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# taz.de -- Podcast „Passierte Tomaten“: Die revolutionäre Tomate
> Vor 50 Jahren wollten Frauen Teil der 68er-Bewegung sein – doch sie
> wurden nicht gehört. Bis eine Tomate aufs Podium der Herren flog.
Bild: Hat revolutionäres Potenzial: Die Tomate
Manchmal braucht es nur ein paar Tomaten, um eine Revolution auszulösen.
Das ist zugegebenermaßen etwas zugespitzt, aber: Hätte eine mutige Frau vor
50 Jahren ihre Rede zur „Gleichberechtigung der Geschlechter“ nicht
gehalten und eine andere Frau daraufhin den SDS-Vorstandstisch nicht mit
Tomaten beworfen, wäre die zweite Welle der Frauenbewegung in Deutschland
vielleicht ausgeblieben.
Zumindest gilt der 13. September 1968 heutzutage als Geburtsstunde einer
feministischen Revolution. Ein paar Jahre zuvor hatte sich der
Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) von der SPD getrennt, nachdem
diese sich von der marxistischen Tradition abwenden wollte. Der
Studentenbund verstand sich selbst als „Neue Linke“. Ihre Ziele waren:
Protest gegen den autoritären Staat, Ablehnung von Lobbyismus und eine neue
gleichberechtigte Gesellschaft.
Doch in ihrer gleichberechtigten Gesellschaft vergaßen sie die Frauen. So
empfand es zumindest die Sprecherin des Aktionsrates zur Befreiung der
Frauen, Helke Sander. Als einzige Frau durfte sie beim Delegiertenkongress
eine Rede halten. Diese nutzte sie, um die Männer zu beschuldigen, Frauen
in ihrer Gesellschaftskritik zu ignorieren. Sie beschrieb den SDS als
Spiegelbild einer männlich geprägten Gesellschaftsstruktur, die die Arbeit
der Frauen auch innerhalb des Studentenbundes nicht anerkannte.
Die Genossen zeigten allerdings kein Interesse daran, Sanders Rede zu
diskutieren, und wollten direkt zum nächsten Tagesordnungspunkt übergehen.
Das bewegte die ebenfalls im Saal sitzende Sigrid Rüger dazu, aus dem
Publikum Tomaten in Richtung Vorstandstisch zu werfen. Sie traf den
Cheftheoretiker Hans-Jürgen Krahl.
## Medienwirksame Provokation
Dieses Zeichen des weiblichen Protests fiel gesellschaftlich in eine Zeit,
in der Frauen zwar höhere Bildungschancen hatten und die Anzahl der
erwerbs- und berufstätigen Frauen seit 1945 gestiegen war. Doch die
patriarchalen Strukturen blieben weiterhin bestehen. Frauen verdienten
weniger und kamen nicht in Führungspositionen, mussten sich neben ihrer
Lohnarbeit noch um die unbezahlte Care-Arbeit, also den Haushalt und die
Kindererziehung, kümmern.
Der Tomatenwurf war eine medienwirksame Provokation, der viel
Aufmerksamkeit zuteil wurde. Das lag vor allem daran, dass sich die Kritik
nicht an den Staat oder Institutionen richtete, sondern an die eigenen
Genossen. In Universitätsstädten bildeten sich daraufhin vermehrt
„Weiberräte“, also Frauengruppen, die bestehende Ungleichheiten zwischen
Männern und Frauen anprangerten. Sie thematisierten unter anderem Gewalt an
Frauen und Kindern und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch.
In dieser Stimmung des Umbruchs wurde aus der Student*innenbewegung
eine soziale Bewegung. Die Forderung nach der Abschaffung des Paragrafen
218, laut dem Abtreibungen illegal sind, wurde zum einenden Element der
Frauenbewegung. 1971 sagten 374 Frauen im Stern: „Wir haben abgetrieben“ –
initiiert von Alice Schwarzer. Eine Unterschriftenaktion folgte, in der
3.000 Frauen, unter ihnen Studentinnen, berufstätige Frauen, Hausfrauen und
Mütter, forderten, den Paragrafen 218 ersatzlos zu streichen.
50 Jahre ist der Tomatenwurf nun her und die Gesellschaft hat sich seitdem
positiv gewandelt. Als Beispiel im privaten Bereich lässt sich dafür 1997
das Inkrafttreten des Gesetzes anführen, das Vergewaltigungen in der Ehe
zur Straftat machte. Im wirtschaftlichen Bereich dagegen wurde 2014 die
Frauenquote für Aufsichtsräte eingeführt. In Medien und Politik sind Frauen
sichtbarer geworden, so hat Deutschland seit 13 Jahren mit Angela Merkel
eine Frau als Bundeskanzlerin. 2018 scheint es als sei der Feminismus in
der Mitte der Gesellschaft angekommen – zumindest als Aufdruck auf
T-Shirts.
## Länderübergreifende Debatte um sexualisierte Gewalt
Doch trotz alledem haben wir noch immer eine deutliche Lohnlücke zwischen
Männern und Frauen, häusliche Care-Arbeit wird größtenteils noch von Frauen
verrichtet, Gewalt an Frauen ist immer noch erschreckender Alltag. Und
wieder diskutieren wir über die Streichung eines Abtreibungsparagrafen –
dieses Mal Paragraf 219a, der die „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche
verbietet, worunter allerdings auch Informationen fallen. Linke
Politiker*innen und mehrere Organisationen fordern auch weiterhin die
Streichung des Paragrafen 218.
Doch auch neben diesen Diskussionen passiert etwas: Seit knapp einem Jahr
gibt es eine länderübergreifende Debatte um sexualisierte Gewalt – einige
Täter haben ihre Jobs verloren, Gesetze haben sich verändert. Ausgelöst von
einem Hashtag – der Tomate des 21. Jahrhunderts. Die US-Schauspielerin
Alyssa Milano twitterte am 15. Oktober 2017 #MeToo – ein Aufruf an alle
Frauen, die sexuell belästigt wurden, dies als Statusmeldung zu schreiben.
Millionen Mal wurde #MeToo von Frauen verwendet, die von sexistischen
Sprüchen, Gewalt und Vergewaltigung erzählen.
Die Frauenbewegung vergangener Tage haben den Grundstein für heutige
Diskussionen und Forderungen gelegt. Doch das Ziel des Feminismus, das
Patriarchat abzuschaffen und damit eine geschlechtergerechte Welt zu
schaffen, ist noch nicht erreicht. Bis es soweit ist, brauchen wir
weiterhin einen antikapitalistischen und intersektionalen Feminismus. Und
viele, viele Tomaten.
8 Sep 2018
## AUTOREN
Carolina Schwarz
## TAGS
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