# taz.de -- Philosoph Gernot Böhme über Stadtklang: Eine Musik der Vielsprach… | |
> Wie nehmen wir die Geräusche unserer Umwelt wahr? Gernot Böhme plädiert | |
> für eine Kultur des neuen Hörens von Stadträumen. | |
Bild: Nacht in Florenz – „Alte italienische Innenstädte sind ziemlich stei… | |
taz: Herr Böhme, in Ihrem Essay „Anmutungen über das Atmosphärische“ mac… | |
Sie sich grundlegende Gedanken zum Klang der Stadt. Können Sie Atmosphäre | |
als Begriff fassbar erklären? | |
Gernot Böhme: Ganz allgemein würde ich sagen: Atmosphäre ist ein gestimmter | |
Raum, eben der Raum, insofern er einem eine bestimmte Befindlichkeit oder | |
Stimmung vermittelt. Wie fühle ich mich in diesem Gebäude; wie fühle ich | |
mich auf diesem Platz, in dieser Stadt. Natürlich hängt dies davon ab, wie | |
der Ort um mich objektiv gestaltet ist. Und was sich dort abspielt. | |
Befindlichkeit ist etwas Subjektives. Die Atmosphäre ist zwischen | |
objektiven Daten und meiner Befindlichkeit. Ihr Spezifisches ist das, was | |
beides miteinander vermittelt. Die akustische Atmosphäre ist eine wichtige | |
Dimension davon. | |
Beeinflussen Klänge Stimmungen? | |
Klänge und Stimmungen hängen ganz intim zusammen. Das hat auch damit zu | |
tun, dass man ihnen passiver ausgesetzt ist. Sehen ist ja ein viel | |
aktiverer Akt als Hören. Es hängt auch damit zusammen, dass Klänge | |
unmittelbarer unseren leiblichen Raum formen. Damit meine ich das | |
Nach-draußen-hinaus-Spürende, das Leibgefühl, das in den Raum hinaus geht, | |
aber auch durch den Raum eingeschränkt wird. Und die Klänge sind ein | |
Medium, das unser leibliches Spüren ziemlich direkt beeinflusst. | |
Der Mystiker und Philosoph Jakob Böhme hat im 16. Jahrhundert postuliert: | |
Die Welt ist ein großes Konzert. Wie verstehen Sie dies? | |
Wir verstehen die Welt ja als einen Zusammenhang von Wechselwirkungen. Das | |
eine Ding wirkt auf das andere. Das sind also Energie- und Kraftwirkungen. | |
Während Jakob Böhme daran gedacht hat, dass das eine Ding dem anderen Ding | |
Signale gibt, und diese werden aufgenommen. Das heißt also, das Ding ist in | |
der Welt vor allem durch seinen Ton und seinen Geruch, wie er sagt, und das | |
wird von anderen aufgenommen. Vor allem über den Ton ergibt sich dann der | |
Zusammenhang der Welt als großes Konzert aller Dinge. | |
Wie klingt dann die Stadt? | |
Die Stadt ist natürlich ein Teil dieses Konzerts. Es wäre interessant, wenn | |
wir an diesem Konzert mehr teilnehmen würden. Faktisch ist unser Leben | |
anders eingerichtet. Wir hören im Alltag weg. Wir machen unsere Ohren zu | |
oder stöpseln etwas anderes in sie hinein, um das, was draußen vor sich | |
geht, nicht zu hören. | |
Die uns umgebenden Geräusche wurden schon in den sechziger Jahren in der | |
E-Musik zu Musik verarbeitet, und sei es das Knarren einer Tür bei Pierre | |
Henry. | |
Klänge haben ihre Frequenzen, haben ihre Tonqualitäten, aber sie können | |
sich auch durch den Raum bewegen und können im Raum Figuren und Gestalten | |
bilden. Duchamp hat bereits 1913 in einer Notiz von einer akustischen | |
Skulptur gesprochen, und diese Idee einer akustischen Skulptur versucht zum | |
Beispiel die Klangkunst heute zu realisieren. Hören ist immer auch ein | |
räumlicher Vorgang. Selbst wenn man mit dem Kopfhörer lauscht, ist es so, | |
dass das, was man hört, in einem akustischen Raum sich abspielt. | |
Vieles von dem, was Sie über die Anmutung von Klangräumen gesagt haben, | |
findet in der Popmusik seit Langem statt. Sie wird mit bestimmten | |
Halleffekten im Studio produziert. | |
Diese neue Auffassung von Musik als Raumkunst ist wesentlich durch die | |
elektronische Technologie bestimmt. Das, worum es eigentlich geht, dass | |
Töne Gebilde im Raum sind, kann man dadurch erst richtig analysieren und | |
produzieren. | |
Können Sie mir zwei Beispiele geben für besondere städtische | |
Klangarchitektur? | |
Alte italienische Innenstädte sind ziemlich steinern und fast so etwas wie | |
Innenräume. Da ist es ein unglaubliches Vergnügen, vor allem am Abend, zu | |
hören, wie die Menschen durch die Straßen gehen. Das Nordwest-Zentrum in | |
Frankfurt ist ein sehr großes Einkaufszentrum mit sehr viel | |
Binnenbegrünung. Dort spielen auch verschiedene Idiome eine Rolle. Wir | |
leben ja inzwischen in einer multikulturellen Welt, das heißt eben auch | |
Vielsprachigkeit. Wenn man dann durch die Wandelhalle geht, ist eine Musik | |
der Vielsprachigkeit zu hören. Außerdem gibt es ein ausgeklügeltes | |
Brunnensystem, für die Kinder ein großes Vergnügen. | |
In Malls werden Geräuschkulissen aber auch eingesetzt, um die Kundenströme | |
zu leiten. | |
Auf jeden Fall. Das Ergebnis meiner Recherche war jedoch, dass ich sie | |
unter der Überschrift „Flanieren in Shopping Malls“ zusammengefasst habe. | |
Die Menschen gehen nicht nur zum Einkaufen in die Malls. Man muss | |
akzeptieren, dass Shopping Malls heute ganz normale Lebensräume sind. | |
Es gibt ja auch den speziellen Klang von Naziarchitektur und die | |
beispiellose propagandistische Ausnutzung von Klangräumen durch die Nazis. | |
Lassen sich Klangräume vor Missbrauch schützen? | |
Teils warnend, teils hoffnungsvoll hat Walter Benjamin 1937 in seinem | |
Aufsatz über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen | |
Reproduzierbarkeit darauf hingewiesen, dass er in jener Zeit eine | |
Ästhetisierung der Politik und Politisierung der Ästhetik erlebt hat und | |
das wirkt sich auch gerade kritisch auf die großen Inszenierungen aus, die | |
die Nazis zu Propagandazwecken gemacht haben. Die waren Meister der | |
Inszenierung von Klangatmosphären, und zwar zum Zwecke der Mobilisierung | |
von Massen. Atmosphären sind nicht per se etwas Harmloses, Nettes, mit | |
denen das menschliche Leben verbessert wird. Sie sind auch ein mögliches | |
Instrument der Manipulation. | |
Wie stellen Sie sich die Klangatmosphäre einer Stadt der Zukunft als | |
Idealbild vor? | |
Es ist gerade in diesem Bereich, wegen der rasanten Entwicklung von | |
Technologie, gar nicht abzusehen, was noch auf uns zukommt. Deshalb möchte | |
ich lieber bei der Frage bleiben, um was geht es in der Gegenwart. Ich | |
würde hoffen, dass die Politik in Bezug auf den Klang der Städte und der | |
Architektur nicht bloß beim Lärm und beim Dezibelwert stehen bleibt. Es | |
muss viel mehr um den Charakter der Sounds gehen. Da gibt es viel | |
positivere Gestaltungsmöglichkeiten. Lärm als solcher ist nicht das Übel, | |
sondern es geht um die Frage: Was hören wir eigentlich. Vonseiten des | |
Teilnehmenden würde ich sagen, dass hier ein neues Aufschließen gegenüber | |
einem ästhetischen Raum angezeigt wäre. Das Lernen eines neuen Hörens. Ich | |
kann das nur von mir selbst sagen, ich bewege mich anders in Räumen, weil | |
ich inzwischen ein offeneres Ohr für sie habe. | |
17 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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