| # taz.de -- Proteste in Russland: Die halb blinde Opposition | |
| > Die Proteste gegen Nawalnys Verhaftung sind bitter nötig. Aber sie | |
| > verdecken einen fundamentalen Mangel an Solidarität – auch bei Putins | |
| > Gegnern. | |
| In Russland gab es gerade Massenproteste, und dann gab es sie plötzlich | |
| nicht mehr. Die Organisatoren haben sie überraschend zurückgepfiffen. Doch | |
| die Arrestzellen sind immer noch voll mit Protestteilnehmern, und die Luft | |
| ist voll von Nazivergleichen. Die Polizei wird mit der Gestapo verglichen | |
| oder „Karateli“ genannt, eine aus dem Zweiten Weltkrieg stammende | |
| Bezeichnung für die Sonderkommandos der SS, die Vergeltungsaktionen zur | |
| Bekämpfung der Partisanen durchführten. Mal ist von einem faschistischen | |
| Regime die Rede, mal von „Okkupanten“: Eine Bande, heißt es, habe das Land | |
| besetzt. | |
| Ein populärer Witz geht so: „Papa, in welches KZ werden wir gebracht?“ „… | |
| still, ich interessiere mich nicht für Politik!“ Gern werden Martin | |
| Niemöllers Worte zitiert: „Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen“, | |
| dann holten sie die Kommunisten, die Sozialdemokraten, die Katholiken, bis | |
| es keinen mehr gab, der für ihn protestieren konnte. | |
| [1][Es wird aber protestiert], und zumindest geografisch gesehen waren dies | |
| die größten Proteste, die das Land in der Putin-Zeit bislang erlebt hat. | |
| Allein am 23. Januar gab es Demonstrationen in über hundert Städten. Sie | |
| wurden mit demonstrativer Brutalität zusammengeknüppelt. Mehr als | |
| fünftausend Menschen wurden festgenommen. | |
| Proteste gibt es, und sie sind nicht einmal selten. Dennoch sind Pastor | |
| Niemöllers Worte die treffendste Beschreibung der Lage. Sie verweisen auf | |
| zwei Eigenschaften der russischen Gesellschaft, unter denen sie im Moment | |
| besonders stark leidet: den Mangel an Solidarität und die antrainierte | |
| Blindheit für Unrecht, Gewalt und Erniedrigung. | |
| Laut der Soziologin Alexandra Arkhipova, die Umfragen bei den Demos in | |
| Moskau und Sankt Petersburg durchführte, sind 38 Prozent der Teilnehmer in | |
| diesem Jahr überhaupt zum ersten Mal protestieren gegangen. Der Protest ist | |
| nicht jünger geworden, nur ein Viertel der Protestierenden war unter 25 | |
| Jahre alt. Der Protest ist nicht so sehr durch junge Menschen gewachsen, | |
| die dazustießen, sondern dank Erwachsener, die auf Missstände aufmerksam | |
| wurden und nun demonstrieren. | |
| Die sozialen Netzwerke sind voller Empörung über Gewalt und Willkür, die | |
| man oft „beispiellos“ nennt. Von einem Meilenstein ist dann die Rede. Man | |
| sei in einem anderen Land aufgewacht. | |
| ## Die vergessenen Proteste | |
| Diese Gefühle sind verständlich. Doch die Formulierung „beispiellos“ macht | |
| fassungslos, weil sie ausblendet, was in Russland geschehen ist. Ähnliche | |
| Szenen gab es ja schon 2018 bei den Protesten, die Wladimir Putins | |
| Amtseinführung begleiteten, oder 2019 im Zusammenhang mit den gefälschten | |
| Wahlergebnissen bei den Regionalwahlen in Moskau und anderen Städten. | |
| Auch damals wurden Protestierende zu Tausenden verhaftet und misshandelt. | |
| Auch damals schlugen schwer gerüstete Polizisten auf wehrlose Menschen ein, | |
| auf Frauen, Teenager und Senioren. Auch damals wurden unbeteiligte | |
| Passanten von den sogenannten Ordnungskräften angegriffen, Tausende wurden | |
| zu Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt. | |
| Unzählige Menschen wurden im Laufe der letzten Jahre wegen Teilnahme an | |
| Protesten oder regimekritischer Äußerungen entlassen oder exmatrikuliert. | |
| Wie blind muss man sein, um das alles nicht gemerkt zu haben? | |
| Die jüngsten Proteste standen im Zusammenhang mit der Rückkehr nach | |
| Russland, der [2][Verhaftung und Verurteilung des Oppositionspolitikers | |
| Alexei Nawalny], und es ist dieser Zusammenhang, der sie zu etwas | |
| Besonderem macht. Einerseits ist es die heldenhafte Entscheidung Nawalnys, | |
| sich buchstäblich in die Hände seiner mutmaßlichen Mörder zu begeben. | |
| ## Nawalnys dunkle Seite | |
| Nawalny will erklärtermaßen Russlands Präsident werden. Das ist ein | |
| ehrenwerter und vollkommen legitimer Wunsch, doch in Putins Russland, einer | |
| Diktatur ohne freie Wahlen, muss er dafür erst den Diktator Putin stürzen | |
| und freie Wahlen erzwingen. Dafür setzt er seine Freiheit und sein Leben | |
| ein. Das macht ihn sehr überzeugend. Doch es gibt auch eine andere Seite. | |
| Der Aufruf zu den Demos für Nawalnys Freilassung erschien im Vorspann der | |
| Dokumentation über [3][Putins geheimen Palast an der Schwarzmeerküste], die | |
| Nawalnys Team unmittelbar nach dessen Verhaftung auf Youtube stellte. Das | |
| Video wurde inzwischen fast 110 Millionen Mal aufgerufen. Das zeigte, dass | |
| Putins Gegner jetzt eine mediale Reichweite haben, die sich mit der der | |
| Fernsehpropaganda messen kann. | |
| Zugleich ist es kein Zufall, dass ausgerechnet die Bilder von dem obszönen | |
| Korruptionsreichtum ein derart großes Interesse weckten. Das Thema | |
| Korruption scheint das einzige Thema zu sein, das in der russischen | |
| Gesellschaft heute breites Interesse finden kann. | |
| Wahrnehmbare Proteste gegen den Überfall auf die Ukraine, die Annexion der | |
| Krim oder Russlands Bombenkrieg in Syrien gab es kaum. Das war nicht immer | |
| so. Noch 2008 protestierten beachtlich viele Menschen gegen den Einmarsch | |
| in Georgien und die Schikanen gegen Georgier. Nawalny, damals noch ein | |
| Hardcorenationalist, forderte dagegen mehr Bomben und Deportationen. | |
| Heute triggern die Folter und Repressalien, die Verfolgungen der | |
| ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten oder die Justizwillkür | |
| keine spürbaren Reaktionen, und wenn schon, dann meistens nur, wenn sie | |
| sich in Moskau oder Sankt Petersburg abspielen. Die Hauptstädte | |
| interessieren sich kaum für die Provinz – und umgekehrt: Die Betroffenen | |
| können nur selten mit Solidarität außerhalb ihrer eigenen Gruppe rechnen. | |
| Dafür riskieren die Menschen, die sich dennoch auf die Straße wagen, nicht | |
| nur staatliche Verfolgung, sondern oft auch noch den Hohn von Seiten der | |
| gleichgültigen Gesellschaft. In der Zeit der Perestroika erfand der | |
| Historiker Juri Afanassiew dafür den Begriff „aggressiv-gefügige | |
| Mehrheit“. Diese Mehrheit ist, wie es scheint, seitdem noch gewachsen. | |
| Eine der beschämendsten Episoden in der jüngsten Geschichte der russischen | |
| Zivilgesellschaft hatte ebenfalls mit der Korruptionsbekämpfung zu tun. | |
| Während die Ermittlungsbehörden unverhohlen politisch motiviert einen Fall | |
| angeblicher Veruntreuung durch den Regisseur [4][Kirill Serebrennikow] | |
| inszenierten, veröffentliche der russische Ableger der Antikorruptions-NGO | |
| Transparency International einen Bericht über die angebliche Korruption in | |
| Moskauer Staatlichen Theatern und bezichtigte Serebrennikow, sich selbst | |
| bereichert zu haben. | |
| Er habe sich, so der Bericht, als künstlerischer Leiter des | |
| Experimentaltheaters Gogol Center auch noch selbst als Regisseur einiger | |
| Produktionen engagiert. Das sei ein krasser Interessenkonflikt und verstoße | |
| gegen die Regeln der öffentlichen Akquise. Auf die Einwände aus der | |
| künstlerischen Community, die Vorwürfe seien unsinnig und zeigten eine | |
| tiefe Unkenntnis des Theaterbetriebs, antwortete der NGO-Direktor, es gebe | |
| keinen Unterschied zwischen einem staatlichen Theater und einem Busdepot. | |
| Außerdem bekämpfe Transparency International Korruption und sei kein | |
| Menschenrechtsverein. | |
| ## Demos als Wahlkampfhilfe | |
| Serebrennikow konnte sich selbst dazu gar nicht äußern, weil er gerade | |
| unter Hausarrest stand. An diese Geschichte muss man ausgerechnet jetzt aus | |
| vielerlei Gründen denken. Erstens weil Serebrennikow just in diesen Tagen | |
| seine Position als künstlerischer Leiter des Gogol Center verloren hat. | |
| Zweitens weil er in diesem absurden Veruntreuungsprozess im Juni 2020 zu | |
| drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. Und drittens weil seine | |
| Geschichte viel zu sehr an den Fall Nawalnys erinnert. | |
| Nawalny wurde nämlich 2014 aufgrund unsinniger Vorwürfe, er und sein Bruder | |
| Oleg hätten die Mittel der französischen Kosmetikfirma Yves Rocher | |
| veruntreut, zu dreieinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt. Diese | |
| Bewährungsstrafe wurde nun in eine Haftstrafe umgewandelt. | |
| Dass Nawalny nun so viel Solidarität erfährt, ist erfreulich und zugleich | |
| etwas verstörend. Denn er selbst ist ein denkbar unsolidarischer Politiker, | |
| der noch dazu gern gegen Minderheiten oder Kritiker austeilt. Nun erklärte | |
| Nawalnys Mitstreiter Leonid Wolkow die Proteste für beendet: Man werde für | |
| Alexeis Freilassung international kämpfen, die Demonstrationen wolle man | |
| für den Sommer aufheben, wenn man sie für den Duma-Wahlkampf brauche. | |
| Das führt in bitterer Deutlichkeit vor Augen, dass das Team Nawalny | |
| Proteste nur als Instrument im Machtkampf sieht. Dass die Leute nicht nur | |
| für Nawalnys Freilassung und schon gar nicht unbedingt für seine politische | |
| Agenda demonstrierten, scheint ihn und sein Team nicht zu berühren. Dass | |
| man demonstriert, um seine Empörung über Unrecht und Gewalt zu zeigen und | |
| seine Würde zu bewahren, spielt in diesem Machtspiel keine Rolle. | |
| Dabei gibt es noch viele andere Häftlinge, für deren Freilassung es sich zu | |
| kämpfen lohnt, die auch Solidarität brauchen, und zwar hier und jetzt. Es | |
| ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass die in Moskau verhafteten | |
| Teilnehmer der Demonstrationen für Nawalnys Freilassung ausgerechnet in | |
| einem Abschiebelager eingesperrt wurden. | |
| Denn die Deportation von „illegalen Migranten“ war doch seit je eine von | |
| Nawalnys zentralen Forderungen. Die unmenschlichen Haftbedingungen in | |
| diesem Deportationszentrum verleiten viele Medien zu einem KZ-Vergleich. | |
| Der Vergleich mit einem KZ ist mehr als eine bloße Redewendung. In dieser | |
| Metapher steckt eine Absolution, die man sich selbst erteilt: Die Besatzer | |
| sind schuld, wir haben damit nichts zu tun, wir sind bloß unschuldige | |
| Opfer. Wenn man nichts sehen will, drückt man seine Augen zu, bis sie | |
| bluten. | |
| 6 Feb 2021 | |
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| [3] /Korruptionsvideo-ueber-Wladimir-Putin/!5742047 | |
| [4] https://www.dekoder.org/de/gnose/kirill-serebrennikow-regisseur-hausarrest | |
| ## AUTOREN | |
| Nikolai Klimeniouk | |
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