| # taz.de -- Politische Gefangene in Russland: Im Haftlager für „Politische“ | |
| > Moskaus Polizeiwachen sind nach den Nawalny-Protesten überfüllt. | |
| > Festgenommene werden in ein zum Gefängnis umfunktioniertes Gebäude auf | |
| > dem Land gebracht. | |
| Bild: Boris blickt nach zehn Tagen Haft auf eine grauenvolle Zeit zurück | |
| Sacharowo taz | Die Schnürsenkel hat er irgendwo hinter schweren Türen | |
| gelassen. Boris hat in den vergangenen Tagen viele schwere Türen aufgehen | |
| sehen und zuklappen hören. Er hat ohnehin vieles erfahren, „was ich mir nie | |
| ausgemalt hätte“, wie der 33-Jährige sagt, hier auf einem Parkplatz voller | |
| verschneiter Autos, hinter sich den Stacheldraht und seine „beschissene | |
| Zeit“ im Block A einer Spezialhaftanstalt für fast 1.000 Festgenommene nach | |
| den Protesten für die [1][Freilassung des Oppositionspolitikers Alexei | |
| Nawalny]. | |
| Er atmet die frostige Luft ein, atmet aus, seine Brille beschlägt ein | |
| wenig. Freiheit. „Fühlt sich unwirklich an.“ Boris umarmt seine Freundin | |
| Galina, umarmt seinen Kumpel Sergei, geht ein paar Schritte. Der Schnee | |
| knirscht unter seinen Schuhen, in denen Mullstreifen als | |
| Schnürsenkel-Ersatz stecken. | |
| Zehn Tage war der Programmierer in Haft, weil er an einem Januarnachmittag | |
| [2][in Moskau auf die Straße ging] – „für die Idee eines freien und offen… | |
| Russland“. Wie so viele andere im ganzen Land, die nach der Verhaftung | |
| Nawalnys dem Staat zeigen wollten: So geht es nicht. | |
| Der Staat ließ die Protestierenden auf seine Weise wissen, dass er keinen | |
| solchen Unmut duldet. Er schlug zu, wahllos, brutal. Boris fand sich an | |
| einer Mauer in einem Moskauer Hinterhof wieder, neben sich andere junge | |
| Männer, hinter sich Omon-Sonderpolizisten. Er spürte Stromschläge eines | |
| Elektroschockers, schleppte sich schließlich in einen | |
| Gefangenentransporter. Stunden verbrachte er auf einer Polizeiwache, nur | |
| Minuten vor einem Richter, sechs Tage in einer Arrestzelle im Südosten | |
| Moskaus. Bis er hierher kam, nach Sacharowo. „Ein politisches KZ“, wie | |
| manche russische Medien schreiben. | |
| ## Nachts kommt der Gefangenentransport | |
| Sacharowo ist ein Dorf wie so viele andere in Russland. Holzhäuser und | |
| Datschen-Villen schmiegen sich an die Trasse gen Südwesten, knapp 60 | |
| Kilometer und eineinhalb Autofahrstunden von Moskau entfernt. 70 Menschen | |
| sollen in dem Ort wohnen, gezählt wurden sie seit zehn Jahren nicht mehr. | |
| 2015 eröffnete am Dorfrand das sogenannte Multifunktionszentrum für | |
| Migranten. Hier, im modernen Zweigeschosser, bekommen Ausländer*innen | |
| ihre Arbeitsgenehmigungen, können ihre Aufenthaltserlaubnis oder die | |
| russische Staatsbürgerschaft beantragen. Weiter im Wald ragt ein Wachturm | |
| in die Luft. Stacheldraht umgibt die gelben Gebäude. „Abschiebehaft für | |
| Migranten“, steht auf einem roten Schild. „ZWSIG“ nennen es die Behörden. | |
| Russische Bürger*innen haben nur Zutritt zum Gelände, um auf das Ende | |
| eines Verfahrens zum Entzug ihrer Staatsbürgerschaft zu warten. Eigentlich. | |
| Doch dann werden da eines Nachts plötzlich 80 Frauen und Männer | |
| herangekarrt, zusammengepfercht in Gefangenentransportern. In der kommenden | |
| Nacht sind es nochmals 150, am Tag darauf wieder 150 und später weitere | |
| 400. Eine Anstalt, in der sonst rund 100 Menschen, Zentralasiaten meist, | |
| monatelang auf ihre Abschiebung warten, wird zu einem Spezialgefängnis für | |
| mehr als 800 Protestierende. | |
| Die Polizeiwachen in ganz Moskau sind längst überfüllt. Allein am | |
| Protestabend nach der Gerichtsverhandlung gegen Nawalny am 2. Februar haben | |
| Sonderpolizisten in der russischen Hauptstadt [3][mehr als 1.000 | |
| Demonstrant*innen festgehalten]. Die Festgenommenen von den zwei | |
| Protestwochenenden zuvor waren da noch nicht wieder in Freiheit. | |
| Wohin mit den vielen „Politischen“? So nennen Polizisten wie | |
| Hilfsorganisationen die meist jungen Menschen, die sich gegen die | |
| staatliche Willkür einsetzen, für den russischen Staat aber „Marionetten | |
| des Westens“ sind. Die Begriffe wecken Erinnerungen an die Gulag-Zeit unter | |
| Stalin. | |
| Gerade in den ersten Tagen nach den Massenfestnahmen, so berichten es | |
| Menschenrechtsaktivisten, die die Anstalten in den vergangenen Tagen | |
| mehrfach besucht haben, seien die grundlegenden Rechte der Menschen | |
| missachtet worden. Die Gefangenenbusse stehen stundenlang vor den Revieren, | |
| draußen sind es minus 20 Grad, manchmal müssen die Festgenommenen selbst | |
| ihren Gefangenentransporter anschieben, weil der Motor nicht mehr | |
| anspringt. | |
| ## Kein Wasser, kein Essen, keine Anrufe | |
| In den Haftanstalten gibt es kein Wasser, kein Essen, Berufungsbescheide | |
| gehen verloren, man lässt die Frauen und Männer nicht telefonieren, | |
| tagelang wissen ihre Familien nicht, wo sie sind. Anwält*innen haben | |
| kaum Zugang zu ihren Klient*innen. In so manchen 8-Mann-Zellen sitzen 27 | |
| Männer ein, auf den Metallpritschen gibt es keine Matratzen, die | |
| Stehtoiletten sind verstopft. Manchmal drehen die Aufseher die Heizung | |
| tagsüber auf 30 Grad auf, nachts ist sie ganz aus, es wird eiskalt. | |
| Alle stehen unter Stress, kaum einer der Gefangenen war jemals zuvor | |
| eingesperrt. Sie rebellieren, sie rotten sich zusammen, schreien bei den | |
| kurzen Spaziergängen im Metallkäfig gemeinsam „Putin ist ein Dieb“, nehmen | |
| sich mit geschmuggelten Smartphones auf, stellen die Bilder ihrer Zellen | |
| ins Internet. Die Behörden reagieren mit harschen Durchsuchungen. Gerade | |
| Sacharowo wird zum Inbegriff der menschenverachtenden Haltung des Staates | |
| seinen Bürger*innen gegenüber. | |
| Der „Vertikale der Macht“ setzen Freiwillige „horizontale Strukturen“ | |
| entgegen. Sie organisieren sich in Chats, suchen darin nach den Gefangenen, | |
| sie bringen Tee, Wurst, Servietten, Suppen, Zahnputzzeug, Shampoos und | |
| tonnenweise Wasser vor die Anstalten. Sie verhandeln bis spät in die Nacht | |
| mit den Frauen und Männern am Durchgang, dass sie doch bitte die gebrachten | |
| Päckchen an die Gefangenen weitergeben sollen, sie kochen Suppe für die | |
| wartenden Verwandten in der Kälte, sie holen Entlassene ab und bringen sie | |
| nach Hause. | |
| „Wir lösen am laufenden Band irgendwelche Probleme“, sagt Jewgeni Resnizki | |
| von der Freiwilligenorganisation „Peredatschi“ (Päckchen). „Als Gefangen… | |
| ist man verloren. Der Staat kann nur zuschnappen, da weiß die linke Hand | |
| nicht, was die rechte tut, die Verantwortung wird immer weitergereicht, und | |
| der einzelne Mensch ist sich selbst überlassen, nicht nur in Haft.“ Seit | |
| zehn Jahren engagiert sich der bald 36-Jährige politisch, arbeitete im | |
| Moskauer „Stab Nawalny“ mit, ging auch selbst auf die Straße. „Zum Glüc… | |
| ohne festgenommen zu werden.“ | |
| ## Repressionen nehmen zu | |
| Nun ist seine Hilfe vor dem Rechner gefragt. Bis zu 18 Stunden am Tag | |
| koordiniert er etwa 8.000 Freiwillige in der Stadt, die Essen für die | |
| Gefangenen vorbeibringen und Wache vor den Anstalten halten, wenn einer | |
| entlassen wird. „Angst haben ist sinnlos, wir müssen die Sache selbst in | |
| die Hand nehmen, gerade weil der Staat sich immer mehr in eine Falle | |
| manövriert und den Menschen kein Angebot macht“, sagt der | |
| Marketing-Experte. | |
| In Sacharowo ist die Schlange für die Essenabgabe nach Tagen kleiner | |
| geworden. „Endlich“, sagen die Menschen hier. Juri hat Äpfel, Wasser, | |
| Instant-Nudeln, Nüsse und Kekse in einen durchsichtigen Beutel gepackt, | |
| will sie seinem Kumpel Roman vorbeibringen. Wie es auch Roman für ihn getan | |
| habe, als er, Juri, 2017 für zehn Tage in Haft kam. „Wir sind völlig | |
| auswechselbar. Heute schnappen sie mich, morgen einen anderen.“ | |
| Die Wut der Menschen wächst, die [4][Repressionen des Staates werden | |
| derweil stärker]. Die Behörden drohen den Gefangenen mit Strafverfahren, | |
| sie setzen Nawalny-Vertraute unter Hausarrest oder auf die Fahndungsliste. | |
| Sie erniedrigen Aktivist*innen und Journalist*innen. Im ganzen Land | |
| rücken Bezirkspolizisten systematisch zu Protestteilnehmer*innen aus. | |
| Mittels Gesichtserkennung machen sie sie ausfindig. Auch der Arrest | |
| schüchtert ein. | |
| „Ich habe nun zehn Tage gesessen. Zehn Tage meines Lebens – und nichts | |
| dadurch erreicht“, sagt Boris vor der Haftanstalt in Sacharowo. „Wir müssen | |
| den Protest wohl anders denken. Sich verprügeln und festnehmen zu lassen, | |
| bringt uns nicht weiter.“ | |
| 14 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Inna Hartwich | |
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