# taz.de -- Pfarrer über Oktoberfest: Hochwürden, noch ein Bier! | |
> Der Münchner Pfarrer Rainer Maria Schießler kennt das Oktoberfest wie | |
> kaum ein Geistlicher. Viele Jahre hat er dort als Bedienung gearbeitet. | |
Bild: Da stemmte er noch Bierkrüge: Pfarrer Rainer Maria Schießler auf der Wi… | |
taz: Herr Pfarrer, am Samstag geht’s wieder los: 17 Tage lang Feierlaune, | |
Fahrgeschäfte und Festbier. Wie werden Sie [1][nach zwei Jahren Abstinenz] | |
die Rückkehr der Wiesn begehen? | |
Rainer Maria Schießler: Ich bin erst in der zweiten Woche in München. Ich | |
habe meinen Urlaub extra so gelegt, dass ich gar nicht erst in die Gefahr | |
gerate, wieder zu bedienen. Denn es juckt mich immer dermaßen. Aber die | |
Vernunft sagt: Nicht rückfällig werden! Du hast damit abgeschlossen, du | |
bist alt, das ist was für Junge. Deshalb bin ich jetzt in der ersten Woche | |
in der Bretagne, ganz weit weg. | |
Aber in der zweiten Woche gehen Sie schon raus aufs Oktoberfest? | |
Ja, natürlich. Da freue ich mich auch schon drauf. Ich habe schon etliche | |
Einladungen. Allen voran besuche ich natürlich meine ehemaligen Kollegen im | |
Schottenhamel, dem Bierzelt, wo ich jahrelang bedient habe. Aber ich werde | |
mich da nicht durchfressen und -saufen. Das ist nicht mein Stil, sondern | |
ich sage einfach Grüß Gott und nehme für einen Moment teil an dem Fest. Ich | |
fahre auch keine Achterbahn, kaufe mir keinen türkischen Honig, keine | |
Zuckerwatte. Sondern ich trinke eine Mass Bier, ess’ a Stückerl Brezn und | |
genieß’ einfach nur, da zu sein. | |
Kein Hendl? | |
Nein, da habe ich zehn Jahre zu viele verkauft. | |
Und bei der einen Mass bleibt es dann auch? | |
Ja, mehr vertrage ich nicht. Die zweite würde mir gar nicht mehr schmecken. | |
Und bei der ersten ist der erste Schluck eh der allerbeste. | |
Hat Ihnen [2][die Wiesn gefehlt]? | |
Sehr. Für mich ist es ganz wichtig, dass sie wieder stattfindet. Wäre sie | |
jetzt ein drittes Mal ausgefallen, weiß ich nicht, ob wir sie nicht für | |
immer verloren hätten. Das war für uns Münchner eine unglaublich schwere | |
Sache, nicht nur ökonomisch, auch psychologisch. Die Wiesn ist ja Teil | |
unseres Lebensgefühls, und das ist einfach weggebrochen. Deshalb bin ich | |
auch allen kleineren Volksfesten dankbar, die – trotz Corona – vorher | |
gefeiert wurden, und die gezeigt haben: Es geht. | |
Aber jüngst nach dem Gäubodenfest in Straubing, der kleinen Schwester der | |
Wiesn, sind dort die Infektionszahlen in die Höhe geschnellt. Und das | |
Oktoberfest ist um Einiges größer und internationaler. | |
Ja, die Inzidenzen waren hoch, aber nicht die Hospitalisierung. Natürlich | |
werden sich viele infizieren da draußen. Den perfekten Schutz gibt es | |
nicht, aber die Krankenhäuser werden nicht überlaufen. Und das ist das | |
Wichtigste. | |
Sie haben zwischen 2006 und 2018 insgesamt zehn Mal auf der Wiesn bedient, | |
jetzt haben Sie Ihre Erfahrungen [3][in dem Buch „Wiesn-Glück“] | |
aufgeschrieben. | |
Mir geht es aber nicht nur um die zehn Jahre. Die Wiesn hat mich ja schon | |
als kleines Kind begleitet. Ich bin in Laim drüben aufgewachsen, in einem | |
Mietshaus im dritten Stock, und vom Balkon aus haben wir den Lichtkegel im | |
Osten gesehen, wo die Wiesn war, und wenn der Wind gut stand, konnten wir | |
sie sogar riechen – diese Mischung aus süßen Mandeln und Hendl. Die Wiesn | |
hat einen ganz eigenen Duft. | |
Sie nennen ihr Buch eine „Liebeserklärung“, beschreiben die Wiesn als | |
Kulturgut, Tradition und Heimat, Auftrag und Geschenk, Verpflichtung und | |
kreative Möglichkeit. Ich war schon beruhigt, dass Sie als Kirchenmann | |
nicht auch noch von einem „Hochamt der Zwischenmenschlichkeit“ gesprochen | |
haben. | |
Dafür sind so ein paar Verweise auf die Apostelgeschichte und das Buch | |
Jesaja drin. | |
Auch auf die Speisung der 5000. | |
Das drängt sich ja auf. Aber die schönste Bibelassoziation ist für mich | |
immer noch die der Gemeinschaft ohne Standesunterschiede im Neuen | |
Testament. Das Unterscheidende dieser jungen christlichen Gemeinde war ja | |
dieses Leben ohne Unterschiede, ohne Standesunterschiede. Diese | |
Tischgemeinschaft, die diese Christen da gebildet haben. Dass hier Menschen | |
aus allen Ständen zusammenkamen und an einem Tisch saßen, das hat diese | |
besondere Strahlkraft gehabt. Und darum schreibt ja Paulus im Galaterbrief: | |
Wir sind alle eins in Christus. Es gibt keinen Unterschied mehr. Juden, | |
Griechen, Sklaven, Freie, Männer, Frauen. Alles aufgehoben, alle eins in | |
Christus. Und dieses Bild hatte ich immer im Kopf. Und dann schaust du von | |
der Galerie runter ins Zelt und siehst all diese Menschen, die am | |
Nachmittag noch in verschiedenen Büros gearbeitet haben, wo der eine | |
vielleicht der Vorgesetzte von der anderen ist, aber jetzt tanzen sie | |
gemeinsam, sind alle gleich! Und sag mir bitte nicht, dass das nur der | |
Alkohol ist! Manche trinken keinen Tropfen und erfahren trotzdem dieses | |
Gemeinschaftserlebnis. | |
Als Bedienung ist man ja nicht wirklich Teil davon. | |
Ja und nein. Du bist ein Bestandteil dieses Konstrukts Bierzelt, das es | |
möglich macht, dass die Menschen da feiern können. Du trägst dazu bei, | |
indem du Essen und Trinken bringst, indem du mit den Leuten flirtest und | |
Jux und Gaudi machst. Damit bist du ein Teil dieser guten Stimmung. Mein | |
Naturell wäre es sowieso nicht, mich als Gast auf die Bierbank zu stellen | |
und „Komm, hol das Lasso raus“ zu singen. Aber ich genieße es, Menschen zu | |
sehen, die so ausgelassen sein können. | |
Nicht einmal bei Ihrem Lieblings-Wiesnhit „Sweet Home Alabama“ steigen Sie | |
auf die Bank? | |
Nein, da stehe ich, tief in mir ruhend, sinnierend, irgendwo im Zelt. Denke | |
an meinen Dammerl, einen sehr guten, inzwischen leider verstorbenen Freund, | |
der in der Kapelle gespielt hat, und bin innerlich glücklich ohne Ende. | |
Wie kam es überhaupt, dass Sie als Pfarrer Wiesn-Bedienung wurden? | |
Das war mein loses Mundwerk. Das war einfach schneller als Hirn. Ich bin | |
auf einem Empfang jemandem aus der Familie Schottenhamel vorgestellt worden | |
und habe ihn plötzlich gefragt: „Könnte ich mal bei Ihnen im Bierzelt | |
arbeiten?“ Ich hatte mich davor nie mit diesem Gedanken getragen. Aber | |
plötzlich war die Frage da. Und noch während ich gefragt habe, war mir | |
eigentlich klar, dass ich eine Absage bekomme. Stattdessen hieß es sofort: | |
„Ja natürlich.“ | |
Und dann haben Sie es sich nicht noch einmal überlegt? | |
Nein. Aus der Nummer konnte ich nicht mehr raus. | |
Inwieweit haben Sie sich da draußen neben ihren Hendln auch um ihre | |
Schäfchen kümmern können? | |
Ein Priester ist ja immer Priester. Ich habe da nichts forciert, aber die | |
Menschen sind auf mich zugekommen. Kollegen, Gäste, die wussten, dass ich | |
Priester bin, und dann kam schon immer wieder die Frage: Hast du mal einen | |
Moment Zeit, kann ich mit dir über was reden. | |
Sie waren also ein Leib- und Seelsorger. | |
Genau. So kann man es sagen. | |
Einmal hat ein Gast neben der Brotzeit auch eine Taufe bei Ihnen bestellt. | |
„A Mass Bier“, hat er gesagt, „a Hendl und a Tauf.“ Hab’ ich geantwor… | |
„Die ersten zwei Sachen bringe ich gleich, über das andere reden wir dann | |
noch.“ Es war mittags, noch nicht so viel los, drum konnte ich mich ein | |
bisschen zu ihm setzen. Und da hat er mir erzählt, dass sein Pfarrer sein | |
Kind nicht taufen will, weil er und seine Frau aus der Kirche ausgetreten | |
waren. Aber das Problem konnten wir lösen. Am Ende hat der Gast seine Taufe | |
auch noch bekommen. | |
Viele Besucher sind ja genügsamer und wollen nur Bier. Wie viele Krüge | |
haben Sie denn gleichzeitig gestemmt? | |
Also ein normales Mannsbild trägt vierzehn Mass, sieben in jeder Hand. | |
Notfalls kann man noch eine 15. dazwischen einzwicken. | |
Das sind über 30 Kilo. | |
Es ist aber nicht nur eine Sache der Muskeln. Du musst vor allem mental | |
stark sein. Und du musst immer alles bedenken: Wie lang ist die Strecke, | |
die du gehen musst? Ist der Weg frei oder musst du durchs Gedränge? Was | |
machst du, wenn du mal nicht mehr kannst? Wo kannst du die Krüge abstellen? | |
Wenn sie dir runterfallen, ist das ja dein Verlust. Du bist als Bedienung | |
Subunternehmer. | |
Stimmt es, dass es keinen Schichtbetrieb gibt, Bedienungen also von 8 bis | |
23 Uhr durcharbeiten? | |
Ja. Werktags geht es allerdings etwas später los, da ist Schankbeginn erst | |
um 10 Uhr. Und natürlich macht man Pausen. | |
Eines der wichtigsten Themen der Münchner Lokalpresse ist ja [4][jedes Jahr | |
der Bierpreis] … | |
Ich kann mich daran nicht abarbeiten. Gehe ich in ein Wirtshaus, kostet | |
dort die Halbe Bier auch 4,50 Euro, also 9 Euro pro Liter. Wenn man dann | |
berücksichtigt, dass das Oktoberfestbier nach einem speziellen Verfahren | |
gebraut wird, und die Location einzigartig ist, ist der Preis schon | |
gerechtfertigt. | |
Gibt es denn überhaupt Aspekte der Wiesn, die Sie kritisch sehen? | |
Was mir schon immer wieder negativ aufgestoßen ist, ist der Umgang mit | |
Lebensmitteln. Ich finde, der Satz im Grundgesetz „Eigentum verpflichtet“ | |
beginnt nicht bei der Eigentumswohnung, sondern auf meinem Teller. Einmal | |
musste ich einen fast vollen Teller wegschmeißen. Ein Kollege, der im | |
Winter in Kolumbien lebt, stand neben mir und sagte: In meinem Dorf würden | |
da jetzt zehn Leute herumsitzen und ein Fest feiern. Der Satz hat sich in | |
mir eingebrannt. Aber da kann die Wiesn nichts ändern, da müssen wir uns | |
ändern. | |
Ihre Gastspiele auf der Wiesn waren ja auch gleichzeitig Spendenaktionen. | |
Das hat sich so ergeben. Ich war ja nicht auf das Geld angewiesen. Und ich | |
tu mich mit den Anstrengungen leichter, wenn ich ein übergeordnetes Ziel | |
habe. Deshalb habe ich die ersten Jahre meinen Wiesnverdienst an Lotti | |
Latrous gespendet, die sich in der Elfenbeinküste in beeindruckender Weise | |
um Kranke und Waisen kümmert. Und 2015 war dann die Flüchtlingskrise der | |
Grund, warum ich nach einer Pause überhaupt wieder mit dem Bedienen | |
begonnen habe. Da ging dann das Geld an den von meinem Freund, dem | |
Kabarettisten Christian Springer, gegründeten Verein Orienthelfer. Der | |
kümmert sich um Flüchtlinge im Libanon. | |
Noch ein Tipp für den Wiesn-Novizen: Was sollte man auf dem Oktoberfest auf | |
gar keinen Fall tun? | |
Vorglühen! Gerade junge Besucher machen oft den Fehler, sich auf dem Weg | |
zur Wiesn schon mit irgendeiner billigen Plörre in Stimmung zu trinken. Und | |
dann wundern sie sich, wenn sie das Wiesnbier nicht mehr vertragen. Das hat | |
mehr Alkohol als normales Bier, vor allem aber deutlich mehr Stammwürze. | |
Und das kann auf den Magen gehen. Deshalb: Genießt das Bier und spielt | |
nicht den Kampftrinker! | |
16 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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