| # taz.de -- Neuwahlen im September: Italienische Verhältnisse | |
| > Im dritten Anlauf nimmt Italiens Staatspräsident das Rücktrittsgesuch des | |
| > Regierungschefs Mario Draghi an. Droht Italien nun ein Rechtsruck? | |
| Bild: Mario Dragi hat sein Handtuch geworfen | |
| Rom taz | Italiens Ministerpräsident Mario Draghi hat endgültig das | |
| Handtuch geworfen. Am Donnerstagmorgen begab sich Italiens | |
| Ministerpräsident zu Staatspräsident Sergio Mattarella, um definitiv seinen | |
| Rücktritt einzureichen. Und diesmal nahm Mattarella die Demission an, | |
| anders als noch bei Draghis erstem Rücktrittsgesuch vor einer Woche, als | |
| der Staatspräsident verfügt hatte, der Regierungschef solle sich vor einer | |
| endgültigen Entscheidung noch einmal dem Parlament stellen. | |
| Eben dies hatte der 74-jährige frühere EZB-Chef am Mittwoch getan – und das | |
| Ergebnis war desaströser, als wohl von ihm selbst und dem Gros der | |
| politischen Beobachter erwartet. Am Ende hatte er das Vertrauensvotum | |
| im Senat zwar auf dem Papier mit 95 Ja- gegen 38 Nein-Stimmen gewonnen – | |
| war damit aber meilenweit von einer echten Mehrheit in dem 320 Mitglieder | |
| zählenden Zweiten Haus des Parlaments entfernt. | |
| Denn gleich drei der vier größeren Fraktionen aus seiner Koalition – die | |
| Fünf Sterne ebenso wie Silvio Berlusconis Forza Italia und Matteo Salvinis | |
| Lega – hatten ihm die Unterstützung verweigert, per Nichtteilnahme an der | |
| Abstimmung. Damit war klar: Die von Draghi seit Februar 2021 geführte | |
| [1][Regierung der nationalen Einheit ist am Ende], zerrissen von der | |
| Zwietracht ihrer Partner. Nur die gemäßigt linke Partito Democratico (PD), | |
| dazu einige kleinere Fraktionen von der Mitte bis zur radikalen Linken | |
| standen noch überzeugt hinter dem Ministerpräsidenten. | |
| Dieser Misskredit lag auch an Draghi selbst. Der hatte sich in seiner Rede | |
| vor dem Senat nur in einem Punkt konziliant gezeigt: in seiner | |
| Bereitschaft, seinen ersten Rücktritt noch einmal zu überdenken. Begründet | |
| hatte er diese Bereitschaft allerdings ausschließlich mit der | |
| „beispiellosen Mobilisierung“ der Zivilgesellschaft „zugunsten der | |
| Fortsetzung der Regierung“, mit den zahllosen Appellen etwa der 2.000 | |
| Bürgermeister*innen, und der Vereinigungen des ärztlichen und pflegerischen | |
| Personals aus dem Gesundheitswesen, eine Mobilisierung, die er nicht | |
| ignorieren“ könne. | |
| ## Pakt des Vertrauens | |
| Zugleich aber ging er einige der ihn bisher stützenden Parteien hart an. | |
| Von ihnen verlangte er, den „Pakt des Vertrauens“ wiederherzustellen, der | |
| eine Woche zuvor mit dem Ausscheren der Fünf Sterne aus der | |
| Koalitionsdisziplin – ebenfalls bei einer Vertrauensabstimmung über ein | |
| Unterstützungspaket für Unternehmen und Bevölkerung – zerbrochen sei. | |
| Doch nicht nur die Fünf Sterne griff er an, sondern – im Ton noch härter – | |
| Salvinis Lega. Von ihr verlangte er, sie solle endlich die | |
| Regierungsentscheidungen zum Beispiel zur Liberalisierung des Wettbewerbs | |
| unterstützen, statt sich zum Fürsprecher der „teils gewalttätigen Proteste… | |
| von Taxifahrern und Strandlido-Betreibern gegen mehr Wettbewerb zu machen. | |
| Dies empfand die Salvini-Truppe als unsittlichen Antrag. Gewiss habe Draghi | |
| weiter das Vertrauen der Lega, brüllte deren Fraktionsvorsitzender im | |
| Senat, Massimiliano Romeo, den Regierungschef an – aber nur zu den | |
| Konditionen der Lega: kein Vertrauen zur bisherigen Regierung, sondern | |
| komplette Neuaushandlung der Koalitionsprogramms und der Kabinettsposten. | |
| Damit war das Tischtuch zwischen Draghi und den bisher zur Koalition | |
| gehörenden Rechtsfraktionen, Lega und Forza Italia, endgültig zerschnitten. | |
| Italiens Rechte – und in zweiter Linie auch die 5-Sterne-Bewegung – glaubt, | |
| das Land könne ohne Weiteres auf einen Regierungschef verzichten, der | |
| international, vorneweg in der EU, als Garant der Stabilität in einem | |
| instabilen Land wahrgenommen wurde. | |
| ## Whatever it takes | |
| Schließlich war Draghi ja nicht irgendwer. Der frühere Gouverneur der | |
| italienischen Notenbank, und [2][in den Jahren 2011-19 Präsident der EZB], | |
| hatte die europäische Geldpolitik in den schwersten Jahren der Eurokrise zu | |
| verantworten, hatte mit seiner „Whatever-it-takes“-Politik seinen Beitrag | |
| dazu geleistet, den Crash der Gemeinschaftswährung zu vermeiden. | |
| Mit dieser Vergangenheit musste Draghi sich als Ministerpräsident im | |
| Ausland nicht groß vorstellen – er kennt alle auf dem internationalen | |
| Parkett, oft seit Jahren, von Olaf Scholz über Emmanuel Macron bis zur | |
| EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der US-Finanzministerin | |
| Janet Yellen. | |
| Dies machte ihn zum Stabilitätsgaranten gerade in Zeiten, in denen die | |
| Zinsen wieder anziehen, während Italien mit einem Berg öffentlicher | |
| Schulden von 150 Prozent des BIP fertig werden muss; gerade in Zeiten auch, | |
| in denen Europa in den Jahren bis 2026 190 Milliarden Euro aus dem | |
| Corona-Wiederaufbaufonds („Next Generation EU“) nach Italien schaufelt. | |
| Draghi bürgte dafür, dass die daran gekoppelten Reformen – vom | |
| Wettbewerbsrecht zum Vergaberecht und zur Reform des Steuersystems – | |
| vorangetrieben würden. | |
| Er bleibt zwar bis zu den Neuwahlen, die womöglich schon am 18. September | |
| stattfinden, noch geschäftsführend im Amt. Doch die europäischen | |
| Regierungen und die Kommission in Brüssel sollten sich schon einmal an den | |
| Gedanken gewöhnen, dass er eine Nachfolgerin bekommen könnte, die dort so | |
| gut wie niemand kennt – und die erst recht niemand als Stabilitätsanker | |
| wahrnehmen würde: Giorgia Meloni. | |
| Die 45-jährige Römerin, die mit ihrem dialektgefärbten Slang den volksnahen | |
| Auftritt perfekt beherrscht, hat beste Chancen, bei den nächsten Wahlen die | |
| Rechtsallianz zum Sieg zu führen. Sie ist Vorsitzende der | |
| postfaschistischen Fratelli d’Italia (FdI), einer Partei, die die Trommel | |
| fürs Vaterland, gegen Migrant*innen, für die traditionelle Familie, gegen | |
| LGBTIQ*-Rechte rührt. Zu Draghi stand FdI immer in Opposition, als einzige | |
| größere italienische Partei – und dies bescherte den Postfaschisten, die | |
| bei den Wahlen 2018 noch bei schmalen 4,3 Prozent gelegen hatten, den | |
| steilen Aufstieg auf mittlerweile 22-24 Prozent in den Umfragen. | |
| ## 17 Monate über Kreuz | |
| Über Kreuz lag FdI sowohl mit der Lega, als auch mit Forza Italia in den | |
| letzten 17 Monaten, weil die beiden Parteien der regierenden | |
| Notstandskoalition angehörten. Nachdem Salvini und Berlusconi sich am Ende | |
| gegen Draghi gestellt hatten, darf diese Wunde als geheilt gelten, wird die | |
| Rechte geeint und siegessicher in den Wahlkampf ziehen. | |
| Genauso stramm rechtspopulistisch wie die Postfaschisten ist die | |
| gegenwärtig für 15 Prozent gute Lega Matteo Salvinis, der als Innenminister | |
| in den Jahren 2018/19 den Kampf gegen die „Invasion der illegalen | |
| Migranten“ auf seine Fahnen geschrieben und mit der Politik der | |
| geschlossenen Häfen auch rabiat umgesetzt hatte. | |
| Auch die Liebe zur EU ist weder bei Meloni noch bei Salvini groß | |
| ausgeprägt. Orbán, Kaczinsky, Le Pen: So heißen ihre Freund*innen in | |
| Europa. Von der EU verlangen sie zwar immer gerne mehr Geld für Italien, | |
| predigen aber ansonsten, Brüssel solle sich gefälligst aus den | |
| Angelegenheiten der Mitgliedstaaten raushalten. Ausgesprochen gemäßigt | |
| wirkt dagegen Silvio Berlusconi – doch seine Forza Italia liegt gegenwärtig | |
| in den Umfragen bei 8 Prozent und dürfte den populistischen Kurs einer | |
| möglichen Rechtsregierung in Rom nur marginal korrigieren. | |
| ## Entscheidung zur Waffenlieferung mitgetragen | |
| Sorgen dürften sich viele in Europa auch über die Haltung der italienischen | |
| Rechten zum Ukrainekrieg machen. Giorgia Meloni hat sich zwar auf diesem | |
| Feld in den letzten Monaten als Ultra-Atlantikerin profiliert, hat alle | |
| Entscheidungen der Regierung Draghi inklusive Waffenlieferungen an die | |
| Ukraine aus der Opposition heraus mitgetragen. Doch an ihrer Seite hat sie | |
| gleich zwei alte Putin-Freunde. | |
| Vorneweg wäre da Berlusconi. Der lud seinen Buddy Wladimir mehrfach auf | |
| sein Anwesen in Sardinien ein, an einem Abend sang der Startenor Andrea | |
| Bocelli. Berlusconi selbst war 2015 Putins Gast auf der Krim, nach der | |
| Annexion durch Russland. Schon Jahre vorher hatte der italienische | |
| Milliardär sich über ein ganz besonderes Geschenk des russischen | |
| Präsidenten freuen dürfen: ein Himmelbett, das in seinem römischen | |
| Schlafzimmer Platz fand. | |
| Persönlich waren Salvini und Putin nie Freunde – dafür aber unterhielt die | |
| Lega beste Beziehungen zur Putin-Partei Einiges Russland, die in einem 2017 | |
| abgeschlossenen Kooperationsabkommen mündeten. Und immer wieder zeigte sich | |
| Salvini in mit dem Putin-Konterfei bedruckten T-Shirts. Weiterhin laufen | |
| staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, die dem Verdacht nachgehen, Moskau | |
| habe über Provisionen bei Erdölgeschäften die Lega verdeckt finanzieren | |
| wollen. | |
| Meloni, Salvini, Berlusconi können auch deshalb auf den Wahlsieg hoffen, | |
| weil die „progressive Allianz“ zwischen der PD und den Fünf Sternen – die | |
| einen klar pro Draghi, die anderen gegen den Premier – zerbrochen ist. Wenn | |
| die zwei Parteien kein neues Bündnis schließen, steht womöglich eine | |
| haushohe rechte Mehrheit im Parlament ins Haus: 37 Prozent der Sitze werden | |
| in den Wahlkreisen vergeben, und sie könnten komplett an die geeinte Rechte | |
| fallen. Eine reaktionäre Regierung in Rom: Für Italien und für Europa | |
| brächen dunkle Zeiten an. | |
| 21 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Braun | |
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