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# taz.de -- Debatte Ökodiktatur: Die Dienstwagenverteidiger
> Die Atomlobby hat ihre PR-Leute losgelassen: Eine "Ökodiktatur" drohe
> uns. Die ist doch längst Realität! Und die Öko-Skeptiker treiben uns
> immer weiter in die Tyrannei.
Bild: Nicht alle Reichen fahren Ferrari – aber auf die, die sich den Ferrari …
Die Rede von einer Ökodiktatur, die Umweltschützer und grüne Würdenträger
gern einrichten möchten, ist Gefasel – jedoch auf eine andere Weise als
gemeinhin angenommen.
Denn eine Ökodiktatur kann man schon deshalb nicht einführen, weil wir
längst in einer leben – die derzeitigen Mahner vor einer kommenden grünen
Diktatur verschärfen allerdings die Auswirkungen einer solchen erheblich.
Das weltweite Wirtschaftssystem ist eng verknüpft mit dem Ökosystem, in dem
es agiert. Viele Wirtschaftswissenschaftler, Politiker und ein immer noch
großer Teil der Öffentlichkeit tun hingegen so, als wäre ihr Handeln
abgekoppelt von ihrer Umgebung. Eine stärkere Entflechtung ist zwar
möglich, dafür muss man allerdings aktiv werden, statt zu jammern. Derzeit
geschieht immer noch das Gegenteil, die Abhängigkeit vom Rohstoffnachschub
aus der Umwelt wächst. Deshalb treiben gerade die Ökobremser und -skeptiker
uns alle weiter in die Tyrannei.
Schon immer ist der begrenzende Faktor von Gesellschaften ihre Energie- und
Nahrungszufuhr gewesen. Durch das Anzapfen der Kohlevorräte mit der
industriellen Revolution im 18. Jahrhundert haben wir diese Zufuhren enorm
erhöht. Später kam noch Erdöl und Erdgas hinzu. Getrieben davon stiegen
Wachstum und Wohlstand.
## What a wonderful world
Wir haben also unser System enorm erweitert, und das mit gutem Ergebnis:
Von Küche bis Kultur, von Medizin bis Multimedia nutzen wir einen
Fortschritt und eine Bequemlichkeit, von dem im Barock selbst Fürsten nur
träumen konnten. Auf Dauer wird es uns jedoch nicht gelingen, den Rahmen
unseres Handelns zu verdrängen. Die Erde ist groß, aber die Menschheit
inzwischen größer. Der sogenannte ökologische Fußabdruck zeigt, dass
weltweit eigentlich die Hälfte mehr Fläche zur Verfügung stehen müsste für
jenes Wirtschaften, das sich die Menschheit leistet. Wir Deutschen
bräuchten sogar zweieinhalbmal so viel. Die Erde kann also nicht weiter
liefern wie für ein "Weiter so" nötig.
Wie wird das in dieses Ökosystem eingebettete Wirtschaftssystem reagieren?
Die Wirtschaft passt sich an veränderte Rahmenbedingungen an. Für die
Reaktion haben wir noch Zeit, denn die Preise knapper, aber notwendiger
Güter wie Erdöl oder Nahrungsmittel sind noch bezahlbar und das Klima
schaukelt sich nur langsam hoch. Allerdings verschwenden wir diese zur
Verfügung stehende Zeit und begeben uns damit immer stärker in die Fänge
der Ökodiktatur. Sie ist dann nicht nur im ökologischen Sinne als Grundlage
allen Seins vorhanden. Sie drängt sich in das tägliche Handeln. Wer denkt,
er habe ein Recht auf Verschwendung, auf über 7.000 Kilowattstunden
Stromverbrauch pro Jahr (aktueller Pro-Kopf-Verbrauch der Deutschen), auf
ein zwei Tonnen schweres Automobil (Durchschnittsdienstwagen eines
deutschen Ministerpräsidenten oder Bundesministers), der beschleunigt den
Fall in die harschen äußeren Zwänge.
## Die Reichen bleiben cool
Die Reichen können dabei wie häufig kühler bleiben als der Rest, denn sie
werden sich ein würdiges Leben auch unter verschärften Bedingungen länger
leisten können, insbesondere wenn sie auch über Anteile an den
Produktionskapazitäten der künftig knappen Güter (Wasser, Essen, Land,
ressourcenintensive Waren) verfügen. Die anderen 90 Prozent der Menschheit
jedoch müssen mit ihrer Arbeitskraft die immer teureren
Lebensnotwendigkeiten ergattern.
Der Übergang von der heutigen latenten in die akute Ökodiktatur wird nicht
schleichend sein, er wird Kipppunkte durchlaufen: Weil unersetzbare
Rohstoffe schlagartig teurer werden, wenn die Nachfrage die Produktion
übersteigt; weil das Klima immer sprunghafter wird; weil Verbraucher
überraschend und panisch reagieren, mit Hamsterkäufen etwa; und weil sich
Gesellschaften militantere Regierungsformen wählen, wenn sie sich bedroht
sehen.
Eine wehrhafte Demokratie handelt rechtzeitig. Sie wartet nicht auf die
scheinheiligen Warner vor einer Ökodiktatur, nicht auf Leute wie die
Energiekonzernchefs und ihre Büttel, die doch von Energieknappheit
profitieren. Wir zahlen derzeit Billionen an Strom- und Ölkonzerne, für
Wegwerfprodukte und Umweltverschmutzung. Dieses Geld geht in die falschen
Taschen und gefährdet die Demokratie. Das Verzögern nachhaltigen Handelns
gefährdet die Freiheit - nicht ein paar Vorschriften zur Energiewende.
Wer die drohende akute Ökodiktatur nun als Weltuntergangsszenario der
Ökopessimisten sieht, der liegt schon wieder falsch. Es liegt ja Hoffnung
im Erkennen des Problems. Man kann es dann angehen. Viele haben es ja schon
eingesehen und wären offen für Handeln.
## Profite? Ja, bitte!
Das Problem dabei sind allerdings die reichsten zehn Prozent weltweit. Wird
die Geldelite mitziehen? Sie ist in den meisten Staaten entscheidend, und
sie schwankt. Denn sie hat bei Veränderungen nicht nur zu gewinnen, sondern
auch sehr viel zu verlieren.
Derzeit überlassen wir den falschen Eliten die Wirtschafts- und vor allem
die Energiepolitik. Nämlich denjenigen, die auch mit katastrophalen
Veränderungen der derzeitigen Ökosysteme ihr Geld verdienen und mit ihren
Profiten Regierungshandeln verzögern.
Die Demokratien müssen an diese Profite ran, um die Gegner des Wandels zu
schwächen. Und sie müssen denjenigen Eliten Perspektiven bieten, die das
Wirtschaftssystem in eine zukunftsfähigere und menschenwürdigere Form
bringen wollen. Das müssen auch profitversprechende Perspektiven sein, denn
Geld regiert nun einmal unsere Wirtschaftswelt.
Führt das in eine Ökodiktatur, wie die derzeitigen Mahner vor einer solchen
sie verstehen? Nein. Wird den Leuten vorgeschrieben, wie sie zu leben
haben? Ja, teilweise schon. Aber heute wird mindestens so viel
vorgeschrieben. Und die Elite muss auch keine Bange haben: Statt
Riesenautos oder einer energieverschwenderischen Lebensweise wird es andere
Statussymbole geben. Die Gewinne der Energie- und Rohstoffzufuhr allerdings
werden hoffentlich breiter verteilt sein. Das wäre dann aber weniger
Diktatur als heute.
15 Jun 2011
## AUTOREN
Reiner Metzger
## TAGS
Schwerpunkt Atomkraft
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