| # taz.de -- Philosophin über Protestbewegungen: „Ein neuer Typus der Mobilis… | |
| > Gegenwärtig sehen wir Proteste, die sich nicht auf die materielle | |
| > Umverteilung, sondern auf das Leben beziehen. Eva von Redecker hat sie | |
| > analysiert. | |
| Bild: Black-Lives-Matter-Proteste in Paris | |
| literataz: Frau Redecker, Ihr neues Buch „Revolution für das Leben“ trägt | |
| den Untertitel „Philosophie der neuen Protestformen“. Warum braucht der | |
| neue Aktivismus, etwa von Fridays for Future, eine Philosophie? Wären | |
| Pamphlete, Petitionen und Flugblätter nicht zielführender? | |
| Eva von Redecker: Zielführender vielleicht. Aber ich habe das Buch ja nicht | |
| geschrieben, um ganz bestimmte Forderungen zu platzieren oder Leute davon | |
| zu überzeugen, sich einer speziellen Protestform anzuschließen, sondern als | |
| Deutungsversuch. Und meine Beobachtung ist, dass die Theorie des Wandels | |
| und Widerstands momentan der Praxis etwas hinterherhinkt. Ob die Praxis | |
| sich dann in meiner Theorie wiederfinden kann, muss sich erst noch zeigen. | |
| Aber zu meinem Verständnis von kritischer Theorie gehört, an der | |
| Selbstreflexion von Bewegungen teilzunehmen. In dem Buch versuche ich, | |
| gewisse bisher so nicht artikulierte Gemeinsamkeiten zwischen den | |
| Bewegungen aufzudecken und damit auch einige unproduktive Konfrontationen | |
| zwischen ihnen ausräumen zu helfen. | |
| Was ist das Neue und Besondere dieser neuen Protestformen? | |
| Ich formuliere in dem Buch ja die starke These, dass wir gerade einen neuen | |
| Typus der Mobilisierung beobachten, in dem es zwar auch um materielle | |
| Umverteilung und Bürgerrechte geht, aber in dem die Kategorie des Lebens | |
| die eigentliche Grundlage bildet. Zum einen, weil durch die Erderwärmung | |
| das Leben auf diesem Planeten tatsächlich so sehr zur Disposition steht wie | |
| noch nie zuvor, auch nicht durch die atomare Bedrohung. Zum anderen, weil | |
| sich momentan sehr viele Befreiungsbewegungen auf die Kategorie des Lebens | |
| berufen. Am ausdrücklichsten tut das derzeit sicher Black Lives Matter – | |
| aber das Motiv findet sich auch im Kampf gegen Frauenmorde in Südamerika, | |
| Ni Una Menos (mit dem Slogan „Wir wollen uns lebendig“), oder im indigenen | |
| Widerstand, etwa gegen die Dakota Pipeline in den USA („Wasser ist Leben“). | |
| Und gehören die Coronademos auch dazu? | |
| Mir ist sehr bewusst, dass man mit der Kategorie des Lebens auch reaktionär | |
| mobilisieren kann, sogar faschistisch. Wo progressive Bewegungen sich auf | |
| eine Vorstellung von Leben als solidarisch, frei und verbunden beziehen, | |
| agieren andere im Sinne dessen, was ich das eingehegte oder auch gepanzerte | |
| Leben nenne: ein Verständnis seiner Freiheit als Besitztum, das es wüst | |
| gegen externe Beweggründe zu verteidigen gilt. Sei es, Masken zu tragen | |
| oder zum Schutz Schwächerer zu Hause zu bleiben – das erscheint dann alles | |
| nur noch als Einschränkung anstatt als Form des Miteinanders. | |
| Sie sprechen ganz bewusst von Revolution im Gegensatz zu Reformen. Was für | |
| einen Begriff von Revolution verwenden Sie? Laufen radikale Umstürze nicht | |
| immer Gefahr, in Gewalt umzuschlagen? | |
| Ich glaube, unsere gesamte Zivilisation läuft immer Gefahr, in Gewalt | |
| umzuschlagen und tut das auch zuverlässig, aber Revolutionen haben | |
| nichtsdestotrotz eine besonders heikle Bilanz. Ich vertrete deshalb einen | |
| eher prozessualen Revolutionsbegriff, der den Unterschied zur Reform gerade | |
| nicht an der Geschwindigkeit der Veränderung festmacht, sondern an ihrem | |
| Horizont. Wenn wir unser Zusammenleben wirklich lebendig, glücklich, frei | |
| gestalten wollen, muss sich beinah alles daran ändern. Es reicht nicht, die | |
| kapitalistische Produktion (alt-)sozialistisch „nur“ in proletarische Hände | |
| zu legen, sondern wir müssen ganz anders zu produzieren lernen. | |
| Was muss geschehen, damit die Revolution für das Leben, wie Sie sie nennen, | |
| gelingt? Und für wie realistisch halten Sie das? | |
| Ich glaube, dass sie stellenweise schon gelingt. Wenn ich recht habe mit | |
| meiner Analyse des Kapitalismus als einer solch grundlegenden Art, unsere | |
| Gesellschaft mit Mitteln der Unterwerfung, Spaltung und Destruktion zu | |
| organisieren, muss man sich ja über jeden Zwischenbereich, in dem | |
| verbundenes, zärtliches Leben herrscht, freuen. Und ohne dass Menschen | |
| ständig auch ihren basalen solidarischen Neigungen nachgingen, wäre das | |
| System ja schon längst zerbrochen. Was ein wirkliches Gelingen angeht, | |
| diesen Destruktionszusammenhang umzukrempeln, macht es mir Hoffnung, dass | |
| ich Bewegungen beobachte, die das offensichtlich überhaupt für möglich | |
| halten – aber wahrscheinlich ist der Erfolg wahrhaftig nicht. Trotzdem | |
| können wir als erzählende Tiere gar nicht anders, als uns auch glückende | |
| Geschichten über uns zu erzählen und auf der Suche nach neuen | |
| Zusammenhängen zu sein. | |
| Unsere Gegenwart ist sehr dramatisch. Anstatt uns mit der Frage eines | |
| sinnvollen Lebens zu beschäftigen, hecheln wir vielleicht gerade eher den | |
| Ereignissen hinterher. | |
| Auf eine Art bin ich auch dankbar, in so dramatischen Zeiten zu leben und | |
| versuchen zu können, zusammen mit anderen, die das noch viel vehementer | |
| tun, für die Rettung zu arbeiten. Und es wäre dann kein Fehler, wenn es | |
| nicht klappt. Sondern der Fehler wäre, es nicht zu versuchen. | |
| 14 Oct 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Wohlfarth | |
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