| # taz.de -- Oktoberfest-Attentatsopfer über Behördenversagen: „Kaltschnäuz… | |
| > Ein zerfetzter Fuß, ein Trauma, Erniedrigung – Hans Roauer ist ein Opfer | |
| > des Oktoberfestattentats. Er ist wütend – aber nicht auf den Attentäter. | |
| Bild: Das Oktoberfest wurde 1980 nicht abgebrochen. Nur für einen Tag ließ ma… | |
| taz am wochenende: Herr Roauer, am 26. September 1980 detonierte am Eingang | |
| des Oktoberfests eine Bombe. Sie standen nur ein paar Meter entfernt und | |
| überlebten schwer verletzt. Wie präsent ist dieser Tag heute in Ihrem | |
| Alltag? | |
| Hans Roauer: Er ist ein ständiger Begleiter. Wenn zum Beispiel in der Küche | |
| ein Topf runterfällt, dann ist es vorbei. Das geht bei mir von oben nach | |
| unten und von unten nach oben.Da reicht dieser eine Schepperer und alles | |
| ist wieder da: der Wiesn-Eingang, dieser Feuerblitz, der Geruch von | |
| Feuerwerksraketen und verbrannten Haaren, dann dieser Moment der Stille, | |
| und schließlich die Geräusche, die einen nur dumpf durch das kaputte | |
| Trommelfell erreichen: auf der einen Seite das Stöhnen und Schreien, die | |
| ersten Sirenen, und auf der anderen Seite noch Blasmusik. | |
| Wie gehen Sie damit um? | |
| Ich bin jetzt seit neun Jahren in psychologischer Behandlung, und habe von | |
| meiner Therapeutin Tipps für so eine Situation an die Hand bekommen. Das | |
| sind vor allem Atemübungen; nach ein paar Minuten geht es dann wieder | |
| besser. | |
| „Sie müssen den Menschen Ihre Geschichte aufs Auge drücken“, soll Ihre | |
| Therapeutin Ihnen geraten haben. Hilft das? | |
| Ja. Es wühlt mich zwar schon auf. Aber das ist kein Vergleich zu dem | |
| Zustand vor der Therapie. Ich war ja 30 Jahre lang auf praktisch keiner | |
| Feier, vielleicht zweimal im Kino. Das Schlimmste war Silvester. Da habe | |
| ich mir so um zehn Uhr eine anständige Portion Schlaftabletten | |
| reingeschmissen, Ohropax in die Ohren und dann bis zum Neujahrsmorgen | |
| durchgeschlafen. | |
| Hat Ihnen denn zuvor nie jemand empfohlen, sich psychologische Hilfe zu | |
| suchen? | |
| Nein, nie. Erst als ich mich an eine Rentenberaterin gewandt habe, hat die | |
| mich gefragt, ob man mich denn schon mal auf posttraumatische | |
| Belastungsstörungen untersucht habe. Ich wusste noch nicht mal, was das | |
| ist. | |
| Können wir über Ihre Erlebnisse des 26. September reden? | |
| Ja, inzwischen geht das. | |
| Wie haben Sie diesen Tag erlebt? | |
| Ich habe damals in Ingolstadt gewohnt und bin jeden Tag mit dem Zug nach | |
| München gependelt, wo ich als Finanzbeamter gearbeitet habe. Wir waren da | |
| so eine Pendlergruppe, die im Zug immer zusammensaß und einmal im Jahr | |
| gemeinsam auf die Wiesn gegangen ist – auch an diesem Tag. Wir waren im | |
| Bierzelt, es war ein lustiger Abend. Kurz vor zehn sind wir dann zum | |
| Ausgang, um mit der Tram zum Hauptbahnhof zu fahren. Da standen wir noch | |
| eine Weile, weil wir auf eine aus unserer Gruppe warten mussten. Das war | |
| ganz in der Nähe von dem Papierkorb, vielleicht drei, vier Meter entfernt. | |
| Der Papierkorb, in dem dann um 22.19 Uhr der Attentäter Gundolf Köhler die | |
| Bombe zur Explosion brachte. | |
| Genau. Ich habe sogar noch gesehen, wie dieser Typ mit einer weißen Tasche | |
| Richtung Papierkorb ging. Aus irgendeinem Grund habe ich unmittelbar davor | |
| einen Schritt weiter weg gemacht, so dass ich hinter meinem Bekannten | |
| stand. Ich muss es so hart sagen: Dieser Bekannte war mein Kugelfang. | |
| Waren Sie die ganze Zeit bei Bewusstsein? | |
| Ich denke schon. Aber ob ich da jetzt 30 Sekunden oder 3 Minuten gelegen | |
| bin – keine Ahnung. Ich weiß auch nicht mehr, wer oder was da auf mir lag. | |
| Ich habe mich jedenfalls darunter hervorgewühlt, bin aufgestanden und | |
| wollte einfach nur weg. Ich bin aber gleich wieder zusammengebrochen, weil | |
| ich in meinem rechten Fuß keinen Halt mehr hatte. Am Ende lag ich mit zwei | |
| anderen Verletzten in einem Rettungswagen, und nach anderthalb Stunden | |
| haben sie uns ins Krankenhaus gefahren. | |
| Wie haben Sie die Szene nach dem Knall wahrgenommen? | |
| Ich hatte einen starken Tunnelblick. Viel Blut, Menschen, die hysterisch | |
| rumgelaufen sind. Gleich neben mir habe ich den Oberkörper des Mannes | |
| gesehen, von dem ich später erfahren habe, dass es Köhler war. Da habe ich | |
| mir noch gedacht: Scheiße, den armen Kerl hat’s auch erwischt. | |
| Später haben Sie dann vermutlich etwas anders gedacht. | |
| Natürlich. Aber ich weiß nicht, warum: Wut oder Hass habe ich auf den nicht | |
| verspürt. Ich habe nur eine Wut auf unsere Behörden, dass sie uns so | |
| schlecht behandelt haben. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Das ging los, als nach zwei Monaten eine Ärztin vom Versorgungsamt ins | |
| Krankenhaus kam. Die sagte, ich dürfe in keinem Privatzimmer liegen. Ob ich | |
| als Beamter denn die Reichsversicherungsordnung nicht kenne. Darin stehe, | |
| dass man sich in einem solchen Fall, obwohl man als Beamter privat | |
| versichert ist, als Kassenpatient einweisen lassen muss. Als Opfer eines | |
| Anschlags müsse mich der Staat versorgen, und der habe schließlich nicht | |
| das Geld, mich hier als Privatpatient durchzufüttern. Damit ging es los. | |
| Und das war die Art von Sätzen, die ich 30 Jahre lang zu hören bekommen | |
| hab. Bei jedem Behördengang. | |
| Wie lange waren Sie im Krankenhaus? | |
| Knapp drei Monate. Und dann noch ein paar paar Wochen in Reha. Lange wusste | |
| man nicht, ob man den Fuß nicht amputieren muss. Am Ende war es zum Glück | |
| nicht nötig. | |
| Haben Sie nach dem Anschlag wieder in Ihr altes Leben zurückgefunden? | |
| Nein, ich habe mich zehn oder fünfzehn Jahre lang nicht mehr nach München | |
| getraut, war immer extrem reizbar, bekam später auch Schwierigkeiten im | |
| Job. Das ging so weit, dass ich meinem Vorgesetzten Schläge angedroht und | |
| ihn einmal mit einer Schere bedroht habe. Schließlich wurde ich | |
| strafversetzt und habe kurz darauf den Beamtenjob hingeschmissen. Seitdem | |
| kämpfe ich mich so durchs Leben. | |
| Und damals hat sich niemand gefragt, warum es zu diesen Aussetzern kam? Die | |
| kannten ja schließlich Ihre Geschichte. | |
| Niemand. Ich selbst ja auch nicht. Ich war nur über mich erschrocken und | |
| hab mich gefragt: Wie kannst du nur? Erst viele Jahre später konnte ich den | |
| Zusammenhang mit meiner posttraumatischen Belastungsstörung herstellen. In | |
| der Rückschau muss ich sagen: Es war ein beschissenes Leben. | |
| Es wurde ja 1980 bis 1982 sehr schnell und schlampig ermittelt. Haben Sie | |
| das von Anfang an verfolgt? Oder wollten Sie mit damit nichts zu tun haben? | |
| Meine persönlichen Erfahrungen habe ich versucht zu verdrängen. Aber die | |
| Ermittlungen habe ich schon genau verfolgt. Ich wollte, dass das aufgeklärt | |
| wird. | |
| Damals erschien der Aufklärungsdrang der Ermittler überschaubar. Es gab | |
| viele Ungereimtheiten, darunter eine Beobachtung von Ihnen, die – zusammen | |
| mit anderen Umständen – starke Zweifel an der Einzeltäterthese aufkommen | |
| lässt. | |
| Das stimmt. Während wir da standen, hatte ich schon eine Weile diesen Mann | |
| mit der weißen Tasche beobachtet. Erst stand er auf der anderen | |
| Straßenseite und hat im Gespräch mit jemandem wild rumgefuchtelt. Etwas | |
| später habe ich ihn dann auf unserer Seite gesehen, wie er an einem Auto | |
| stand und durchs offene Beifahrerfenster mit den Insassen gestritten hat. | |
| Dann ging er weg, war kurz aus meinem Blickfeld verschwunden, und dann | |
| hat’s geknallt. | |
| Das heißt, es waren noch andere Menschen im Spiel. | |
| Wir wissen ja, dass Köhler Verbindungen zur rechtsextremen Wehrsportgruppe | |
| Hoffmann hatte. Außerdem hat er einen Sprengsatz gebaut, von dem Experten | |
| sagen, dass ein normaler Bombenbastler das niemals hinbekommen hätte. Aber | |
| wer da wie seine Fäden gesponnen hat – keine Ahnung. Nur: Dass der ein | |
| Einzeltäter war, braucht mir niemand weismachen. | |
| Stimmt es, dass sich damals keiner für die Geschichte interessiert hat? | |
| Die Polizei hat das zu den Akten genommen, und das war’s. Die Ersten, die | |
| sich wirklich interessiert haben, waren der Opferanwalt Werner Dietrich und | |
| [1][der Journalist Ulrich Chaussy]. Die haben es sich zur Lebensaufgabe | |
| gemacht, die Wahrheit so gut wie möglich ans Tageslicht zu bringen. Ohne | |
| die beiden wären die Ermittlungen wohl auch nicht wieder aufgenommen | |
| worden. | |
| Das war Ende 2014. Fünf Jahre lang haben Generalbundesanwaltschaft und LKA | |
| den Fall noch mal untersucht. Am Schluss … | |
| … musste der Staat zugegeben, dass das Attentat einen rechtsextremistischen | |
| Hintergrund hat, was ja vorher immer vehement abgestritten worden war. Für | |
| mich ist das eine Genugtuung. | |
| Das ermöglicht nun auch Entschädigungszahlungen durch einen Opferfonds des | |
| Bundes. Gleichzeitig hieß es aber in dem Abschlussbericht auch, es gebe | |
| „keine ausreichenden Anhaltspunkte für Mittäter oder Anstifter“. Frustrie… | |
| Sie das nicht? | |
| Sicher, aber was wollen Sie nach 35 Jahren noch beweisen, wenn alle | |
| Beweismittel vernichtet wurden? | |
| Es gab ja nicht nur Defizite bei den Ermittlungen, auch in Sachen | |
| Erinnerungskultur haben sich München und Bayern nicht allzu positiv | |
| hervorgetan. | |
| Das ist sehr vornehm ausgedrückt. Ich will keinen beleidigen, aber ich sag | |
| Ihnen: Wenn die das Attentat hätten geheim halten können, hätten sie es | |
| gemacht. | |
| Damals hat man noch in der Nacht des Anschlags vor Ort schleunigst die | |
| Spuren beseitigt, damit die Wiesn am nächsten Tag weitergehen kann. | |
| Das war einfach nur kaltschnäuzig und pietätlos. | |
| Wie oft waren Sie dort schon am Jahrestag bei Gedenkveranstaltungen? | |
| Zweimal. Im Jahr 2000 wurde ich zum ersten Mal eingeladen. Ich war sehr | |
| nervös. Ich war ja seit dem Attentat nicht mehr an diesem Ort gewesen. Ich | |
| hatte Herzrasen, feuchte Hände und eine schlaflose Nacht hinter mir. Ein | |
| Freund hat mich hingebracht. Ich geh’ also mit meiner Einladung zu so einem | |
| Security-Menschen und frag ihn, wo ich mich hinsetzen kann, ich sei Opfer. | |
| Dann sagt er: Hinsetzen? Sie können da hinten hinstellen, wo die Zuschauer | |
| stehen. Diese Plätze sind für VIPs reserviert. Da habe ich zu meinem Freund | |
| gesagt: Gehen wir! | |
| Und das zweite Mal? | |
| Das war im letzten Jahr. Da war die Veranstaltung in Ordnung, aber wenn da | |
| direkt neben Ihnen die Menschen schon zu den Bierzelten strömen und sich | |
| manche Wiesn-Besucher auch noch lautstark beschweren, dass sie jetzt einen | |
| kleinen Umweg gehen müssen – das ist nicht schön. | |
| Was erwarten Sie in diesem Jahr? | |
| Ich freue mich jedenfalls sehr, dass die Stadt München den | |
| Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier dafür gewinnen konnte, diese | |
| Dokumentationsstelle zu eröffnen. Und die ist in meinen Augen sehr gut | |
| geworden. Wer da durchgeht, der erfährt wirklich etwas über das Attentat. | |
| Mit dem bisherigen Denkmal, einer Bronzestele mit einer halbrunden | |
| Stahlwand dahinter, sind Sie weniger zufrieden? | |
| Der Heinz Rühmann hat mal in einem Film gesagt: Hübsch hässlich habt ihr’s | |
| hier. So empfinde ich das Denkmal. Wie elend dieses Ding dasteht und wie | |
| unwissend die Menschen daran vorbeigehen. Das ist nur traurig. | |
| Immerhin erfährt das Oktoberfestattentat mittlerweile eine ganz andere | |
| Aufmerksamkeit als noch vor ein paar Jahren. Haben die Morde des NSU da | |
| etwas in Gang gesetzt? | |
| Ja, das hat eine sehr große Rolle gespielt. Das hat das gesellschaftliche | |
| Bewusstsein noch einmal ganz anders auf den rechten Terror gelenkt. Wenn | |
| diese Morde nicht aufgeklärt worden wären, würde man heute vom | |
| Oktoberfestattentat nicht reden. | |
| 26 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dominik Baur | |
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