| # taz.de -- Pflegenotstand: Welcome to Deutschland | |
| > Immer mehr Pflegekräfte aus Drittstaaten arbeiten in deutschen | |
| > Krankenhäusern und Altenheimen. Wie erleben sie ihren Arbeitsalltag? Fünf | |
| > Protokolle. | |
| Bild: Bürokratische Hürden für ausländische Pflegekräfte | |
| ## Alberto Gutierrez* (32) aus Mexiko | |
| Eigentlich wollte ich in die USA auswandern, aber dann habe ich zufällig | |
| bei Facebook gesehen, dass Deutschland dringend zusätzliches Pflegepersonal | |
| braucht. Ich war neugierig auf das Land und dachte, okay, dann kann ich das | |
| ja mal ausprobieren. | |
| Ich habe daraufhin Kontakt zu einer Personalagentur in Mexiko aufgenommen, | |
| 2016 war das. Die hat mir verschiedene Arbeitgeber in Deutschland | |
| vorgestellt. Aus ihren Vorschlägen habe ich das Krankenhaus in Berlin | |
| herausgesucht, in dem ich noch heute arbeite. Die Agentur organisierte auch | |
| meinen Deutschkurs, den ich ein Jahr lang besucht habe, bevor ich Anfang | |
| November 2018 ins Flugzeug nach Berlin gestiegen bin. | |
| Ich hatte mich total auf diesen Neuanfang gefreut, aber die Stadt begrüßte | |
| mich erst mal mit Dunkelheit und Kälte. Gerade diese Kälte war ein echter | |
| Schock für mich, denn ich komme aus einem Dorf, in dem das ganze Jahr | |
| Temperaturen über 30 Grad herrschen. Deshalb war dieser erste Winter auch | |
| besonders hart für mich, mein Körper war die Minusgrade einfach nicht | |
| gewöhnt. | |
| In meinem ersten Jahr in Deutschland hatte ich so krasses Heimweh, dass ich | |
| ganze zehn Kilo abgenommen habe. Zehn Kilo! Ich vermisste einfach alles, | |
| was ich in Mexiko zurückgelassen hatte: meine Familie, meine Freunde, das | |
| gute Essen, die Sonne … Und das, obwohl ich mich monatelang auf meine | |
| Auswanderung vorbereitet hatte. | |
| Auf der Arbeit hat mich einiges überrascht. Einer der einprägsamsten | |
| Momente war, als meine neue Chefin mich anrief, um mit mir über meinen | |
| Urlaub zu sprechen. Ich konnte kaum glauben, dass ich noch vor Ende meines | |
| ersten Jahres das Recht hatte, mich für ein paar Tage auszuruhen. In Mexiko | |
| hat man nur sechs Tage Urlaub im Jahr, und den kann man erst nehmen, wenn | |
| man zwölf Monate lang gearbeitet hat. | |
| Ein weiterer Unterschied bei der Arbeit ist die Beziehung zu den | |
| Vorgesetzten. In meinem Heimatland ist sie hierarchischer. Hier habe ich | |
| zwar eine Chefin, aber die hat mir schon am ersten Tag das Du angeboten und | |
| mich gebeten, sie nicht wie eine Vorgesetzte zu behandeln, da wir in erster | |
| Linie Kollege und Kollegin seien. | |
| ## Nur wenig Anerkennung | |
| Ich bin als Krankenpfleger auf der Beatmungsstation eingeteilt worden, weil | |
| ich dazu bereits Erfahrungen in Mexiko gesammelt hatte. Ich unterstütze | |
| hier nun vor allem die Anästhesisten im Operationssaal. Meine Aufgabe ist | |
| es, Patienten an Beatmungs- und Narkosegeräte anzuschließen oder sie zu | |
| intubieren. Deshalb musste ich während der Pandemie auch an vorderster | |
| Front bei der Versorgung von Patienten mit Covid-19 mithelfen. Das war eine | |
| echt heftige Zeit. | |
| Doch wenn ich heute zurückblicke, bin ich der Überzeugung, dass es die | |
| beste Entscheidung war, nach Deutschland zu kommen. Das heißt nicht, dass | |
| hier alles perfekt ist, aber wenn ich die guten Erfahrungen gegen die | |
| schlechten abwäge, überwiegen die guten. | |
| Nur einmal, das war noch ganz zu Beginn, hätte ich fast alles | |
| hingeschmissen. Das war, als ich aus Versehen am Computer einen Fehler bei | |
| der Einweisung eines Patienten gemacht hatte. Da schrie mich ein Kollege | |
| an: „Warum machst du so was? Frag doch erst mal nach!“ An diesem Tag | |
| verließ ich niedergeschmettert die Station. Und dann erst die vielen | |
| Missverständnisse wegen der Sprache. Wegen denen habe ich mich mehr als | |
| einmal in der Toilette eingeschlossen und mich gefragt, was ich hier | |
| eigentlich mache. | |
| Wenn mich heute jemand fragt, was man verbessern könnte, dann würde ich | |
| sagen: die [1][Willkommenskultur]. Denn obwohl sie in der Theorie | |
| existiert, habe ich am eigenen Leib erfahren, dass es in der Praxis oft an | |
| Empathie und Zugewandtheit gegenüber uns Neuen fehlt. | |
| Nichtsdestotrotz bin ich geblieben und lebe jetzt schon seit fünf Jahren | |
| hier. Mein Job macht mir total viel Spaß, ich habe kein Bedürfnis | |
| zurückzugehen. Mir gefällt es, dass nicht nur die Patienten, sondern auch | |
| die Angehörigen meine Arbeit anerkennen und dankbar dafür sind. | |
| Ich würde mir dennoch wünschen, dass alle, wirklich alle Menschen | |
| berücksichtigen, was wir Migranten für die Gesellschaft leisten. Denn ich | |
| bin ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft, das Steuern zahlt und | |
| wichtige Arbeit in einem Bereich leistet, in dem nur wenige Deutsche | |
| arbeiten wollen. Protokoll: Yetlaneci Alcaraz | |
| ## Juliana Silva* (31) aus Brasilien | |
| Ich wollte nie im Ausland leben. Ich war gerade am Ende meines Studiums und | |
| bereitete mich auf eine Spezialisierung in der Geburtshilfe vor, als ich | |
| von dem Anwerbeprogramm für Krankenschwestern und -pfleger aus Deutschland | |
| hörte. Ich wusste nichts vom Fachkräftemangel im Gesundheitsbereich. In | |
| meiner Naivität hörte sich das nach einer unschlagbaren Chance an. Ich | |
| hatte keine Kinder, war jung und lebte bei meiner Mutter. Die | |
| Spezialisierung konnte warten. | |
| Die Unterlagen, die ich für die Auswanderung benötigte, waren sehr | |
| spezifisch. So musste ich mir zum Beispiel eine detaillierte | |
| Aufschlüsselung aller praktischen Studienfächer beim Immatrikulationsamt | |
| meiner Universität besorgen und sie übersetzen lassen. Die Übersetzungen | |
| mussten anschließend beglaubigt werden, was nur bei spezialisierten Notaren | |
| außerhalb der Stadt möglich war. [2][Für die Anerkennung der Dokumente] war | |
| wiederum das Krankenhaus in Hessen zuständig, für das ich künftig arbeiten | |
| sollte. | |
| Ich kam im Oktober 2016 in Deutschland an. Der Anfang war schrecklich. Wir | |
| waren 13 Krankenschwestern und die ersten Brasilianerinnen, die das | |
| Unternehmen jemals eingestellt hatte. Eine Art Testgruppe. Wir erlebten | |
| eine Reihe von Enttäuschungen. Angefangen mit dem Deutschkurs in Brasilien, | |
| der weder die Fachterminologie noch nützliches Vokabular für den | |
| Pflegealltag enthielt. Wir haben auch keine wirkliche Einweisung im | |
| Krankenhaus selbst erhalten. Wir haben einfach angefangen zu arbeiten. | |
| Ich dachte, dass wir angesichts des Personalmangels gut aufgenommen werden. | |
| Doch das Gegenteil war der Fall. Unsere Kolleginnen und Kollegen waren | |
| nicht auf unsere Ankunft vorbereitet. Informationen über unseren | |
| beruflichen Hintergrund und unsere Deutschkenntnisse wurden nicht richtig | |
| vermittelt. Die sowieso schon überforderten MitarbeiterInnen mussten uns | |
| nun also zusätzlich noch beibringen, wie alles funktioniert. Kein Wunder, | |
| dass sie da ungeduldig wurden. Trotzdem fand ich es menschlich | |
| enttäuschend, dass sie mit den Augen rollten, wenn wir etwas nicht | |
| kapierten, und dass sie uns auf Schritt und Tritt testeten und | |
| kontrollierten. | |
| Es gab auch kein Interesse daran, uns besser kennenzulernen. Stattdessen | |
| bezeichneten sie mich oft als „die Brasilianerin aus der Gynäkologie“. | |
| ## Die übergriffige Oberschwester | |
| Bei einer Operation versuchte eine Kollegin, mich in Verlegenheit zu | |
| bringen: „Hey, kannst du mir erklären, was das für ein Verfahren ist?“ | |
| Natürlich konnte ich das. Nur anfangs nicht auf Deutsch. Selbst unter uns | |
| durften wir kein Portugiesisch sprechen. Einmal, vor dem Gebäude, in dem | |
| wir wohnten, unterbrach die Oberschwester unser Gespräch, um uns zu sagen, | |
| dass wir Deutsch sprechen müssten. Wir waren nicht mal im Krankenhaus. | |
| Eine Situation hat mich besonders irritiert. Am Ende eines technischen | |
| Kurses wurde der Vertrag einer deutschen Auszubildenden nicht verlängert. | |
| Ich bereitete gerade chirurgische Instrumente vor, als ich eine Kollegin | |
| sagen hörte: „Ich verstehe das nicht. Die holen lieber Ausländer, als uns | |
| Deutsche einzustellen.“ Als sie merkte, dass ich mit im Raum war, sagte | |
| sie, sie habe nichts gegen mich. Aber wie sollte ich es anders verstehen, | |
| wenn ich auch Ausländerin bin? | |
| Ich bekam Angst, zur Arbeit zu gehen. Ich fragte mich: „Wie wird es heute | |
| sein? Wie werden sie mich behandeln?“ Ich habe oft daran gedacht zu | |
| kündigen. Ich blieb nur wegen der zweijährigen Verpflichtung, die ich | |
| eingegangen war, und den 5.000 Euro, die ich im Falle eines Ausstiegs hätte | |
| zahlen müssen. Und es war nicht nur für uns Brasilianerinnen schwierig. Von | |
| der Gruppe der Spanierinnen, die unserer vorausgegangen war, ist niemand | |
| mehr da. Sie sind alle zurück in ihre Heimat gegangen. | |
| Bei mir haben die Dinge unverhofft eine andere Wendung genommen. Kurz vor | |
| Ablauf der zwei Jahre lernte ich meinen Freund kennen. Am Ende blieb ich | |
| der Liebe wegen und weil ich hier meinen Sohn mit mehr Ruhe und Sicherheit | |
| großziehen kann. | |
| Letztes Jahr habe ich ein Instagram-Profil mit Inhalten über die Pflege und | |
| Tipps für BrasilianerInnen, die in Deutschland arbeiten möchten, erstellt. | |
| Ich möchte anderen dabei helfen, bessere Erfahrungen zu machen als ich. | |
| Mein Freund hatte dann die Idee, eine Anwerbeagentur zu eröffnen, ähnlich | |
| wie die, die mich hierher gebracht hat. | |
| Wir haben bereits die ersten Schritte unternommen. Wir haben zwei Websites | |
| eingerichtet: eine für Krankenhäuser und die andere für brasilianische | |
| Fachkräfte. Wir haben viele Bewerbungen erhalten. Unser Hauptaugenmerk | |
| liegt nun darauf, den Kontakt zu den Krankenhäusern herzustellen. Da gibt | |
| es noch viel zu tun. Aber wir haben Zeit. Protokoll: Fernanda Thome | |
| ## Ousmane Sarr* (31) aus Senegal | |
| Ich hatte mich in der Schule bewusst für Deutsch als Fremdsprache | |
| entschieden. Die Sprache gefiel mir und ich wusste, sie ist eine Tür zu | |
| meiner Zukunft. Mit Deutsch kann man Lehrer werden oder am Goethe-Institut | |
| arbeiten – oder versuchen, nach Deutschland zu gehen. Mein Vater sagte: | |
| Lernen lohnt sich immer. Nach dem Abitur habe ich in Dakar Germanistik | |
| studiert. | |
| Ungefähr ab 2018 haben wir viele Anzeigen in den sozialen Medien gesehen, | |
| für einen Bundesfreiwilligendienst in Deutschland, für FSJ und für | |
| Ausbildungen. Ein Freund aus unserem Jahrgang ging als Erster an eine | |
| [3][Rehaklinik] in Niedersachsen, als Bufdi. Wir blieben die ganze Zeit in | |
| Kontakt. Er sagte: Es ist machbar. 2019 bin ich auch gegangen, an dieselbe | |
| Klinik. Ich wusste, man hilft Leuten, die sich von einer Krankheit erholen, | |
| das fand ich interessant. Erst mal das Jahr, dann weitersehen, dachte ich. | |
| ## Beim Essen gespart | |
| Die Klinik hatte eine Wohnung für uns gemietet, gegessen haben wir oft bei | |
| der Arbeit. So konnte ich von dem dünnen Lohn sogar schon etwas nach Hause | |
| schicken. Wenn man nach Europa geht und arbeitet, will man gerne die | |
| Familie unterstützen, das ist normal für uns. | |
| Unsere Aufgabe als Bufdis war es, Patienten zu ihren Anwendungen zu bringen | |
| oder zum Essen und ihnen zum Beispiel mit Stützstrümpfen zu helfen. Man | |
| merkt schnell, dass der Beruf wichtig und schön ist. Zu einigen Patienten | |
| von damals habe ich immer noch Kontakt. | |
| Ich komme aus einem kleinen Ort an der Küste von Senegal. Wir haben das | |
| Meer und den Fluss mit den schönen Mangroven. Ehrlich, wenn man nach | |
| Deutschland kommt, hat man erst mal einen Kulturschock. Die Arbeit war | |
| nicht das Problem. Aber die Speisen, das Wetter, wie die Menschen leben. | |
| Wenn ich in meinem Dorf morgens aus dem Haus gehe, begrüße ich in Ruhe | |
| alle, die ich treffe. Wenn du hier morgens jemanden siehst, guckt er nur | |
| nach vorne – man sieht, der ist im Kopf schon bei seiner Arbeit. Natürlich | |
| kann man hier auch Hallo sagen, aber es ist anders. Normal, alle haben ihre | |
| eigene Kultur. Wir waren darauf vorbereitet, weil wir im Studium viel über | |
| Deutschland gelernt hatten. Trotzdem war es hart am Anfang. | |
| Unser Glück war, dass wir früh eine Dame kennengelernt haben, die uns | |
| geholfen hat. Sie hat auch in der Rehaklinik gearbeitet. Bis heute ist sie | |
| unsere große Stütze. Wir waren drei Bufdis aus dem Senegal am Anfang, ein | |
| Jahr später drei neue, dann wieder neue, und für uns alle ist sie unsere | |
| deutsche Mama. Sie hat uns immer geholfen, in allen Situationen. Ohne | |
| Menschen wie sie wäre es sehr, sehr schwer. Behörden, Bewerbungen, | |
| Rundfunkgebühr, Arztbesuche, Bahnfahrten: Das alleine zu verstehen ist | |
| unmöglich. | |
| Aber nicht alle Begegnungen sind gut. Menschen haben Vorurteile. Ich werde | |
| von Leuten angesprochen, die denken, ich verkaufe Drogen. Einer hat mich | |
| mit dem Fahrrad verfolgt deswegen, bis zu mir nach Hause. Das ist sehr | |
| verletzend. Ich habe noch nie geraucht oder Alkohol getrunken, ich habe | |
| damit nichts zu tun. Alle meine ausländischen Kollegen erleben das hier. | |
| Viele Leute denken auch, dass wir kein Deutsch können. Oder dass wir hier | |
| sind, weil wir in Afrika nichts zu essen haben. Oder dass wir als | |
| Flüchtlinge gekommen sind. Alles Dinge, die nicht wahr sind. Ich habe ein | |
| Visum beantragt, es bekommen und bin mit dem Flugzeug eingereist. Anders | |
| wäre ich nicht nach Europa gegangen. | |
| Meine Stärke ist: Ich denke immer positiv. Ich habe Ziele. Ich weiß, wer | |
| ich bin, ich kenne meinen Wert. Aber: Ich akzeptiere nicht, wenn jemand | |
| meine Würde verletzt oder mich respektlos behandelt. Dann sage ich Stopp. | |
| Ich bin jetzt seit vier Jahren in Deutschland. Nach dem Bufdi wusste ich, | |
| die Ausbildung zum Pflegefachmann ist das Richtige für mich. Bei uns im | |
| Senegal gibt es keine Altenheime, alte Menschen leben mit ihren Familien. | |
| Bevor ich hier war, konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, was das ist. | |
| Jetzt weiß ich es genau. | |
| Ich habe schon verschiedene Angebote für die Zeit nach dem Examen nächstes | |
| Jahr – Kinderpsychiatrie, Rehaklinik, Altenheim. Alle Bereiche machen mir | |
| Spaß, also mal sehen. Auch die Idee mit der ambulanten Pflege finde ich | |
| sehr gut. Nicht jeder will in ein Heim, und man kann die Wünsche der | |
| Menschen nicht ignorieren. Man hilft ihnen zu Hause und macht etwas | |
| Wichtiges für die Gesellschaft. Aber dafür brauche ich erst einen | |
| Führerschein. | |
| Ich bin gut angekommen in Deutschland. Aber ich werde immer wieder zurück | |
| in die Heimat fahren, so oft es geht. Meine Frau und meine beiden Söhne | |
| sind dort. Gerade warte ich auf einen Termin bei der deutschen Botschaft in | |
| Dakar, für ein Visum, damit sie mich besuchen können. Es wäre schön, wenn | |
| wir richtig zusammenleben könnten, aber das ist nicht so einfach. Ich muss | |
| erst noch weiterkommen. Als Nächstes fliege ich aber zu ihnen, ich habe | |
| Urlaub. Es ist die dritte Heimreise seit 2019. Zu Hause ist zu Hause. | |
| Protokoll: Anne Diekhoff | |
| ## Marcela Costa (32) aus Brasilien | |
| Viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die mit mir 2018 ihren Abschluss | |
| gemacht haben, sind sofort nach Deutschland gegangen. Das hatten wir als | |
| mögliche Perspektive immer mitgedacht. Ich entschied mich jedoch für eine | |
| Spezialisierung auf psychische Gesundheit in Brasilien. | |
| Ich war bereits in dem Bereich tätig, als ich von einem | |
| Einstellungsprogramm für Pflegekräfte in einem Krankenhaus in Berlin hörte. | |
| Die Stadt, der ja ein positiver Ruf vorauseilt, interessierte mich. Und im | |
| Vergleich zu dem, was ich damals an Geld bekam, war das Gehalt besser. | |
| Außerdem war ich neugierig, wie die Arbeitsbedingungen in einem so | |
| entwickelten Land wie Deutschland sind. Ich bewarb mich. | |
| Wir waren eine Gruppe von 24 Krankenschwestern. Der Vorbereitungsprozess, | |
| der noch in Brasilien stattfand, dauerte ein Jahr. Wir besuchten einen | |
| Intensivkurs in Deutsch, während sich das Krankenhaus in Berlin um die | |
| Bürokratie kümmerte. Alle zwei Wochen hatten wir Online-Nachbesprechungen | |
| mit den Vorgesetzten des Krankenhauses. Alles verlief reibungslos. Die | |
| Vorstellung, dann bald auch in Deutschland zu arbeiten, reifte allmählich | |
| in mir heran. Ich freute mich darauf. | |
| Als die Zeit kam, war ich euphorisch. Ich wollte auf Partys gehen, neue | |
| Leute kennen lernen, Berlin erkunden. In Brasilien hatte ich bereits in | |
| drei Städten gelebt. Ich war es gewohnt, bei Null anzufangen. Ich hatte | |
| einen ersten Monat voller Entdeckungen. Im Krankenhaus wurde ich auf einer | |
| neurologischen Station eingeteilt. Ich hatte keine klinische Erfahrung und | |
| war froh über die Möglichkeit, etwas Neues zu lernen. | |
| ## Kein Job für immer | |
| Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich die Sprachbarriere, insbesondere am | |
| Arbeitsplatz, als schwieriger erwies, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich | |
| begann, Situationen zu erleben, in denen Patienten sagten: „Ich will | |
| jemanden, der richtig Deutsch spricht.“ Ich hatte schreckliche Angst, ans | |
| Telefon zu gehen. Ich konnte mich nicht richtig ausdrücken und hatte das | |
| Gefühl, dass deutsche Kolleginnen und Kollegen und Patient:innen | |
| deshalb meine Kompetenz nicht anerkannten. Ich fühlte mich zunehmend | |
| unsicher und nicht gewürdigt. | |
| Auch die Arbeitspraxis stellte für mich eine Herausforderung dar. Anders | |
| als ich es gewohnt war, herrschen in deutschen Krankenhäusern unregelmäßige | |
| Arbeitszeiten. Von uns wird erwartet, dass wir abwechselnd Tag- und | |
| Nachtschichten machen, manchmal bis zu sieben Schichten in einer Woche. Das | |
| ist sehr anstrengend. In Brasilien konnte ich regelmäßig auf die | |
| Unterstützung von Pflegehelfern zählen. Hier gibt es zu viel Arbeit für zu | |
| wenige Fachkräfte. Wir kümmern uns oft ganzheitlich um die | |
| Patient:innen und übernehmen zusätzliche Aufgaben wie Baden und die | |
| Essensausgabe. | |
| Die Sprachbarriere, die Arbeitsüberlastung und mein Heimweh haben sich auf | |
| meine psychische Gesundheit ausgewirkt. Seit zehn Monaten durchlebe ich nun | |
| schon emotionale Höhen und Tiefen.Trotz allem fühle ich mich von meinem | |
| Team unterstützt. Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen sind | |
| Ausländer, sie haben den gleichen Prozess durchlaufen. Sie sind es, die mir | |
| bei der Vorbereitung der Medikamente helfen, wenn ich mir unsicher bin, ob | |
| ich bestimmte Bezeichnungen korrekt verstehe. Wenn sie sehen, dass ich mit | |
| der Zahl der mir anvertrauten Patienten nicht zurechtkomme, unterstützen | |
| sie mich. | |
| Vor einigen Wochen war ich psychisch krank und musste ein paar Tage der | |
| Arbeit fernbleiben. Auch damals fühlte ich mich von meinem Vorgesetzten | |
| verstanden und umsorgt. | |
| In zwei Monaten läuft mein Vertrag mit dem Krankenhaus aus. Und obwohl ich | |
| unbedingt nach Brasilien zurückkehren möchte, habe ich noch keine | |
| Entscheidung über meine Zukunft getroffen. Ich fühle mich an einem | |
| Scheideweg. Durch die Erfahrung, die ich in Deutschland gemacht habe, ist | |
| mir klar geworden, dass die desolate Lage im Gesundheitsbereich ein | |
| globales Problem ist. Die Krankenpflege, [4][ein traditionell von Frauen | |
| ausgeübter Beruf], ist gesellschaftlich immer noch unterbewertet. | |
| Ich dachte, ich würde hier bessere Bedingungen vorfinden. Leider sieht die | |
| Realität anders aus. | |
| Nach dem Streik der Pflegekräfte in Berlin zu Beginn des Jahres konnten wir | |
| eine Lohnerhöhung durchsetzen. Trotzdem finde ich, dass es sich nicht | |
| lohnt. Die Arbeit ist zu schwer. Wie andere Kolleg:innen habe ich | |
| überlegt, den Beruf zu wechseln. Vielleicht Design. Etwas Kreativeres, | |
| weniger Anspruchsvolles, wo ich mehr Flexibilität und Anerkennung bekomme. | |
| Protokoll: Fernanda Thome | |
| 24 Jun 2023 | |
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