach das Volumen der ausgegebenen | |
Hypothekenkredite in Russland 2019 nur 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts | |
(BIP). In den USA und in der Bundesrepublik entspricht es etwa der Hälfte | |
des jährlichen BIPs, in Frankreich 44 Prozent, in osteuropäischen Staaten | |
wie Polen oder Tschechien 20 bis 30 Prozent. Die russischen Haushalte | |
wollen sich nicht langfristig verschulden. Das ist verständlich angesichts | |
der hohen Zinsen und des unsicheren ökonomischen Umfelds nach der | |
Finanzkrise von 2008 und den Sanktionen der USA und EU, die bewirkt haben, | |
dass seit 2014 für einen Großteil der Bevölkerung die Einkommen schrumpfen. | |
Nach 30 Jahren Marktwirtschaft ist die Bilanz der Wohnverhältnisse sehr | |
gemischt. Der Anteil von Miete und Nebenkosten am Budget der | |
Privathaushalte hat sich nach Zahlen der staatlichen Statistikbehörde | |
Rosstat zwischen 2000 und 2019 fast verdreifacht – von 6 auf 16 Prozent. | |
Hinzu kommen die Kredite, die in dieser Statistik nicht berücksichtigt | |
werden. Während die Kosten explodieren, wächst die durchschnittliche | |
Wohnfläche pro Person nur langsam. 1995 waren es laut der | |
Nachrichtenagentur Tass 18 Quadratmeter pro Person, 2019 erst 26 | |
Quadratmeter – in Deutschland standen in demselben Jahr einer Person | |
durchschnittlich 47 Quadratmeter zur Verfügung, in den USA sogar 70. | |
## Schutzfonds für die Beteiligung an den Baukosten | |
Der Staat konnte sein Versprechen, die Wohnungsfrage mit Subventionen auf | |
dem Immobilienmarkt zu lösen, also nicht einhalten. Deshalb wurde versucht, | |
wenigstens die gravierendsten Probleme anzugehen. 2017 wies Putin die | |
Regierung an, das Problem der „betrogenen Investoren“ binnen drei Jahren zu | |
lösen. | |
Als Erstes wurde ein Schutzfonds für die Beteiligung an den Baukosten | |
eingerichtet. In diesen Fonds müssen die Bauträger 1,2 Prozent der | |
jeweiligen Kaufsumme einzahlen. Des Weiteren sollen regionale Fonds dafür | |
sorgen, dass – je nach der spezifischen Situation vor Ort – unterbrochene | |
Bauarbeiten vollendet oder die Opfer finanziell entschädigt werden. | |
Der Staat hat auch das Finanzierungssystem reformiert. Die Kaufsumme soll | |
nicht mehr gleich direkt an den Bauträger gehen, sondern erst auf einem | |
Treuhandkonto geparkt werden. Das entsprechende Gesetz trat am 1. Juli 2019 | |
in Kraft. Die Bank finanziert die Ausgaben des Bauträgers nach einem vorab | |
vereinbarten Budget, doch die Kaufsumme wird erst nach dem Einzug in die | |
Wohnung überwiesen. Auch wenn die Baukosten dadurch gestiegen sind, sei mit | |
diesem System das Problem des Wohnungsbaubetrugs „auf dem besten Weg, | |
gelöst zu werden“, meint Natalja Subarewitsch, Professorin für Geografie an | |
der Moskauer Lomonossow-Universität und Direktorin des unabhängigen | |
Instituts für Sozialpolitik. | |
## Subvention für Hypotheken | |
Außerdem setzt die Regierung auf Neuverschuldung als Mittel zur | |
„Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung“. Im April 2020 hat | |
Putin angekündigt, dass man Hypotheken subventionieren will, um die Zinsen | |
für den Kauf einer Neubauwohnung auf 6,5 Prozent zu begrenzen. Einige | |
Monate zuvor hatte er in seiner Neujahrsansprache an die Nation erklärt, | |
das Mutterschaftskapital werde auch für das erste Kind gewährt und jährlich | |
erhöht. Derzeit beträgt es 483.800 Rubel (5.380 Euro) für das erste Kind | |
und 639.400 Rubel (7.111 Euro) für das zweite Kind oder 155.600 Rubel | |
(1.730 Euro), wenn die Familie bereits ein Mutterschaftskapital für das | |
erste Kind erhalten hat. Insgesamt plant der Staat für 2021 die Auszahlung | |
von 443,3 Milliarden Rubel (5,08 Milliarden Euro) Mutterschaftskapital | |
(2010 waren es 97 Milliarden Rubel). | |
„Durch diese Maßnahmen gibt es zwar eine größere Nachfrage nach Hypotheken, | |
aber wegen der steigenden Preise wird weniger gebaut“, stellt | |
Subarewitsch fest. Besonders angespannt ist der Markt in Moskau und Sankt | |
Petersburg, aber auch im Süden der Russischen Föderation. „Seit einigen | |
Jahren gibt es eine starke Binnenmigration in diese drei Gebiete“, | |
beobachtet die Expertin für Sozialgeografie. Familien, die umziehen, müssen | |
eigentlich immer einen Kredit aufnehmen, um die Differenz bei den | |
Immobilienpreisen auszugleichen. | |
Und die Banken freuen sich über dieses Eldorado der wachsenden | |
Immobilienkredite. „Im Vergleich zu anderen Ländern sind wir noch auf einem | |
sehr geringen Verschuldungsniveau. Da ist noch Luft nach oben“, meint | |
Natalja Orlowa, Chefökonomin der Alfa Bank. „In den nächsten Jahren hat das | |
Land keine andere Wahl: Die Bevölkerung muss mehr Kredite aufnehmen, wenn | |
sie ihren Lebensstandard halten will.“ | |
## Kein Schutz mehr vor Wohnungslosigkeit | |
Schon seit einigen Jahrzehnten untergräbt das neue Zivil- und Handelsrecht, | |
das den Ausbau der Immobilienkredite begleiten soll, die aus Sowjetzeiten | |
geerbten sozialen Garantien. Viele Russen gehen immer noch davon aus, dass | |
sie nicht aus ihrer Wohnung rausgeworfen werden können, wenn sie nachweisen | |
können, dass sie keinen anderen Ort zum Wohnen haben. Dass dieser Schutz | |
seit 2004 nicht mehr für Immobilien gilt, die mit einer Hypothek belastet | |
sind, ist anscheinend kaum bekannt. | |
Seit einem Urteil des obersten Gerichts von 2019 können bei einem laufenden | |
Überschuldungsverfahren außerdem Wohnungen gepfändet werden. Dafür genügt | |
der Beweis, dass die Betroffenen mit dem Erlös aus dem Zwangsverkauf und | |
beglichenen Schulden eine ausreichend große Wohnung erwerben können. | |
Die Anzahl der gepfändeten Wohnungen steigt von Jahr zu Jahr. Laut der | |
Bundesvereinigung der Gerichtsvollzieher ist sie zwischen 2015 und 2019 von | |
326.447 auf 551.776 gestiegen. Und wenn das Kreditvolumen weiter so wächst, | |
wird sich diese Kurve kaum abschwächen. | |
Während die Regulierungen in der Bauträgerbranche und die Entschädigung der | |
betrogenen Verbraucher die Hoffnung nähren, dass der russische | |
Immobilienmarkt endlich gebändigt wird, könnte durch die zunehmenden | |
Privatverschuldungen bald ein ebenso brutaler, wenn auch legaler Markt | |
entstehen. Die „betrogenen Investoren“ haben sich organisiert. Es fragt | |
sich nur, ob das auch die überschuldeten Familien schaffen, deren Wohnung | |
gepfändet wurde. Im Widerwillen der Russen gegen Immobilienkredite liegt | |
wohl auch eine böse Vorahnung. | |
1 „Einheitsregister problematischer Objekte“ (auf Russisch), Einheitliches | |
Informationssystem über den Wohnungsmarkt, Bauministerium. | |
2 Finmarket, 3. April 2020, www.finmarket.ru. | |
3 Jane R. Zavisca, „Housing the New Russia“, Ithaca und London (Cornell | |
University Press) 2012. | |
4 Kommersant, Moskau, 4. Juli 2016. | |
5 Hélène Richard, „Du troc au marché: le marché immobilier à Moscou“, | |
Autrepart, Bd. 48, Paris 2008. | |
6 Die Geburtenrate in Russland lag 2006 bei 10,4 pro 1.000 Einwohner. | |
Zwischen 2010 und 2015 kam es zu einem leichten Anstieg (13,3), bis sie | |
2017/18 wieder auf 11,5 sank. | |
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz | |
12 Apr 2021 | |
## AUTOREN | |
Estelle Levresse | |
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