# taz.de -- Pogromgedenken in Israel: Es geht um das Leben! | |
> Juden mit deutschen Wurzeln heißen in Israel Jeckes. Im November trauern | |
> sie um die Toten der Pogromnacht und feiern Lebenswillen und Tradition. | |
Bild: Alija ist Hebräisch und bedeutet Einwanderung: Juden aus Europa erreiche… | |
MASSUAH taz | „Das war sehr aufregend heute“, sagt Tamar Landau. Die | |
87-jährige Dame sitzt im schwarz-weiß gemusterten Kleid auf einem Mäuerchen | |
im Kibbuz Massuah und hält Hof. Umringt von älteren, wenn auch nicht ganz | |
so alten Frauen und Männern, Grüße erwidernd, die letzten Neuigkeiten von | |
Bekannten austauschend, ist Tamar Landau heute die Hauptperson. Erst vor | |
ein paar Wochen hatte sie sich noch gewundert: „Wieso ausgerechnet ich | |
etwas sagen soll?“ | |
Dabei ist es gar keine Frage, dass die Jerusalemerin so einiges zu sagen | |
hat. Denn Tamar Landau stammt aus Deutschland, genauer gesagt aus Beuthen | |
in Oberschlesien, heute in Polen gelegen, und sie war knapp sieben Jahre | |
alt in der Pogromnacht vor 81 Jahren, an diesem verfluchten 9. November | |
1938. Daran erinnert die Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer | |
Herkunft, so der etwas umständliche Name der Organisation, heute in dem | |
Kibbuz, der auch eine Forschungseinrichtung über den Holocaust unterhält. | |
Es ist nicht so, dass der Novemberpogrom in Israel groß begangen wird, auch | |
wenn die Schoah im Land der überlebenden Juden ständig präsent ist. Aber | |
weniger der 9. November. „Wir sind, glaube ich, die Einzigen, die in Israel | |
diesen Tag begehen“, hat die Direktorin Devorah Haberfeld zu Beginn der | |
Gedenkveranstaltung gesagt. Drei Busse haben die Teilnehmer aus Tel Aviv, | |
Jerusalem und Haifa an diesem Tag nach Massuah gebracht. Es ist der 10. | |
November, denn der 9. fiel in diesem Jahr auf einen Sabbat, und da steht | |
das öffentliche Leben weitgehend still. | |
Ein Kantor hat das Kaddisch, das jüdische Totengebet, gesprochen, die | |
österreichische Botschafterin ist gekommen, der bundesdeutsche Konsul ist | |
da. Also hat Tamar Landau aus ihrer Kindheit berichtet. Sie sagt über den | |
9. November 1938: „Dieser Tag war der Beginn meiner Leidenszeit.“ Und dann | |
berichtet sie, wie Vater und Mutter kurz darauf mit ihr zum Bahnhof von | |
Beuthen gegangen seien, weil sie fliehen mussten, wie sie zunächst in | |
Kattowitz bei Verwandten unterkamen, bevor es in eine polnische Kleinstadt | |
in der Nähe von Krakau weiterging. Wie die Wehrmacht die Stadt 1939 | |
besetzte und die Familie wie alle Juden in ein Getto zwang. Wie sie nicht | |
verstand, was da passierte und warum. Und wie die „Aktionen“ begannen. | |
## Mutter, Schwester und Bruder deportiert | |
Bei einer solchen Massenverhaftung mit anschließender Deportation waren | |
dann die Mutter, die Schwester und der Bruder verschwunden. „Ich wusste | |
nicht, was mit ihnen passiert war. Ich blieb bei meinem Vater. Ich saß | |
unter dem Tisch und hörte, was die Erwachsenen sprachen.“ | |
Es ist nicht so, dass die anwesenden etwa 300 Zuhörer, die sich in dem | |
fensterlosen Rundbau des Kibbuz versammelt haben, diese Geschichte nicht | |
kennen würden. Für nahezu jeden von ihnen sind Auschwitz und die anderen | |
Mordstätten nicht nur Orte der NS-Vernichtung, sondern auch Lager, in denen | |
die eigenen Verwandten und Freunde ums Leben gekommen sind. Viele von | |
ihnen, die schon in Israel geboren sind, kennen die Berichte von | |
Deportationen, Lagern, Zwangsarbeit, von den Diskriminierungen, dem | |
„Judenstern“, den SS-Männern in ihren Uniformen aus den Erzählungen ihrer | |
eigenen Eltern. | |
Wenn die Eltern denn erzählt haben. Viele Überlebende verschlossen ihre | |
Münder aus Furcht, dass die furchtbare Vergangenheit in ihr Leben | |
zurückkehren könnte. Auch der Staat Israel kümmerte sich in seinen | |
Anfangsjahren nur wenig um die Traumatisierungen der überlebenden Opfer. | |
„Viele Jahre habe ich darüber nicht gesprochen“, sagt auch Tamar Landau. | |
## Der Verein kommt in die Jahre | |
Diese damals Erwachsenen sind inzwischen längst verstorbenen. Die Kinder, | |
die, so wie Tamar Landau, von dem Geschehenen berichten können, werden | |
seltener. Doch der Verein der Jeckes, wie die deutschen Einwanderer der | |
dreißiger und vierziger Jahre in Israel genannt werden, er existiert immer | |
noch. Längst hat die dritte Generation die Geschäfte übernommen, und auch | |
die kommt langsam in die Jahre. | |
Micha Limor, ein ehemaliger Fernsehreporter, der die Veranstaltung | |
moderiert und dessen Vater 1933 aus Bayern nach Palästina einwanderte, ist | |
auch schon im neunten Lebensjahrzehnt, Devorah Haberfeld bezieht Rente und | |
arbeitet ehrenamtlich. Was geblieben ist, ist das Netz von Altersheimen, in | |
Israel Elternheime genannt, in denen die Jeckes ihre letzten Lebensjahre in | |
einer Umgebung verbringen können, in der die jeckischen Traditionen vom | |
Nachmittagskaffee bis zum guten Buch gepflegt werden. | |
Die Zahl der Jüngeren, die sich der Herkunft ihrer Urgroßeltern erinnern | |
wollen und dazu im Jeckes-Verein aktiv werden, hält sich in engen Grenzen. | |
Jüngere, sagt Haberfeld, deren Eltern aus Wien stammten, das seien für sie | |
diejenigen jenseits der sechzig. Die Zeitschrift der Jeckes, Yakinton | |
(Hyazinthe) genannt, wird wohl nicht mehr sehr lange erscheinen. Die Leser | |
sterben weg. Die Zahl der deutschsprachigen Seiten des Magazins ist schon | |
auf zwei reduziert worden. | |
## Tamar Landau wird am 15. April 1945 befreit | |
Tamar Landau sitzt auf der Bühne neben Micha Limor und erzählt weiter. Von | |
dem Transport nach Auschwitz und wie ihr Vater plötzlich nicht mehr da war. | |
Davon, wie sie sich in die Schlange der „Arbeitsfähigen“ mogelte, obwohl | |
sie erst elf Jahre zählte, und dadurch nicht sofort ins Gas kam. Von der | |
Zwangsarbeit, dem Todesmarsch 1945 über 42 Tage, bis sie im Lager | |
Bergen-Belsen ankamen. Von der Befreiung durch die Briten und dem Tod ihrer | |
Cousine an exakt diesem Tag, dem 15. April 1945. Davon, dass sie nicht, wie | |
angeboten, nach Schweden ausreisen wollte, weil sie doch hoffte, ihre | |
Eltern wiederzusehen. | |
Aber eben auch das: Das Mädchen kam danach zuerst in ein Kinderheim im | |
vornehmen Blankenese. Dort traf die 14-Jährige den ein Jahr älteren Simcha | |
Landau, der die NS-Verfolgung versteckt in Berlin überstanden hatte. Es | |
wurde die Liebe ihres Lebens. 1946 wanderte das Paar nach Palästina aus, | |
das zwei Jahre später zu Israel wurde. Zwei Söhne sind geboren worden und | |
eine Tochter. Sie begleitet heute ihre Mutter. | |
Tamar Landaus Geschichte mit all ihren Schrecken ist im Kibbuz Massuah auch | |
eine Erinnerung an die eigene Herkunft. Wer kennt nicht die Geschichten der | |
Einwanderung, auf Hebräisch Alija genannt? Und die Zusammenkunft ist nicht | |
nur eine Gedenkveranstaltung, sondern eben auch eine Art Familientreffen, | |
bei dem sich die Anwesenden treffen, das vergangene Jahr Revue passieren | |
lassen und diejenigen betrauern, die nicht mehr unter ihnen weilen. Doch | |
von Trauer ist die Veranstaltung dennoch nicht allein geprägt. Es geht um | |
das Leben! | |
## Marillenknödel, Apfelstrudel und Bratkartoffeln | |
Und so schwärmt Dana Zehngebot, deren heute 98-Jähriger Vater als Teenager | |
aus Wien nach Palästina flüchten musste, im Bus zurück nach Tel Aviv von | |
Marillenknödeln, Apfelstrudel und Bratkartoffeln aus der Heimatstadt ihres | |
Vaters. Sie bedauert aufrichtig die fehlenden Kochkünste in Israel, was | |
solcherlei Delikatessen betrifft, um zugleich zuzugeben: „Ich kann nur gut | |
essen, nicht kochen.“ | |
Zehngebot spricht gut Deutsch, das nur ein wenig holpert. Auch der | |
Moderator Micha Limor hat die Sprache von seinen Eltern gelernt. Vielen | |
älteren Jeckes ist der Einstieg in die fremde Sprache Hebräisch in den | |
vierziger und fünfziger Jahren sehr schwer gefallen, manche haben sie nie | |
richtig gelernt. Doch das sind vergangene Geschichten. Devorah Haberfeld | |
spricht, wie alle hier, selbstverständlich perfekt die Landessprache, dafür | |
mangelt es ihr wie den meisten an Kenntnissen des Deutschen. | |
Die Sprache der Vorfahren scheint jedoch nicht unbedingt nötig für eine | |
jeckische Existenz zu sein. Pünktlichkeit und Verbindlichkeit sind nicht | |
eben Tugenden, die in Israel ganz besonders ausgeprägt wären. Die Jeckes | |
halten an ihnen fest, wenn sie auch im Land ihrer Vorfahren längst aus der | |
Mode gekommen sind. Religion steht bei der Jeckes-Organisation eher weniger | |
hoch im Kurs, dafür dominiert das Bekenntnis zu einer liberalen, | |
ausgleichenden Politik. | |
## Antisemitismus und Hass | |
Und schon gar nicht versteht Haberfeld ihre Organisation als | |
romantisch-verklärenden Erinnerungsverein mit Blasmusik und deutschem | |
Liedgut. Was gäbe es an Deutschlands Geschichte auch schon zu verklären? In | |
Massuah gibt es an diesem Tag weder das eine noch das andere, dafür eine | |
hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion, die sich mit der Frage nach der | |
Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Hass auseinandersetzt. | |
Dazu gehört auch der Auftritt eines der Jüngsten, die heute in den Kibbuz | |
gekommen sind. Jurin Hoffmann ist 19 Jahre alt und kommt aus Kassel. Seit | |
zwei Monaten arbeitet er in einem Altersheim bei Tel Aviv, das nach dem | |
ersten israelischen Justizminister Pinchas Rosen benannt ist – ein Jecke | |
aus Berlin –, in einem freiwilligen sozialen Jahr der Aktion Sühnezeichen. | |
Hoffmann berichtet auf der Bühne von den Gesprächen mit den früheren | |
deutschen Juden und wie beeindruckend deren Zeugnisse für ihn seien. Und er | |
erinnert an den Mord an dem Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor wenigen | |
Monaten nahe seiner Heimatstadt, begangen von einem Rechtsradikalen. „Es | |
scheint, dass wir wieder Angst haben müssen vor dem, was da hochkommen | |
könnte“, sagt Jurin Hoffmann. Er hat den richtigen Ton getroffen. Der | |
Applaus donnert durch den Saal. | |
15 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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