# taz.de -- Parteitag der Grünen: Die Grünen – ein Wintermärchen | |
> Auf ihrem Parteitag küren die Grünen Robert Habeck mit 96,48 Prozent der | |
> Stimmen zum „Kandidaten für die Menschen“ und gehen motiviert in den | |
> Wahlkampf. | |
Bild: Mit dir? Nein, mit dir! Ostentative Harmonie zwischen neuen Nummer 1 und … | |
Seinen zweiten Satz nimmt die Partei Robert Habeck nicht ab. Wahrscheinlich | |
glaubt er es ja selber nicht. „Ich kann das nicht so gut, dieses Lobhudeln | |
und die Komplimente annehmen“, sagt er zu Beginn seiner Bewerbungsrede am | |
Sonntagmittag in der Wiesbadener Kongresshalle. Dann muss er auch schon die | |
erste Pause machen, weil ein Lachen durchs Publikum rollt. Ja klar, dem | |
Vizekanzler, der seine Eitelkeit noch nie verbergen konnte, ist das | |
unangenehm: dass er nach all den Jahren endlich am Ziel ist, dass die | |
Partei ihn jetzt feiert und er sie in diesem Wahlkampf anführen darf. | |
Als Kanzlerkandidat, auch wenn die Grünen das an diesem Wochenende so | |
selten sagen. Mit rund 10 Prozent in den Umfragen wollen sie nicht zu | |
breitbeinig auftreten. Als „Kandidat für die Menschen im Land und wenn sie | |
wollen auch als ihr Kanzler“ hat Annalena Baerbock ihn auf der Bühne etwas | |
verdruckst angekündigt, ähnlich steht es auch in der Beschlussvorlage für | |
die Nominierung. | |
Aber ob Menschenkandidat oder Kanzlerkandidat: Sei’s drum, er steht jetzt | |
vorne. Und das mit größerem Rückhalt als mitunter gedacht. Annalena | |
Baerbock, zu der er zwischendurch ein gespaltenes Verhältnis hatte, wird | |
ihn im Wahlkampf als Nummer 1b unterstützen. Auf der Parteitagsbühne preist | |
sie ihn: „Wir sind im Team unschlagbar mit unserem Robert an unserer | |
Spitze!“ Und auch die Partei zieht mit, zumindest nach außen. Noch vor | |
wenigen Wochen war die Skepsis unübersehbar, im linken Flügel und in Teilen | |
der Basis. Am Freitag stapften viele Delegierte zum Beginn des Parteitags | |
müde in die Halle. Winterwahlkampf? Oh Gott. | |
Zwei Tage später lässt sich davon fast niemand mehr etwas anmerken. Die | |
Bundesdelegiertenkonferenz diente den Grünen anderthalb Wochen nach dem | |
Ampelbruch als Motivationsmaschine. Nicht zuletzt, weil von der Bühne | |
verkündet wird, dass die Partei seither 11.000 neue Mitglieder verzeichnet | |
hat. 11.000, in so kurzer Zeit! Die Delegierten sind geflasht und jubeln | |
frenetisch. Das hat es noch nie gegeben. | |
## Feminist against Merz & Scholz | |
Letzter Baustein des Spektakels ist die Habeck-Rede zum Abschluss am | |
Sonntag. Es ist eine Rede ganz nach Habeck-Art: Selbstkritik mit | |
Handbremse, eine Prise Demut, etwas Pathos und ein Schuss Philosophie. | |
Habeck will die Partei damit hinter sich versammeln. Gleichzeitig ist es | |
eine erste Wahlkampfrede an die Bevölkerung. | |
Die Kernbotschaften, die sich darin auch nach außen richten: Habeck will | |
das Land „dienend führen“. Arroganz und Überheblichkeit, mit der die Grü… | |
so oft verbunden werden, möchte er in den nächsten drei Monaten | |
abschütteln. Auf persönliche Angriffe auf die politische Konkurrenz | |
verzichtet er. Kanzlerabel und konstruktiv soll das offenbar erscheinen. | |
Attacken überlässt er diesmal anderen. | |
Sehr wohl kritisiert er aber die Große Koalition, die vor 2021 zu viele | |
Aufgaben liegengelassen habe. Dieses Motiv wird er im Wahlkampf wohl noch | |
oft wiederholen: Am wahrscheinlichsten scheint für die nächste Legislatur | |
derzeit ein Bündnis von Union und SPD. Um bei CDU/CSU einen Fuß in die Tür | |
zu bekommen, brauchen die Grünen eine Anti-Groko-Stimmung im Land. | |
Für die Parteiseele steckt noch anderes in der Rede. Habeck möchte die | |
ganze Partei mitnehmen, und dabei helfen die Inhalte, mit denen er in den | |
Wahlkampf gehen will. Gleich im ersten Teil seiner Rede gibt Habeck den | |
Feministen. Wie so oft, wenn linke Männer über Gleichstellung sprechen, | |
wirkt er dabei etwas bemüht – belehrend will er nicht rüberkommen. „Was i… | |
gestern gemerkt habe, euch zuhörend: dass es nicht das Problem der Frauen | |
ist, dass wir immer noch keine Geschlechtergleichheit in Deutschland haben. | |
Es geht die Männer genauso an“, sagt er. Bei den Wählerinnen sehen die | |
Grünen offenbar Potenzial und einen Vorteil gegenüber den Kandidaten Scholz | |
und Merz. | |
## Beifall für soziale Gerechtigkeit | |
Die Klimapolitik soll auch wieder mehr Raum bekommen als in den letzten | |
Grünen-Wahlkämpfen. Der Klimawandel bedrohe „das Leben jetzt hier auf | |
unserer Erde“. Sozial gerecht soll es aber zugehen, in der Klimapolitik und | |
darüber hinaus – dieser Schwerpunkt ist als Lehre aus den Ampeljahren aus | |
der gesamten Partei zu vernehmen. „Wieso sollten die Gas- und Ölkonzerne, | |
die astronomische Summen in den letzten Jahrzehnten verdient haben, nicht | |
ihren Anteil bezahlen, die Schäden wieder auszugleichen“, fragt Habeck, | |
klingt dabei so gar nicht mehr nach dem Wirtschaftsminister der vergangenen | |
Jahre – und erhält so viel Beifall wie an kaum einer anderen Stelle seiner | |
Rede. | |
Knapper und weniger konkret hält er dafür die Passage zur | |
Migrationspolitik. Wenn es nach den Grünen geht, werden Flucht und Asyl | |
diesen Wahlkampf nicht dominieren. Regeln müssten in beide Richtungen | |
gelten: Wer vergewaltige oder morde, verwirke sein Aufenthaltsrecht – die | |
Politik müsse aber auch das Asylrecht achten. | |
Vor allem in den letzten beiden Punkten spiegeln sich auch die größten | |
inhaltlichen Auseinandersetzungen rund um diesen Parteitag. Es geht in | |
Wiesbaden nicht nur um Personalfragen, sondern auch um inhaltliche Anträge | |
aus der Partei, über die die Mitglieder vorab abstimmen konnten. Die Top 10 | |
kommen auf dem Parteitag zur Abstimmung. Ganz vorne: die soziale Frage. | |
Mit dabei sind auch der Paragraf 218 und ein AfD-Verbot – und eben die | |
Migrationspolitik. Kaum ein Thema ist bei den Grünen nach drei Jahren | |
Regierungsbeteiligung und etlichen schmerzhaften Kompromissen so umstritten | |
wie dieses. Doch der Crash der Ampel diszipliniert. In drei Monaten ist | |
Bundestagswahl, auf offener Bühne will man sich da nicht streiten. | |
## Schwammig, aber Schwamm drüber | |
„Zurück zur Vernunft“ heißt der Antrag, den unter anderem der linke | |
Europaabgeordnete Erik Marquardt eingereicht hatte. Eingegangen waren dazu | |
175 Änderungsanträge, von denen blieb am Ende kaum etwas übrig. Hinter den | |
Kulissen wurden die Details bis kurz vor der Beratung verhandelt, in den | |
meisten Punkten kam es noch rechtzeitig zu Kompromissen. | |
Der Preis: Viel Klarheit über den künftigen Kurs der Grünen verschafft der | |
Beschluss nicht. „Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete verbieten | |
sich“, heißt es im Text. Kurz darauf kommt eine Einschränkung: „Doch | |
besonders bei Menschen, die schwere Straftaten begangen haben oder | |
Gefährder sind, muss der Rechtsstaat durchgreifen.“ Das kann man als | |
unabhängige Ergänzung oder als Einschränkung lesen. | |
Schwammig ist auch der Beschluss zur Vermögensteuer. Das Wort schafft es | |
zwar in den Beschluss, aber nicht als konkrete Forderung, nur als eine von | |
mehreren Möglichkeiten, wie man zu einer gerechteren Verteilung kommen | |
kann. Und die Forderung zum Klimageld bleibt, 2025 als Zeitpunkt der | |
Einführung findet sich am Ende aber nicht im Beschluss. | |
Auf diesem Parteitag ist Harmonie angesagt, dem Aufbruchsgefühl mit Blick | |
auf die Wahl will kaum jemand im Weg stehen. Einen der wenigen Störmomente | |
gibt es am Samstag vor der Halle, wo der Hessische Flüchtlingsrat eine | |
Kundgebung aufgebaut hat. „Die Grünen sind schon noch die Partei, von der | |
wir ein bisschen was erwarten“, sagt der Aktivist Timmo Scherenberg. Falls | |
die Partei wieder Koalitionsverhandlungen führt, müssten „rote Linien rote | |
Linien bleiben“. Wie viel Hoffnung er da habe? Scherenberg verzieht erst | |
mal das Gesicht. „Wenn wir gar keine Hoffnung hätten, wären wir nicht | |
hier“, sagt er dann. | |
## Jetzt kann es losgehen | |
In der Halle selbst veranstaltet am Sonntagvormittag eine Gruppe der Grünen | |
Jugend ein Sit-In vor dem Stand des Energiekonzerns RWE, der den Parteitag | |
sponsert. „Lützi bleibt“ und „Keine Hinterzimmer-Deals mit RWE“ steht … | |
ihren Schildern. Eines der Mitglieder, das auf dem Boden sitzt, ist die | |
Berliner Studentin Elina Schumacher. | |
Später, nach der Habeck-Rede, wird sie sagen: Manches ist in die richtige | |
Richtung gegangen. Jetzt komme es darauf an, was im Wahlprogramm steht und | |
in künftigen Koalitionsverhandlungen passiert. „In der Vergangenheit haben | |
wir schlechte Erfahrungen gemacht“, sagt sie. | |
Bei der Mehrheit der Delegierten ist die Stimmung am Ende des Parteitags | |
aber eine andere. „Er hat mir aus der Seele gesprochen“, sagt Anja Eggert, | |
Grünen-Mitglied aus Rostock, nachdem Habeck seine Rede beendet hat. „Der | |
Parteitag ist extrem motivierend.“ Zwar sei ein Winterwahlkampf nicht schön | |
und im Dunkeln das Plakateaufhängen zu Hause noch gefährlicher, stimmt ihr | |
Carolin Roth zu, die ebenfalls aus Rostock kommt und neben Eggert am | |
Hallenrand steht. Aber jetzt könne es losgehen. | |
Am Sonntagnachmittag ebbt in der Halle auch irgendwann der große Applaus | |
für Habeck ab. 96,48 Prozent der Delegierten küren ihn zum „Kandidaten für | |
die Menschen in Deutschland“. An anderen Tagen hätten die Grünen so ein | |
Traumergebnis kritisch beäugt. Aber jetzt passt die Zahl perfekt in die | |
Show. | |
17 Nov 2024 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
Sabine am Orde | |
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