# taz.de -- Neues Album „Lightning Dreamers“: Sound der Zitteraale | |
> Jazztrompeter Rob Mazurek und das Exploding Star Orchestra haben ein | |
> neues Album. Es muss ein Leben geben, das sich anfühlt, wie diese Musik | |
> klingt. | |
Bild: Jazztrompeter Rob Mazurek | |
Die eigene Musik bündig zu beschreiben fällt vielen schwer. Nicht jedoch | |
dem [1][US-Trompeter, Kornettisten, Maler und Performance-Künstler Rob | |
Mazurek], der sich geneigten Hörer:innen als „abstractivist“ vorstellt. | |
Das sei jemand, erklärt Mazurek im Gespräch mit der taz, der | |
„leidenschaftlich versucht, das Leben in all seinen Komplexitäten auf | |
essenzielle Elemente zu abstrahieren“ und „Wissen und Erfahrungen dazu | |
verwendet, transzendente, fließende und utopische Zukünfte voranzutreiben“. | |
Transzendent, fließend und utopisch, das ist nicht wenig. Und wie bei jeder | |
latent manifestartig gedachten Künstlermythologie ist der Prüfstein – | |
glaubt man ihm das? – das musikalische Material. Weniger schulmeisterlich | |
formuliert: Wenn man das, was da behauptet wird, beim Hören spüren kann, | |
ist es auch plausibel. | |
Sein neues Album hat der 1966 in New Jersey geborene und in Chicago | |
aufgewachsene Künstler wieder mit einem seiner langlebigsten Ensembles | |
aufgenommen, dem Exploding Star Orchestra. Mazurek ist ein Drifter, der bei | |
aller Experimentierfreude etwas befreiend Cooles in seinem Trompetensound | |
bewahrt hat. An allen seinen Stationen, etwa im brasilianischen São Paulo, | |
hat er jeweils mit lokalen Künstler:innen Projekte angestoßen, die er | |
über einen langen Zeitraum weiterverfolgt, auch jetzt, wo er seit Längerem | |
im texanischen Künstlerort Marfa lebt. | |
## Improvisiert und komponiert zugleich | |
Der Name Exploding Star Orchestra beschreibt schon mal sehr schön, was bei | |
ihm passiert: Die Musik zielt ins Offene, in die Grenzenlosigkeit und ist | |
in dauernder Verwandlung, bildet aber trotzdem einen gleichbleibenden Strom | |
aus Musik. Figuren bauen sich auf und werden transformiert, überlagert und | |
wieder zerlegt. | |
Das Auftaktstück, „Future Shaman“, baut auf einer endlos repetitiven | |
Moog-Synthesizer-Linie und einem HipHop-Beat auf, über die Mazurek, der | |
Gitarrist Jeff Parker, der Sänger Damon Locks und die Keyboarderin Angelica | |
Sanchez Schichten aus Sound und Text legen. | |
Mazureks Songs klingen improvisiert und komponiert zugleich, als würde der | |
klangliche Reichtum im spontanen Zusammenspiel entstehen. Gerade im | |
Vergleich zum Vorgängeralbum, „Dimensional Stardust“, das komplett | |
durcharrangiert wirkte. Im Verhältnis von Komposition und Improvisation | |
liegt dann auch der Schlüssel zur Bauweise dieser Musik. Mazurek spricht | |
nicht von Improvisation, sondern von freier Komposition, um beides näher | |
aneinanderzurücken. „Partituren, Mappings, Cut-up-Technik und textbasierte | |
Anweisungen spielen eine wesentliche Rolle.“ | |
Das Verhältnis von Strukturierung und Freiheit bildet sich auch in Mazureks | |
Arbeitsroutine ab. Die nämlich ist kontinuierlich in der Produktion von | |
Formwechseln und Verwandlungen: „Ich produziere jeden Morgen einen Sound in | |
meinem Studio, dann mache ich eine Zeichnung, die von diesem Klang | |
beeinflusst wird, danach gehe ich ins Atelier und mache ein Gemälde, das | |
sich auf die Zeichnung bezieht. | |
## Durch Klang animierte Gemälde | |
Später mache ich Fotos von dem Gemälde, scanne diese und animiere das | |
Gemälde durch den Klang. Schließlich nehme ich Standbilder aus der | |
Animation und komponiere weiter, basierend auf diesen Bildern.“ | |
Das ist auch die Vorlage, auf der die Musik des Exploding Star Orchestra, | |
wenn es anfängt zu fließen, mitsamt Musiker:innen abhebt. Es gehe | |
darum, „auf einer Ebene zu schwingen, auf der es egal wird, wie es gemacht | |
wurde, und etwas entsteht, das einfach ist“. Und das passiere, wenn „eine | |
Gruppe als Kollektiv auf einer ähnlichen Ebene vibriert, egal ob sie | |
komponierten oder frei komponierten Klang fabriziert“. Auch in dieser | |
Hinsicht sind die Begriffe, mit denen hier ein Künstler seine Musik | |
beschreibt, keine kleinen. | |
Das Utopische des Mazurek-Sounds liegt in diesem gemeinsamen Vibrieren, das | |
es ermöglicht, Formensprachen von unterschiedlichen Charakteren mit | |
individuellen Spielweisen und Techniken zu einem Klangkörper werden zu | |
lassen, in dem alle Stimmen sich vermischen und trotzdem in ihrer | |
Einzigartigkeit präsent bleiben. Diese Stimmen kommen vornehmlich aus der | |
Chicagoer Jazzszene, die bereits in den Neunzigern mit dem, was man | |
seinerzeit Postrock nannte, lose verbunden war. | |
[2][Jeff Parker, der Tortoise-Gitarrist, spielt seit Langem mit Mazurek | |
zusammen], früher etwa beim Electronic-Jazz-Fusion-Projekt Isotope 217. | |
Einige Alben des Chicago Underground Duos, in dem Mazurek zusammen mit | |
Schlagzeuger Chad Taylor spielt, sind auf dem Tortoise-Label Thrill-Jockey | |
erschienen. Zuletzt wurde der Kreis um diese Szene, um jüngere | |
Künstler:innen und das ebenfalls in Chicago ansässige Label | |
International Anthem erweitert. | |
## Struktur in der Freiheit und Freiheit in der Struktur | |
In die die gesamte B-Seite einnehmenden Stücke „Black River“ und „White | |
River“ sind Samples von einem Exploding-Star-Orchestra-Konzert beim Pariser | |
Jazz-Festival „Sons d’hiver“ eingewoben. Die im letzten Jahr verstorbene | |
[3][Trompeterin Jaimie Branch] – sie nannte Mazurek einmal ihren Mentor –, | |
spielte damals Synthesizer. „Es gibt kein Maß, das genau genug ist, um | |
Jaimies allumfassendes Wesen zu messen“, sagt Mazurek zu seiner Kollegin. | |
„Ihr kreativer Geist ist jetzt überall um uns herum.“ | |
„Black River“ und „White River“ sind nicht nur wegen der Mitwirkung von | |
Branch, der Mazurek „Lightning Dreamers“ gewidmet hat, die Kernstücke des | |
Albums. In ihnen kommen das Motiv des Fließens und der Grenzenlosigkeit | |
auch programmatisch zusammen, im Bild des Flusses. Und das ist wiederum ein | |
anderer wichtiger Mosaikstein in Mazureks Biografie. Drei Jahre hat er in | |
der brasilianischen Stadt Manaus, an der Mündung des Rio Negro gelebt, im | |
Amazonasgebiet. | |
Seine ehemalige Frau Rosalis, eine Biologin, erforschte dort Zitteraale. | |
„Black River“ ist als Reise den Fluss hinunter konzipiert. Mazurek erklärt: | |
„Stille in der Bewegung, Gewitter in der Ferne, Zitteraale, laute Sounds | |
der Stereoanlagen von Häusern am Ufer, Vögel, Brüllaffen und rosa Delfine, | |
die neben dem Boot halten, um Hallo zu sagen.“ Es gebe in seiner Musik | |
keinen Anfang und kein Ende. | |
Die Stücke auf „Lightning Dreamers“ sind so gedacht und gespielt, dass sie | |
der überbordenden Rhetorik entsprechen. Man kann das, was sie auszeichnet – | |
Grenzenlosigkeit, gemeinsames Vibrieren, Struktur in der Freiheit und | |
Freiheit in der Struktur –, spüren. Und das kann man dann durchaus und ohne | |
jede Kitschgefahr utopisch nennen. Nicht nur im Sinne einer Wunscherfüllung | |
durch Kunst, also als Surrogat, sondern als wunderschön klingende | |
Leerstelle. Oder auch als Versprechen: Irgendwo muss es ein Leben geben, | |
das sich so anfühlt, wie diese Musik klingt. | |
16 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Benjamin Moldenhauer | |
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