| # taz.de -- Politische Stereotypisierungen: Sinisterer Jude, fanatischer Araber | |
| > Wir alle sind mehr oder weniger von jahrhundertealten Vorurteilen | |
| > geprägt. Sie vergiften die Konflikte um Israel, die Hamas und den | |
| > Gazakrieg. | |
| Bild: Den Stereotypisierungen entkommen wir nur schwer | |
| Weder bei kleinen noch den ganz großen existenziellen Fragen und Konflikten | |
| sollte man die Tatsache aus den Augen verlieren, dass das eine und das | |
| exakte Gegenteil richtig sein können. Früher nannte man das eine tragische | |
| Konstellation, heute spricht man gerne von Ambiguitäten, die bitte | |
| ausbalanciert werden sollen. | |
| So ist einerseits wahr, dass der [1][Begriff des „Antisemitismus“ heute zur | |
| proisraelischen Kriegspropaganda missbraucht] wird, dazu, andere Stimmen | |
| einzuschüchtern und zu diffamieren. Während zugleich wahr ist, dass es | |
| Antisemitismus gibt und dass auch die Kriegskritik von Antisemitismus | |
| vergiftet sein kann. Die Netanjahu-Propagandaschleudern haben den Begriff | |
| aber sinnentleert und unbrauchbar gemacht. | |
| Ebenso wahr ist, was [2][Eva Illouz] am Wochenende in einem großen Essay in | |
| der Süddeutschen Zeitung ausgeführt hat: Es wäre erstaunlich, schreibt sie, | |
| wenn in die Proteste gegen Israels Kriegsführung nicht auch die | |
| [3][jahrtausendealte Grundierung des Antisemitismus] eingehen würde. Sie | |
| unterstreicht ihr Argument mit jenen [4][Konzepten der postkolonialen, aber | |
| auch der Cultural Studies,] für die manche der Protestierenden doch ein | |
| gutes Sensorium haben müssten. Einer der wertvollsten Beiträge der | |
| kulturlinken Strömungen sei die Kritik an unbewussten, kulturellen | |
| Gewohnheiten gewesen, „an denen wir alle teilhaben“. | |
| An Stereotypisierungen etwa, denen wir schwer entkommen. Diese Gewohnheiten | |
| haben ihre Ablagerungen in der Sprache und in den gängigen kulturellen | |
| Bildern, den Projektionen auf die Anderen – Schwarze, Frauen, Minderheiten. | |
| Schwer vorstellbar sei doch, dass das „nicht in noch größerem Maße auf die | |
| älteste Form von Hass zutreffen sollte, die es in der westlichen Kultur | |
| gibt, nämlich den Judenhass“. | |
| ## Juden als Parasiten – so das Klischee | |
| Der [5][Jude, der das Blut von Kindern trinkt, der Jude, der einsickert in | |
| autochthone Kulturen,] der Jude, der diese Kulturen von innen zersetzt, der | |
| Jude, der sich aneignet, was anderen gehört – all das schwingt, so Illouz, | |
| in maßlos überzogener „Israelkritik“ mit. Illouz spricht vom „tiefen | |
| kulturellen Gefühl, dass Juden für die Welt gefährlich sind“. Die Juden als | |
| Parasiten, als zersetzende Kraft, als sinistre Macht, der nicht zu trauen | |
| ist. Es sind diese Bestände, Restbestände, manchmal auch nur Schwundformen | |
| dessen, was mit dem Wort „Vorurteil“ nur unzureichend beschrieben ist, das | |
| in die Diskurse von heute eingeht. Und seien es nur Spurenelemente, die da | |
| wirken. | |
| Das Erstaunliche an Illouz’ Text ist, dass sie mit keinem Wort darauf | |
| hinweist, dass ähnliche Strukturen auch bei den Maßlosigkeiten der anderen | |
| Seite ihre Bedeutung haben. Dabei ist das nicht nur frappierend und | |
| offensichtlich, sondern bietet auch viele Spuren und Nebenpfade, die für | |
| die gegenwärtige Situation erhellend sind. | |
| Wir wissen nicht erst seit den Hoch-Zeiten der Kulturtheorien, nicht erst | |
| seit Edward Saids „Orientalismus“, dass im [6][westlichen Bilder- und | |
| Stereotypefundus] der verschlagene, arglistige und heimtückische, aber auch | |
| impulsive und unvernünftige Araber und Muslim einen zentralen Platz hat – | |
| neben dem zartfühlenden, weisen, friedliebenden Nomadenführer, der die | |
| seltene Rolle des „edlen Wilden“ einnimmt. | |
| Tradierte Bilder und Stereotypisierungen haben Macht über uns, beschreibt | |
| Illouz richtig. Zugleich übersieht sie, dass das für alle Seiten gilt. Das | |
| ist umso bemerkenswerter, als es noch einen weiteren Punkt gibt, der nicht | |
| übersehen werden sollte: Die Verwobenheit von realem regionalen Konflikt, | |
| in dem „harte Fakten“ wie militärische Macht, Terrorismus, Landnahme | |
| genauso hineinspielen wie die [7][kulturellen Stereotypisierungen sowie die | |
| Globalisierung von Konflikt, Gereiztheit, rassistischen Klischees und | |
| blankem Hass]. Das Lokale schwappt ins Globale und wieder zurück. Das hat | |
| unter anderem auch mit der diasporischen Realität zu tun, die in einer Welt | |
| von Migration, Vermischung und Multikulturalität beinahe zur Regel geworden | |
| ist. | |
| ## Fanatische Muslime – so das andere Klischee | |
| [8][Juden in Europa und in den USA] werden einerseits von der israelischen | |
| Politik unter Druck gesetzt, sich zu dieser zu bekennen. Der | |
| Bekenntnisdruck herrscht in den Gemeinden, das bestialische Massaker durch | |
| die Hamas rief auch Traumata, Angst, Bedrohungsgefühle wach, ebenso | |
| Solidarität und Bunkermentalität. Zugleich werden Juden in der Diaspora | |
| regelmäßig schamlos für die Kriegsverbrechen der Netanjahu-Regierung | |
| mitverantwortlich gemacht. | |
| Ganz ähnlich werden Muslime in Europa von islamistischen oder autoritären | |
| Regimes und Ideologen aufgestachelt, unter Bekenntnisdruck gesetzt und | |
| zugleich umgekehrt unter den Generalverdacht gestellt, mit Islamismus oder | |
| Terrorismus zu sympathisieren oder diesen wenigstens zu billigen. | |
| Kulturelle, [9][traditionelle Bilder vom fanatischen, impulsiven, | |
| verrückten Muslim] spielen auch hier eine Rolle. | |
| Das ist unsere Realität und unsere Verrücktheit zugleich, aus der noch | |
| viele Irrsinnigkeiten folgen: etwa, dass Leute, die zugleich ihre | |
| antisemitischen als auch ihre antimuslimischen Klischees im Kopf haben, | |
| sich etwa auf die proisraelische Seite schlagen, weil sie einfach die | |
| Araber gerade noch ein bisschen mehr hassen als die Juden. Oder die | |
| Schablonisierungen, bei denen leicht erkennbar ist, dass sie wenig mit der | |
| Realität der Konflikt- und Gewaltgeschichte im Nahen Osten zu tun haben, | |
| sondern mit der Auseinandersetzung um die eigene Gewalt- und | |
| Schuldgeschichte, also des Holocaust in Deutschland, der brutalen | |
| Kolonialgeschichte etwa in Belgien, Frankreich und England. Oder mit den | |
| Verbrechen an den Indigenen in Amerika. | |
| Das wird so holzschnittartig und dumm über die aktuelle Situation gestülpt, | |
| dass es schon richtig wehtut. Nur manchmal ist das auch ein bisschen | |
| lustig, beispielsweise wenn eine Strömung „antideutsch“ genannt wird, | |
| obwohl sie wahrscheinlich das „Deutscheste“ ist, was man sich vorstellen | |
| kann. | |
| Gut, das war jetzt auch wieder ein Stereotyp. | |
| 22 May 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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