# taz.de -- Öko-Diktatur: Das deutsche Gespenst | |
> Kaum geht es mit der Energiewende los, packt der konservativ-fossile | |
> Komplex das Totschlagargument aus. Neigen Umweltschützer zu totalitärem | |
> Zwang? | |
Bild: Vorbild für die Ökodiktatur? "Der große Diktator" Anton Hynkel, alias … | |
Am 27. März 2011 erlebte Egon Vaupel aus Marburg einen Triumph, den seine | |
angeblichen Amtskollegen Idi Amin und Josef Stalin nie genießen konnten: | |
Deutschlands "Ökodiktator" wurde als SPD-Bürgermeister einer rot-grünen | |
Koalition mit großer Mehrheit im Amt bestätigt. 60 Prozent der Marburger | |
leben offenbar gut mit dem Ökoterror. | |
Vaupels Karriere vom Dorfschulzen zum "Diktator" sagt wenig aus über die | |
ökologischen Zwangsmaßnahmen in der Universitätsstadt Marburg, aber viel | |
über den Zustand Deutschlands. Denn was Rot-Grün in Marburg beschlossen | |
hatte, ist eine "Solarsatzung", die Bauherren bei der Renovierung ihrer | |
Hausdächer vorschreibt, Solaranlagen aufs Dach zu setzen - eine Investition | |
für weniger CO2-Ausstoß und geringere Heizkosten, die sich in zehn Jahren | |
amortisieren soll. Alles ordentlich deutsch durchs Stadtparlament gebracht, | |
alles juristisch geprüft, alles mit Ausnahmeregeln und Zuschüssen | |
abgepuffert. Trotzdem schäumte die bürgerliche Opposition von der | |
"Ökodiktatur" und die Zeit übernahm diese Diktion. | |
Denn ein Gespenst geht um in Deutschland: die Ökodiktatur. Atomausstieg, | |
Energiewende und grüne Erfolge an der Wahlurne (nicht etwa auf den | |
Barrikaden) sorgen dafür, dass ein Zombie der Anti-Ökos wiederbelebt wird: | |
die angebliche Neigung zu autoritärer Durchsetzung ökologischer | |
Glaubenssätze, die angebliche Abschaffung bürgerlicher Freiheiten, die | |
angebliche totale Machtübernahme der weltfremden Ökospinner. | |
In einer Mischung aus rationalen und irrationalen Ängsten entdecken | |
Politiker, Journalisten und Wirtschaftsführer ihre tiefe Abneigung gegen | |
jede Form staatlichen Eingriffs und politischer Vorgaben für eine | |
nachhaltige Zukunft - ohne sich zu erinnern, dass ihnen etwa bei der | |
beschleunigten Planung von Autobahnen oder bei den verlängerten | |
Akw-Laufzeiten im Herbst 2010 die Basisdemokratie längst nicht so sehr am | |
Herzen lag. | |
## Schirrmacher, zu Hilfe! | |
Aber nun greifen sie zum großen Knüppel. "Ökodiktatur" lautet der Vorwurf | |
von RWE-Chef Großmann an die Bundesregierung, das Gleiche kommt von der | |
übrigen Atomlobby, der Tagesspiegel wähnt uns auf dem Weg zur | |
"jakobinischen Ökodiktatur" und Springers Welt macht gleich eine ganze | |
Debattenreihe dazu. Sie alle bezeichnen damit nicht etwa Normen, die gegen | |
die Verfassung verstoßen, sondern Gesetze und Verordnungen, die öffentlich | |
diskutiert und parlamentarisch abgestimmt werden und gegen die vor | |
deutschen Gerichten geklagt werden kann. | |
Und dem neuen grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried | |
Kretschmann, der auf Bürgerlichkeit und Rechtsstaatlichkeit größten Wert | |
legt, wirft die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) vor, er ziele | |
gemeinsam mit der Bundesregierung auf eine "herzliche Ökodiktatur". Das | |
Fachblatt für das humanistisch gebildete Bürgertum erklärt sogar, diese | |
"Ökotyrannei in Deutschland stützt sich auf eine große Mehrheit". Moment | |
mal: War die Tyrannei nicht eine brutale Alleinherrschaft gegen den Willen | |
des Volkes? Wo ist eigentlich Frank Schirrmacher, wenn man ihn mal braucht? | |
Diese Kritiker greifen zu einem beliebten Trick, um ökologischen | |
Fortschritt zu diffamieren. Denn die Ökodiktatur wurde von ihren Gegnern | |
schon mehrfach proklamiert: Bei der Bekanntgabe der EU-Klimaziele ebenso | |
wie bei der Einführung der Energiesparbirne oder beim Dosenpfand. Immer | |
stand natürlich die Existenz unserer Demokratie auf dem Spiel, immer hat | |
sie trotzdem irgendwie überlebt. Kein Wunder: Schließlich ist die | |
Ökodiktatur nur ein Popanz der Anti-Ökos ohne Substanz, Theorie oder | |
Verankerung. Niemand will sie, nur für ihre Gegner ist sie sehr praktisch. | |
Anders als Marxens und Lenins "Diktatur des Proletariats" stützt sich die | |
grüne Diktatur weder auf eine Theorie noch auf eine reale Machtbasis auf | |
der Straße. Die ernsthaften Versuche am linken und rechten Rand des | |
politischen Spektrums, eine Ökodiktatur zu fordern und zu rechtfertigen, | |
sind marginal geblieben und schnell verkümmert. Wolfgang Harich in der DDR | |
oder Herbert Gruhl in der Gründungsphase der Grünen sind Beispiele, wo | |
ökologisches Gedankengut mit dem Totalitarismus geflirtet hat. Keines | |
dieser Gedankenspiele ist über die Studierzimmer hinausgegangen. Zu abstrus | |
waren die Vorstellungen für reale Politik, zu gering der Problemdruck, zu | |
groß die Angst vor dem verbotenen Wort "Diktatur". | |
Dieses gut gepflegte Feindbild ist irrational, weil es so tut, als wären | |
wir morgen alle 100 Prozent bio - dabei ist unser ökologischer Fußabdruck | |
immer noch so groß, dass das Klima, die Artenvielfalt und eine gerechte | |
Welt unter ihm verschwinden. Aber die Angst vor einer Machtverschiebung | |
Richtung Grün ist durchaus berechtigt. Denn inzwischen wandelt die | |
Konsensdemokratie Deutschland mit Atomausstieg und Energiewende auf grünen | |
Spuren, und die alte Lobby von Industrie und Energieunternehmen bekommt | |
plötzlich keine Vorzugsbehandlung mehr im Kanzleramt. Der alten Machtelite | |
des fossil-konservativen Komplexes schwimmen die Felle weg, weil sie auf | |
die drängenden Fragen der Zukunft keine besseren Antworten haben als die | |
Ökos sie schon seit Jahrzehnten formulieren. | |
Eine zweite begründete Sorge der Öl- und Kohlefans ist der Verlust der | |
gesellschaftlichen Hegemonie. Wer wie die FAS warnt, "Porschefahrer, | |
Fernreisende, Fleischesser, keiner kann mehr sicher sein", der sieht seine | |
Lebensweise gefährdet. Aber in das Geschrei um die Ökodiktatur mischt sich | |
auch die Einsicht, dass gerade neue Werte verhandelt und alte entsorgt | |
werden: Eine Enquetekommission mäkelt am heiligen Gral | |
"Wirtschaftswachstum" herum; "Freie Fahrt für freie Bürger" ist kein Slogan | |
mehr, mit dem sich Autos verkaufen lassen; und die Rede von glücklichen | |
Kühen führt selbst in der CDU-Kantine nur zu Hohngelächter. | |
In den wütenden Attacken auf die angebliche Ökodiktatur steckt auch das | |
schlechte Gewissen der wertekonservativen Klientel: Ja, verdammt, die | |
Müslis hatten recht bei den Warnungen vor der Atomkraft; sie hatten recht | |
bei ihrer Kritik an Massentierhaltung, Rohstoffvergeudung und | |
unverantwortlicher Wirtschaftsweise. | |
Auch deswegen hat sich abseits der Diffamierungen inzwischen eine | |
ernsthafte Debatte über so etwas wie die "Ökodiktatur" entwickelt. Immer | |
mehr Experten fragen sich, ob die parlamentarische Demokratie mit | |
Klimawandel, Artenschwund und Ressourcenhunger überhaupt zurechtkommen | |
kann. Wenn Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber warnt, der Klimawandel | |
sei bald nur noch "im Rahmen einer Kriegswirtschaft" beherrschbar; wenn | |
Günter Grass vor der "Ökodiktatur" warnt oder Thomas Friedman, Journalist | |
der New York Times, träumt, die USA könnten nur einen Tag lang so sein wie | |
China (sprich: ohne das träge demokratische System), dann sprechen nicht | |
Menschen, die autoritärer Tagträume verdächtig sind - sondern Experten, die | |
sich den Perspektiven der ökologischen Katastrophen stellen. | |
Denn tatsächlich haben unsere kurzatmigen parlamentarischen Systeme keine | |
Lösungen für Probleme anzubieten, für die es einen langen Atem braucht. Die | |
UN, die EU und auch die Bundesrepublik sind Weltmeister darin, die Gefahren | |
für die Zukunft wissenschaftlich zu begutachten und Beschlüsse zu fassen. | |
Doch in der Umsetzung dieser Beschlüsse scheitern sie regelmäßig an ihren | |
eigenen Vorgaben: Die UN will den Klimawandel auf zwei Grad begrenzen, | |
schafft aber keine Emissionsreduzierungen; die EU wollte das Artensterben | |
bis 2010 stoppen und hat mangels Zielerreichung diese Frist einfach um zehn | |
Jahre verlängert. Deutschland hat eine umfassende Strategie zur | |
Nachhaltigkeit verabschiedet, kommt aber bei vielen Faktoren einfach nicht | |
voran. Das ist alles kein Zufall: Global gesehen ist die parlamentarische | |
Demokratie sogar ein Ökokiller ersten Rangs. Denn gerade die Länder mit | |
entwickelten Demokratien - hauptsächlich die Industrienationen - sind für | |
die schwersten Umweltzerstörungen verantwortlich. | |
Trotzdem ist eine Ökodiktatur kein Ausweg. Und zwar aus einfachen Gründen: | |
Erstens will sie niemand; zweitens funktioniert sie nicht, denn für die | |
Auswege aus der Ökokrise sind Erfindungsgeist, Beweglichkeit und Mut nötig, | |
die in einer Demokratie viel besser gedeihen. Und drittens ist die Diktatur | |
nicht nötig, denn es gibt Besseres: die Ökokratie - eine Fortentwicklung | |
der Demokratie, die die physikalischen Grenzen des Überlebens anerkennt. | |
## Natur ist Diktatur | |
Schließlich leben wir schon lange in der Ökodiktatur, worauf Reiner Metzger | |
(taz vom 15. 6.) hingewiesen hat: Mit der Natur kann man nicht verhandeln, | |
sie richtet sich nicht nach Mehrheit und Abstimmung. Deshalb ist auch die | |
Definition der Nachhaltigkeit falsch, nach der ökologische, ökonomische und | |
soziale Ansprüchen gleich wichtig sind. Wer den Vorrang der Ökologie | |
verneint, stellt die Grundlagen des Lebens zur Disposition. | |
Der Vorrang für das Überleben hat nichts mit Diktatur zu tun, sondern ist | |
eine rationale Güterabwägung. Daraus folgen aber neue Definitionen. | |
"Freiheit" etwa ist mehr als ökonomischer Liberalismus, sie kann auch im | |
Verzicht liegen: Freiheit von Verkehrsstau und vom Billigschnitzel, | |
Freiheit von der Angst vor dem atomaren GAU. Die Entkopplung von Freiheit | |
und Wirtschaften ist noch wichtiger als die Entkopplung von | |
Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch. "Fahrverzicht für freie Bürger" | |
wäre ein Slogan, der diese neue Form von Freiheit auf den Punkt brächte. | |
Was aber tun mit denen, die diese Art von Freiheit nicht wollen? Kommt dann | |
die Ökopolizei, um den Müll durchzuschnüffeln? Keineswegs: Die Ökokratie | |
hat weitaus bessere Instrumente als die Ökodiktatur: Sie kann werben, | |
überzeugen und die Gesellschaft weiter ergrünen lassen. Sie kann eine | |
"Zukunftsbank Europa" (ZBE) gründen, die etwa EU-weit für die ökologische | |
Stabilität das leistet, was derzeit die EZB für die Stabilität der | |
Finanzmärkte tut: Subventionen verteilen, Gelder streichen, belohnen und | |
strafen. Und sie kann das tun, was Demokratie ausmacht: Mehrheiten | |
organisieren, Gesetze beschließen und durchsetzen. Und immer wieder klar | |
machen, dass das nicht die Diktatur ist, sondern der tägliche Kampf um | |
unsere Zukunft, und dass man diese Begriffe nicht durcheinander bringen | |
sollte. | |
Oder um es mit Egon Vaupel, dem Marburger "Ökodiktator" zu sagen: "Wenn wir | |
eine Solarsatzung beschließen, reden die Leute von Ökodiktatur. Wenn die | |
Bausatzung aber Autostellplätze zwingend vorschreibt, redet niemand von | |
Stellplatzdiktatur." | |
Bernhard Pötter: "Ausweg Ökodiktatur? Wie unsere Demokratie an der | |
Umweltkrise scheitert", oekom Verlag, 2010. | |
20 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Regisseur | |
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