# taz.de -- Podcast „Passierte Tomaten“: Liebe war nicht möglich | |
> Publizistin Sibylle Plogstedt und Soziologe Detlev Claussen waren beide | |
> beim Tomatenwurf 1968 dabei. Heute treffen sie erneut aufeinander. | |
Bild: Eignen sich auch zum Kundtun des feministischen Unmuts: Tomaten | |
„Was ist denn jetzt los?“, dachte Detlev Claussen nur. Er ist Student der | |
Soziologie und delegiert zum Kongress des Sozialistischen Deutschen | |
Studentenbunds SDS in Frankfurt am 13. September 1968. Soeben waren seinem | |
Freund Hans-Jürgen Krahl [1][Tomaten gegen den Kopf geklatscht]. | |
Die Berlinerin Helke Sander hatte den perplexen SDSlern zum ersten Mal | |
erklärt, dass die Frauen, diese Unterklasse aller Klassen, das eigentliche | |
revolutionäre Subjekt seien. Sibylle Plogstedt wurde aufgefordert, eine | |
Gegenrede zu halten. Sie brach sie ab. Und als man dann wieder zur | |
Tagesordnung übergehen wollte, flogen die Tomaten. | |
Sibylle Plogstedt sagt: „Ich war völlig unvorbereitet, bin aufs Podium und | |
sagte ein paar Worte über Adorno: Autorität und Familie, fand das aber | |
selbst unpassend und bin dann wieder gegangen. Ich wollte ja auch den | |
Frauen nicht in den Rücken fallen. Aber ich hatte damals keine Position | |
dazu, ich war keine Feministin. Im SDS waren es die Mütter, die sich | |
organisierten. Dafür war ich damals noch viel zu jung, das hat mich noch | |
nicht betroffen. Und dann kam der Tomatenwurf, sehr spontan, und Sigrid | |
Rüger hat nun auch noch den einzigen Schwulen getroffen!“ | |
Detlev Claussen findet auch, dass Krahl das nicht verdient hatte. „Aber was | |
die Theorie des SDS anbetraf, war natürlich Krahl ein ausgewähltes Objekt. | |
Und wenn man sich Gedanken darüber macht, welche Herrschaftsfunktion | |
Theorie hat, dann kann man sagen, traf es schon auch den Richtigen. | |
Bezeichnend war ja die Sprachlosigkeit, da beziehe ich mich absolut mit | |
ein.“ | |
Bei der Fortsetzung des Kongresses in Hannover fordern Feministinnen dann | |
per Flugblatt: „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren | |
bürgerlichen Schwänzen“ und wehren sich unter anderem gegen den | |
„Bumszwang“. | |
Sibylle Plogstedt sagt heute: „Ich habe es so erlebt. Dass man nach der | |
Kneipe miteinander in irgendeinem Bett verschwand. Liebe war nicht möglich. | |
Und wenn die Männer schon bestehende Beziehungen hatten, dann wollten sie | |
die auch noch weiterführen, nebenbei.“ | |
Detlev Claussen erwidert: „Das kann ich wirklich nicht unterschreiben. | |
Natürlich gab es Typen, die geglaubt haben, so etwas propagieren zu können. | |
Aber die Liebesbeziehungen, die ich mitbekommen habe, waren so dramatisch | |
wie sonst auch in dem Alter, mit allem Drum und Dran.“ | |
Die beiden ehemaligen SDSler führen im taz-Podcast „Passierte Tomaten“ das | |
Streitgespräch, das vor 50 Jahren so nicht stattgefunden hat. Sie setzen | |
sich mit dem prägenden Moment für eine neue Welle der Frauenbewegung | |
auseinander – und diskutieren, was sich bis heute getan hat. Eines | |
formuliert auch Detlev Claussen heute deutlich: „Wir leben in einer | |
gesellschaftlichen Struktur, die durchaus noch durch männliche Herrschaft | |
gekennzeichnet ist.“ | |
Und Sibylle Plogstedt muss feststellen, dass sie nicht sicher sein kann, ob | |
das von den Frauen in den letzten 50 Jahren Erreichte haltbar ist: „Wenn | |
eine Gegenbewegung es schafft, eine Generation aus der Frauenbewegung | |
heraus zu katapultieren, dann fängt alles wieder von vorn an.“ | |
*** | |
Vom 9. bis zum 14. September 2018 veröffentlichen wir täglich ein neues | |
Podcast-Gespräch zu feministischen Streitthemen auf [2][taz.de] und unseren | |
Kanälen bei Spotify und iTunes. Alle Gespräche erscheinen zum Jahrestag des | |
Tomatenwurfs am 13. September gedruckt in der taz. Mit diesem Spezial | |
launchen wir außerdem auf taz.de [3][einen Schwerpunkt zu feministischen | |
Themen]. Schließlich steht die taz seit 40 Jahren für kontinuierliche | |
feministische Berichterstattung. | |
9 Sep 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Podcast-Passierte-Tomaten/!5534058 | |
[2] /Podcast-Passierte-Tomaten/!t5533630 | |
[3] /!p5190/ | |
## AUTOREN | |
Heide Oestreich | |
## TAGS | |
Podcast „Passierte Tomaten“ | |
Feminismus | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Podcast „Passierte Tomaten“ | |
Podcast „Passierte Tomaten“ | |
Podcast „Passierte Tomaten“ | |
Podcast „Passierte Tomaten“ | |
Podcast „Passierte Tomaten“ | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2023 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Podcast „Passierte Tomaten“: Kritik ist kostenloser Unterricht | |
Radikal oder verständnisvoll? Über feministische Strategien lässt sich | |
streiten. Dabei braucht es beides – und den Mut, Fehler zu machen. | |
Podcast „Passierte Tomaten“: Verschiedene Ziele | |
Die Fronten zwischen Queer- und Radikalfeminismus scheinen verhärtet. | |
*Trans Rapperin FaulenzA und Aktivistin Manuela Schon gehen ins Gespräch. | |
Podcast „Passierte Tomaten“: Sex ist ein Luxusgut | |
Ist Sex gegen Geld okay? Die Frage spaltet die Frauenbewegung seit jeher. | |
Sexarbeiterin Undine de Rivière und Autorin Antje Schrupp sprechen darüber. | |
Podcast „Passierte Tomaten“: Wir haben etwas verpasst | |
In der BRD herrschte eine restriktivere Familienpolitik als in der DDR. | |
Doch die Frauenbewegung hat nach der Wende wenig von den Ostfrauen gelernt. | |
Podcast „Passierte Tomaten“: „Den Feminismus aufmischen“ | |
Beyoncé und Dior machen Werbung damit, selbst Ivanka Trump nennt sich | |
Feministin. Wie viel Mainstream verträgt der Feminismus? | |
Podcast „Passierte Tomaten“: Die revolutionäre Tomate | |
Vor 50 Jahren wollten Frauen Teil der 68er-Bewegung sein – doch sie wurden | |
nicht gehört. Bis eine Tomate aufs Podium der Herren flog. | |
Historikerin über ihr Buch zu 1968: „Die NS-Väter sind ein Mythos“ | |
Die SDS-Männer waren nicht weniger sexistisch als die anderen damals. | |
Dagegen organisierte sich 1968 die Frauenbewegung, sagt Christina von | |
Hodenberg. | |
Sammelband: Vermächtnis der Frauenbewegung | |
Von Tomatenwurf bis Dekonstruktion: Ilse Lenz gibt einen voluminösen Band | |
zur neuen Frauenbewegung heraus. Angesichts der gängigen Zerrbilder ist das | |
reinste Aufklärung. |