| # taz.de -- Oktoberfest in Tokio: Ein Fest für die ganze Familie | |
| > Die Wiesn hat in Deutschland ein Säuferimage. In Japan ist das | |
| > Oktoberfest jedoch sehr gemütlich, selbst für Kleinkinder und Hunde. | |
| Bild: Oktoberfest im Shiba-Park Anfang September | |
| „Hey! Sie hatte nur ’ne Maske an, oh, ’ne Mundschutzmaske an“, läuft e… | |
| dem Lautsprecher. Es ist ein Schlager von Mickie Krause, eine | |
| umgeschriebene Version seines Hits „Nur noch Schuhe an!“. In der Tat | |
| [1][tragen fast alle Besucher:innen des Oktoberfests eine Maske], | |
| während sie um die Stände laufen. Dabei findet das Fest draußen statt, bei | |
| 28 Grad und praller Sonne. | |
| [2][Die Wiesn], in Japan ausschließlich bekannt unter dem Namen | |
| Oktoberfest, lockt auch hier zahlreiche Besucher:innen an. Japanweit | |
| werden zwischen September und Oktober Stände aufgestellt, die Bier, Wurst | |
| und weitere Speisen anbieten. Das Oktoberfest in Toyosu, einem Stadtteil in | |
| Tokio, findet vom 16. September bis 2. Oktober statt und hat seinen Platz | |
| in einem Außenbereich einer großen Mall. | |
| An einem Nachmittag unter der Woche versammeln sich hier etwa hundert | |
| Gäste, über den ganzen Platz verteilt. Sechs Holzhütten stehen sich in zwei | |
| Reihen gegenüber, in deren Mitte sind große Pavillons aufgestellt. | |
| Reihenweise Holzbänke und Tische stehen an einer Bühne. Tagsüber ist sie | |
| abgesperrt, abends gibt es hier wechselnde Shows. Überall hängen Girlanden | |
| mit Deutschlandflaggen. In der Nähe befindet sich ein Hafen. | |
| Die meisten Besucher:innen des Fests sind junge Frauen, die an Tischen | |
| sitzen, essen und sich unterhalten. Es gibt auch viele Pärchen, junge | |
| Eltern mit Kindern oder ältere Menschen. Eine junge Familie mit einem | |
| Kleinkind setzt sich an eines der Tische, die Mutter bleibt allerdings | |
| stehen, um sich Essen und Getränke zu holen. Sie läuft an zwei Ständen | |
| vorbei und kehrt dann zu ihrem Mann und Sohn zurück: „Es gibt hier | |
| Mangobier!“, ruft sie begeistert. Ihr Mann ist derweil mit dem Auspacken | |
| eines Spielzeugs für den Sohn beschäftigt. Er trinkt lieber Zitronenbier. | |
| Die Mutter läuft zurück zur Hütte, bestellt zwei Fruchtbiersorten und kehrt | |
| damit wieder zurück an den Tisch. | |
| ## Deutsche Küche nach japanischem Geschmack | |
| Die Getränke- und Essensauswahl dieses [3][Oktoberfests] sind genauso | |
| befremdlich wie viele Speisekarten aus möchtegernjapanischen Restaurants in | |
| Deutschland. Neben Pils, Weizen und Helles werden Ananas-Milch-Bier, | |
| Erdbeer-Cocktail-Bier und Bier mit Eiswürfeln angeboten, die | |
| Pfirsichgeschmack enthalten. Sogar Glühwein mit Birnen gibt es zu kaufen. | |
| Die Essensauswahl ist ähnlich innovativ: Es gibt Brezeln mit gesüßter | |
| Maronensahne, mit Weißwein gedämpfte Muscheln sowie Bagel mit Lachs und | |
| Lachskaviar sind. | |
| Eine in Japan typische Beilage zum Bier, Edamame-Bohnen, gibt es auch. Dem | |
| deutschen Image entsprechend bestehen die meisten Optionen allerdings aus | |
| Fleisch: Fast alle Stände bieten einen Teller mit zahlreichen Wurstsorten | |
| an, viele streuen Parmesan auf die Bratwürste. | |
| Der eine Stand kombiniert Leberkäse mit Pommes, der andere frittiert | |
| Hühnchen zu kleinen Kügelchen und verkauft die Speise als | |
| „Hühnerbrustpopcorn“. | |
| ## Die Bierpreise sind auch in Japan zu hoch | |
| An einem Tisch, das sich direkt am Wasser befindet, sitzt eine junge Frau | |
| und tippt auf ihr Handy. Auf Nachfrage, ob sie Zeit für ein Gespräch hätte, | |
| antwortet sie: „Nur, wenn’s schnell geht!“ Sie sei hier für ein Konzert, | |
| erzählt sie. Die koreanische Idolgruppe [4][Purple Kiss] soll demnächst | |
| auftreten. Zum Oktoberfest selbst hat sie nicht wirklich eine Meinung. Sie | |
| sei nur gekommen, um schnell noch etwas zu essen, bevor das Konzert | |
| beginnt. Getrunken habe sie einen Fruchtcocktail, auf dem Tisch steht noch | |
| eine Schale Pommes, die sie mit Plastikmesser und Gabel isst. Ein | |
| Gelegenheitssnack quasi. | |
| Einige Tische weiter sitzen zwei junge Männer mit leer getrunkenen | |
| Biergläsern. Sie sind Studenten in Tokio und offen für ein Gespräch, ihre | |
| gute Laune ist ansteckend. Die beiden erklären, dass sie aus zwei Gründen | |
| hier seien: einmal wegen des Oktoberfests, und einmal wegen eines | |
| Fischmarkts, der sich in dieser Umgebung befindet. | |
| Die Namen der beiden Männer sind nicht bekannt, da es hierzulande unüblich | |
| ist, Fremde nach privaten Informationen zu fragen – selbst als | |
| Journalistin. Schon gar nicht, wenn man für ausländische Zeitungen | |
| schreibt. Beide Studenten tragen schwarze T-Shirts, sie sitzen sich | |
| gegenüber. | |
| „Da, wo ich wohne, gibt es nicht wirklich frischen Fisch“, erzählt einer | |
| der Studenten. Sie wollten unbedingt rohen, frischen Fisch essen. Nach der | |
| Mahlzeit seien sie hierhergekommen. Das Bier sei lecker, die Preise aber | |
| etwas zu hoch. „Wir sind Studenten, für uns ist das hier ganz schön teuer�… | |
| erklärt er. | |
| ## Das (un-)authentische Deutschland | |
| In der Tat sind die Preise für japanische Verhältnisse ganz schön happig. | |
| Während in einem gewöhnlichen Restaurant ein 0,3-Bier etwa 490 Yen, | |
| umgerechnet etwa 3,50 Euro kostet, zahlen die Besucher:innen des | |
| Oktoberfests mehr als doppelt so viel. Ein halber Liter Weizenbier kostet | |
| 1.500 Yen, also 10,80 Euro. Für eine Brezel zahlen Gäste 3,60 Euro, für | |
| einen ganzen mit Honig glasierten Camembert 8,60 Euro. | |
| Auf die Frage, ob er trotzdem [5][weitertrinken] wolle, lacht der Student. | |
| „Ja, na klar!“, ruft er. Daraufhin fragt sein Freund: „Trinken Sie mit?“ | |
| Beide Studenten schauen auf einen Speisekartenflyer und überlegen, was sie | |
| sich als Nächstes holen wollen. Sein erstes Glas sei ein Pils gewesen, | |
| erklärt der Student. Der Grund, weshalb sie trotz der teuren Preise zum | |
| Oktoberfest kommen, läge an der Authentizität. „Wann gibt es schon die | |
| Möglichkeit, authentisches Bier aus Deutschland zu trinken?“, fragt der mit | |
| dem Rücken zum Wasser. | |
| Weder die Fruchtbiersorten noch das meiste Essen sind wirklich authentisch. | |
| Aber die Möglichkeit, draußen speisen zu können, ist durchaus typisch | |
| deutsch. In Japan ist es eher ungewöhnlich, dass Restaurants einen | |
| Außenbereich haben – selbst im Sommer verbringen viele Japaner:innen | |
| ihre Zeit lieber drinnen. Auf dem Oktoberfest in Toyosu hingegen können | |
| Besucher:innen sogar ihre Hunde mitbringen. Einige der Frauen schieben | |
| einen [6][Baby- oder Hundewagen] vor sich her. | |
| Die meisten Gäste sind nicht zum Betrinken hier, sondern verbringen | |
| entspannt ihren Nachmittag mit ihren Kindern oder Freund:innen. Die | |
| Einzigen, die Dirndl und Lederhose tragen, sind zwei Fotowandfiguren. Der | |
| Schlager ist hörbar, aber keineswegs so laut, dass man sich über den Tisch | |
| hinweg anbrüllen muss. Er läuft eher als Hintergrundmusik und sorgt dafür, | |
| dass der Ort ein bisschen deutsche Atmosphäre bekommt. | |
| 29 Sep 2022 | |
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| [4] https://en.wikipedia.org/wiki/Purple_Kiss | |
| [5] /Alkoholkonsum-in-Deutschland/!5855030 | |
| [6] /taz-Serie-Nachtzugkritik/!5877612 | |
| ## AUTOREN | |
| Shoko Bethke | |
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