# taz.de -- Debatte Schwarz-grüne Perspektiven: Ein Traumgespinst | |
> Nach Merkels Atomausstieg scheint die Bahn frei zu sein für die | |
> Vollendung einer heimlichen Liebe: die Allianz von Union und Grünen. Aber | |
> das kann für beide böse enden. | |
Bild: Schwarz-grüne Landschaften – mehr als ein Traum? | |
Die Grünen wollen dem schwarz-gelben Atomausstieg zustimmen. Deutlicher | |
können sie nicht zeigen, dass sie die Kehrtwende der Union anerkennen. Mit | |
dem Atomaustieg ist die größte Hürde für schwarz-grüne Koalitionen | |
abgeräumt. Die Energiewende, die nun ansteht, wäre für eine schwarz-grüne | |
Regierung ein sinnstiftendes Vorhaben – jedenfalls für die Grünen. Früher | |
hätte man gesagt: ein Projekt. | |
Auf den ersten Blick spricht fast alles für dieses Bündnis. Es wäre nicht | |
nur mal was Neues, es wäre auch das Schlusskapitel im bundesdeutschen | |
Familienroman. Schwarz-gGün wäre der Handschlag der politischen Erben von | |
Kurt Georg Kiesinger und von Rudi Dutschke, eine Art späte | |
Familienzusammenführung nach dem Generations-Riss, der seit 1968 die | |
bundesdeutschen Eliten durchzog. Daher die wenn auch verfliegende Aura von | |
Bedeutung, die diese Koalition umgibt. | |
Zudem gibt es eine Art doppelter didaktischer Erzählung. In der Union | |
halten einige Schwarz-Grün für den Endpunkt einer gelungenen | |
Resozialisierung der Ex-Alternativen. Früher hatten die Grünen demnach viel | |
unrealistischen Unfug im Sinn, sie wollten das Volk in einer Ökodiktatur | |
erziehen – eine Spätfolge ihrer Herkunft aus linken Sekten, in denen | |
aggressiver Idealismus regierte. | |
Die Union hat indes den Weg der Grünen zu Maß und Mitte befördert. | |
Aufgeweckte Unions-Politiker wussten immer: Wenn die Grünen in die Jahre | |
kommen, die Bankkonten und Eigentumswohungen größer werden, verfliegen die | |
Jugendflausen. | |
## Auf dem gleichen Gymnasium | |
Die Grünen haben die spiegelverkehrte Erzählung. In diesem Bild sind die | |
Grünen Agenten, die der Union das Engstirnige, den latenten Rassismus, die | |
Verachtung von Minderheiten, das patriarchale Familienmodell, überhaupt das | |
Altdeutsch-Nationale halbwegs ausgetrieben haben. So ergibt sich ein | |
Anschein wechselseitiger Annäherung: Die Grünen bekennen sich zur | |
Schuldenbremse, die Union hat ihre Familienpolitik ein bisschen entrümpelt. | |
Zudem haben sich auch die Lebenswelten von Grünen und Union angenähert. In | |
manchen bürgerlichen Großstadtquartieren frequentieren grüne Pragmatiker | |
und liberale CDU-Wähler den gleichen Bioladen, sie schicken ihre Kinder auf | |
die gleichen Gymnasien – und dort lieber in den Religions- als in den | |
Ethikunterricht. Ist Schwarz-Grün also die überfällige Besiegelung der | |
Konversion des alten und des neuen Bürgertums? | |
Nicht ganz. Es gibt, vergleicht man die Programme, in der Sozial-, | |
Gesundheits- und Steuerpolitik ein paar gravierende Hindernisse. Die Grünen | |
wollen im Gesundheitssystem eine Bürgerversicherung, welche die obere | |
Mittelschicht merklich belasten würde. Die Union hingegen will die privaten | |
Krankenkassen erhalten und hält die Bürgerversicherung für eine Art | |
Sozialismus. | |
Die Grünen wollen einen höheren Spitzensteuersatz, die Union nicht. Vom | |
Ehegattensplitting bis zu Hartz IV, vom Niedriglohnsektor bis zur | |
Erbschaftsteuer – in den Verteilungsfragen ziehen Schwarz und Grün jeweils | |
am anderen Ende des Seils. Die Grünen wollen moderate Umverteilung von oben | |
nach unten – viele in der Union halten dies für genau den | |
Linkssozialdemokratismus, vor dem sie die Republik seit ihrer Gründung in | |
einem nie endenden Abwehrkampf zu bewahren versuchen. | |
## Die Angst vor dem Leck | |
Kurzum: Auch geschickte politische Handwerker werden kaum verhindern, dass | |
hier das Leck des schwarz-grünen Regierungschiffes aufbrechen wird. Denn | |
das Selbstverständnis von Union und Grünen liegt in diesen Ressorts quer. | |
Die Union folgt der "rechten" Erzählung, dass sich Leistung lohnen muss, | |
die Grünen sind – jedenfalls in ihrem Selbstbild – einem "linken" | |
Gerechtigkeitsversprechen verpflichtet. | |
In der rot-grünen Regierung hatten sie das unverdiente Glück, dass Gerhard | |
Schröder mit der Agenda 2010 alle Pfeile auf sich zog, während die Grünen | |
Hartz IV durchwinkten und so tun konnten, als hätten sie damit nichts zu | |
tun. Das wird mit der Union nicht so laufen. | |
Im Gegenteil: Schwarz-Grün wird die inneren Widersprüche bei beiden | |
Parteien zum Vorschein bringen. Die CDU hat in Hamburg schon erlebt, wie | |
übellaunig ihre Wähler auf Schwarz-Grün reagieren können. Die Lehre aus | |
Hamburg lautet: Die Union wird den Grünen nie mehr zu viele Kompromisse in | |
Kernbereichen anbieten. | |
Denn die Union ist fragiler, als es scheint. Unter Merkel ist es gelungen, | |
in lebenweltlichen Fragen – Stichwort Gleichberechtigung und Kitas – recht | |
geräuscharm den Anschluss an den Zeitgeist wiederherzustellen. Allerdings | |
führt Merkels stille Modernisierung zu Erosionen. | |
So verliert die Union bei Wahlen sukzessive in ihren Hochburgen und | |
katholischen Kernmilieus. Hier zeigt sich eine strukturelle Ähnlichkeit zum | |
Niedergang der SPD. Dort war es das schrumpfende gewerkschaftliche Milieu, | |
das die Schröder-SPD auf dem Weg in die Mitte einfach zurückließ. In der | |
Union kann man einen Agenda-2010-Effekt in Superzeitlupe beobachten. | |
## Wo die Union hart bleibt | |
Das sinnstiftende Projekt einer schwarz-grünen Regierung wäre | |
wahrscheinlich ein grünes: der ökologische Umbau der Energieindustrie. Um | |
so härter wird die Union, um den eigenen Laden zusammenzuhalten, bei | |
Symbolthemen bleiben: bei Steuerpolitik und Gesundheitssystem, aber auch | |
beim EU-Beitritt der Türkei, bei der inneren Sicherheit und | |
Migrantenpolitik. | |
Doch eine Totaldemontage ihres Gerechtigkeitsimages können sich wiederum | |
die Grünen nicht leisten – gerade nicht mit der Union. | |
Ergo: Schwarz-Grün ist machbar. Aber es würde eine Koalition unter | |
Dauerspannung. Denn dieses Bündnis wird auf beide wie ein Enzym wirken und | |
vorhandene Zersetzungsprozesse beschleunigen. Bei den Grünen wird der | |
bislang geschickt verhüllte Widerspruch, gleichermaßen eine Art Öko-FDP zu | |
sein und laute Umverteilungsrhetorik zu pflegen, sichtbar. Bei der Union | |
wird schlaglichtartig der Preis erhellt, den sie für ihre Verwandlung unter | |
Merkel gezahlt hat. | |
Und: Kann man sich wirklich vorstellen, dass Alexander Dobrindt und Claudia | |
Roth in den Talkshows der Republik mal gemeinsam den neuen Hartz-IV-Satz | |
verteidigen werden? | |
19 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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