# taz.de -- Politikwissenschaftler über Milieustudie: „Eine dramatische Entw… | |
> Die alten BRD-Parteien kommen vor allem in der Mitte der Gesellschaft | |
> immer weniger an. Weil sie nicht an einem Strang ziehen, sagt Robert | |
> Vehrkamp. | |
Bild: Immer mehr Menschen treffen ihre Wahlentscheidung aus ihrer Lebensrealit�… | |
taz: Herr Vehrkamp, [1][die Zustimmung zur Regierung ist wirklich mies], | |
aber wir wissen ja: Umfragewerte sind bloß Umfragewerte, und die politische | |
Lage schwankt sowieso immer stärker. Warum also sollten uns | |
Zustimmungszahlen interessieren? | |
Robert Vehrkamp: Weil sie zwar keine verlässliche Prognose für künftiges | |
Wahlverhalten mehr sind, aber weiterhin Stimmungsbilder zeigen, die sich | |
verfestigen und politisches Denken und Handeln dann auch prägen können – am | |
Ende auch das Wahlverhalten. | |
Was lesen Sie aus den aktuellen [2][Sinus-Studien ab, die Sie soeben | |
ausgewertet haben]? | |
Unser zentraler Befund lautet: Wir haben ein erkennbares Problem in der | |
gesellschaftlichen Mitte. Die gesellschaftliche Mitte verliert an | |
Zukunftszuversicht und wird dadurch empfänglicher für Populismus, wendet | |
sich zunehmend von den etablierten demokratischen Parteien ab. | |
In der taz befassen wir uns ja eher gern damit, die sogenannte Mitte zu | |
dekonstruieren. | |
Es stimmt schon, die alte bürgerliche Mitte, wie wir sie kannten, gibt es | |
nicht mehr. Die neue Mitte ist segmentierter und gespalten in ein | |
nostalgisches und ein pragmatisches Milieu. Immer mehr Menschen treffen | |
ihre Wahlentscheidung aber vor allem aus den Lebensrealitäten ihrer Milieus | |
heraus. Feste Parteibindungen sind rückläufig. Der Erklärungswert der | |
Milieus für das Wahlverhalten nimmt deshalb weiter zu. | |
Und diese neue, zweigeteilte Mitte will die mittigen Parteien nicht mehr? | |
Die Ampel hat ein wenig mehr verloren als andere Koalitionen zu diesem | |
Zeitpunkt einer Legislaturperiode. Aber die Verluste der Ampel zahlen nur | |
zum geringsten Teil auf das Konto von CDU und CSU ein – und zum viel | |
größeren Teil auf das AfD-Konto und das des Wagenknecht-Bündnisses. Wenn | |
Sie die Parteien der Bonner Republik zusammenzählen – also Union, FDP, SPD, | |
Grüne –, kommen die in den beiden Mitte-Milieus auf gerade noch 50 Prozent | |
Zustimmung. Und da sind die Nichtwählenden schon rausgerechnet. Es würde | |
sich aktuell also nur etwa jeder dritte Wahlberechtigte für eine der | |
Ampelparteien oder die Union entscheiden. Das ist eine dramatische | |
Entwurzelung. Gleichzeitig sehen wir eine wieder deutlich stärkere soziale | |
Konfliktlinie: Die Zustimmung zu den Bonner Parteien sammelt sich in den | |
Milieus der oberen Mittelschicht und der Oberschicht. Die | |
Mitte-unten-Milieus fühlen sich erkennbar entkoppelt. | |
Die Ampel als Elitenveranstaltung. Wie konnte das passieren? | |
Die Elite fällt in einer Krise eben weicher als die Mittelschicht und die | |
sozial prekären Milieus. Die Ampel wird aber auch für Dinge verantwortlich | |
gemacht, für die sie nicht verantwortlich ist. Diese Regierung kann nichts | |
dafür, dass Russland die Ukraine überfallen hat, aber sie bekommt die | |
allgemeine Gereiztheit nach Corona voll zu spüren, verstärkt durch | |
Inflation und sonstige Kriegsfolgen. Das wäre einer unionsgeführten | |
Regierung nicht anders ergangen. | |
Sie beschreiben eine Spaltung, die der in den USA ähnelt – die Entkopplung, | |
die populistische Neigung. Haben sich viele PolitikbeobachterInnen nicht | |
nun monatelang [3][an der tröstlichen Analyse des Soziologen Steffen Mau] | |
festgehalten, dass es die gesellschaftliche Spaltung eigentlich gar nicht | |
gebe? | |
Wir sind nicht die USA, aber ich habe Maus Buch „Triggerpunkte“ schon etwas | |
anders gelesen, nicht ganz so verharmlosend, wie es einige interpretiert | |
haben. Die Autoren weisen ja durchaus darauf hin, dass es Triggerpunkte | |
gibt und dass sie vermieden werden sollten – vor allem bei den | |
Spaltungsthemen, wie Ungleichheit, Migration und Klima. Und wenn die | |
Parteien das nicht beachten, kann das zu Spaltungen führen. Die öffentliche | |
Diskussion über das Buch war mir da etwas zu abwiegelnd. | |
Worauf kommt es also an? | |
Auf die konstruktive Lösung der Probleme, die den Alltag der Menschen | |
bestimmen, von denen sie genervt sind und nicht das Gefühl haben, die | |
Parteien kümmern sich ausreichend darum. Unsere These ist deshalb, dass ein | |
Miteinander der demokratischen Parteien besser wäre als gegenseitige | |
Blockade und ständiger Streit. Die bisherigen Konfliktstrategien – | |
innerhalb der Ampel, aber auch zwischen Ampel und Opposition – verstärken | |
den Eindruck einer alltagsfernen Selbstbezogenheit der Parteien. Das zahlt | |
sich vor allem für die populistischen und Rechtsaußen-Parteien aus. | |
Was wäre die Alternative? | |
Die Zinsen und Energiepreise sinken, die Inflation ist gestoppt und die | |
Konjunktur könnte nächstes Jahr deutlich besser sein als dieses. Die | |
demokratischen Parteien sollten diese Chance nutzen, die Stimmung in den | |
Mitte-Milieus wieder zu drehen. Aber die Regierung muss etwas dafür tun, | |
und die demokratische Opposition müsste auch etwas dafür tun, wenn sie von | |
den Verlusten der Regierung stärker profitieren will als jetzt. Es braucht | |
noch einmal ein großes Reformpaket mit Investitionen in Schulen, Verkehr, | |
Krankenhäuser – also in Bereiche, die die Lebensrealität der Menschen | |
prägen. Aber dazu muss die Schuldenbremse gelockert werden. Das geht nur | |
mit der Union. | |
Glauben Sie dran? | |
Nein, deshalb muss die Ampel es allein hinkriegen, mit dem Haushalt 2025 | |
noch einmal ein großes Reformpaket zu verbinden. Es ist vielleicht ihre | |
letzte Chance, aber es ist eine! | |
Müssen wir uns nicht eigentlich an mehr demokratischen Streit gewöhnen, | |
waren denn die Merkel-Jahre nicht eher unnormal streitlos? | |
Ja, das wird auch in Deutschland das „neue Normal“ werden – und in einer | |
künftigen, vielleicht unionsgeführten Regierung nicht anders sein. Ein Merz | |
als Kanzler, mit beispielsweise Söder und Kühnert im Kabinett, wäre | |
jedenfalls nicht von vornherein konfliktfreier als die jetzige Ampel. In | |
Mehrparteienkoalitionen müssen die Parteien untereinander leisten, was die | |
alten Volksparteien früher innerparteilich geleistet haben. Wie das gehen | |
kann, hat die Ampel in ihren Koalitionsverhandlungen vorgemacht. Der | |
gelungene Verhandlungsprozess und der sehr gute Koalitionsvertrag sprechen | |
für sich. Aber die Ampel hat das dann nicht hinreichend in den | |
Regierungsalltag ihrer Koalitionspraxis übersetzt. Ihr Koalitionsmanagement | |
ähnelt noch immer viel zu sehr der Regierungspraxis, mit der Helmut Kohl in | |
den 80er und 90er Jahren seine schwarz-gelbe Lagerkoalition gemanagt hat. | |
Das funktioniert aber nicht mehr. | |
Was schwebt Ihnen vor? Partys statt Koalitionsausschuss? | |
Genau! Und dann eine Studie zur Wirkung der Cannabis-Freigabe auf das | |
Koalitionsklima (lacht). Aber im Ernst: Etwas mehr Koalition sollten die | |
Ampelparteien schon wagen. Im Kanzleramt koordinierte Ressortabstimmungen | |
und Koalitionsausschüsse sind für die Orchestrierung komplexer | |
Mehrparteienkoalitionen einfach nicht mehr ausreichend. Die | |
Koalitionsstrukturen müssten sehr viel stärker parlamentarisiert werden. | |
Die Regierungsfraktionen müssen mehr miteinander zu tun bekommen, an | |
gemeinsamen Themen arbeiten, sich für gemeinsame Themen auch gemeinsam | |
verantwortlich fühlen. Interfraktionelle „Missionsausschüsse“ wären daf�… | |
ein Modell, in denen die Koalitionsfraktionen institutionalisiert, also | |
laufend an ihren wichtigsten gemeinsamen Anliegen arbeiten. | |
Viele haben aus dem Dauerstreit den Schluss gezogen, dass es auf den | |
Kanzler ankomme – der sei für [4][Machtworte] zuständig. | |
Das ist Adenauer-Nostalgie oder Schröder-Mythos, je nachdem! In einer | |
polarisierten Mehrparteienkoalition kann es keine Basta-Kanzler mehr | |
geben. Aus der Richtlinienkompetenz ist längst eine Moderationskompetenz | |
geworden. Richtlinienentscheidungen des Kanzlers gibt es nur noch, wenn die | |
Koalitionspartner quasi darum betteln, wie beim Atomausstieg. | |
Mehrparteienkoalitionen ticken eben ganz anders als Einparteienregierungen | |
oder Lagerkoalitionen. Die skandinavischen Länder haben seit Jahrzehnten | |
viele Erfahrungen mit solchen Strukturen. Dazu gehört auch das Regieren mit | |
flexiblen Mehrheiten, was ja bei uns immer irreführend als | |
„Minderheitsregierung“ bezeichnet und damit von vornherein schlechtgeredet | |
wird. | |
Also lieber eine rot-grüne Minderheitsregierung als die Ampel? | |
Nicht unbedingt, aber das Regieren mit flexiblen Mehrheiten als Instrument | |
auch in Mehrheitskoalitionen zu nutzen, das sollten wir schon lernen! | |
11 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Winkelmann | |
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