| # taz.de -- Neuer Roman von Ian McEwan: Der schmutzige Saft des Lebens | |
| > Existenzielle Fragen und bürgerlicher Lebensstil: In seinem Roman | |
| > „Kindeswohl“ stellt Ian McEwan eine Richterin vor eine schwierige | |
| > Entscheidung. | |
| Bild: Nicht nur wegen ihrer absurden Perücken haben es Richter am High Court n… | |
| In Fiona Mayes Leben ist einiges in Unordnung. Ihre Ehe steht kurz vor dem | |
| Scheitern, weil ihr Mann es auf seine alten Tage noch einmal wissen will | |
| und eine Affäre mit einer Studentin sucht – die Ehe des Paars um die | |
| Sechzig weist seit einiger Zeit gewisse Ermüdungserscheinungen auf. | |
| Doch auch einer der Fälle, über den die Familienrichterin am High Court zu | |
| urteilen hat, bringt sie ins Schwanken: Ein knapp 18-jähriger, schwer an | |
| Leukämie erkrankter Junge weigert sich, bei seiner Therapie eine | |
| Bluttransfusion anzunehmen, weil er, wie seine Eltern, Zeuge Jehovas ist | |
| und Blutspenden als „Beschmutzung“ des eigenen Bluts verdammt. Das | |
| Krankenhaus will, da rasches Handeln erforderlich ist, eine Behandlung mit | |
| Blutkonserven auf dem Rechtsweg erzwingen. | |
| Entlang dieses Spannungsbogens von häuslicher Krise und beruflicher | |
| Gewissensprüfung erzählt der britische Schriftsteller Ian McEwan seinen | |
| jüngsten Roman „Kindeswohl“. Über dieses hat Fiona Maye im Fall von Adam | |
| Henry zu wachen, insbesondere gilt es die Frage zu prüfen, ob das Kind sich | |
| der Tragweite seiner Entscheidung, fremdes Blut abzulehnen, völlig bewusst | |
| ist oder nicht. Nachdem Maye sich in der Verhandlung die Plädoyers angehört | |
| hat, trifft sie eine unkonventionelle Entscheidung. Sie fährt ins | |
| Krankenhaus, um mit dem Jungen zu sprechen. | |
| Diese Begegnung ist in mehrfacher Hinsicht folgenreich. So ist die | |
| Richterin vom hoch entwickelten Intellekt des Jungen beeindruckt, selbst | |
| wenn sie sich nicht von seinem religiösen Eifer ablenken lässt. Sie wird | |
| nach der Rückkehr vom Krankenbett eine Bluttransfusion anordnen, um das | |
| Kind vor dem potentiell tödlichen Einfluss der Sekte der Zeugen Jehovas zu | |
| schützen. | |
| Für Adam Henry andererseits bedeutet der Besuch der Richterin weit mehr als | |
| einen lebensrettenden Eingriff. Er ist so fasziniert von Fiona Maye, dass | |
| er ihr, nachdem er gesundheitliche Fortschritte gemacht hat, zu schreiben | |
| beginnt und ihr sogar hinterherfährt, als sie eine Dienstreise durch ihren | |
| Gerichtsbezirk macht. Unter anderem, um ihr mitzuteilen, dass er sich | |
| inzwischen so weit vom Glaubenssystem seiner Eltern entfernt hat, dass der | |
| Abstand zum Vater unüberbrückbar scheint. | |
| ## Ein moralisches Dilemma | |
| Die Dinge nehmen von da an eine weitere dramatische Wendung, die ein wenig | |
| vorhersehbar und mit einigem, wenngleich britisch zurückgenommenen, | |
| existentiellen Pathos gewürzt ist. McEwan gelingt es oft mit leichter Hand, | |
| die ausweglosen Situationen, in die Menschen durch unbedachte oder | |
| scheinbar nebensächliche Handlungen hineinstrudeln, auf eindringlich | |
| nüchterne Weise zu skizzieren. Diesmal erweckt er den Eindruck, als habe er | |
| ganz vordergründig ein moralisches Dilemma durchspielen wollen, um das | |
| herum er einen elegant gearbeiteten, aber eine Spur zu ornamental geratenen | |
| Rahmen gezimmert hat, der die Geschichte zusammenhalten soll. | |
| Vielleicht hat es mit dem trockenen Umgangston der Juristen zu tun, dass | |
| McEwan die Ehekrise im gehobenen Bürgertum als Kontrapunkt gesetzt hat, was | |
| ihm einige Gelegenheit gibt, den Lebensstil der upper middle class zu | |
| illustrieren – Fiona Maye begleitet in ihrer Freizeit gern einen Kollegen | |
| bei Liederabenden am Klavier. Mitunter nimmt die Beschreibung der | |
| Ausstattung ihres Lebens allerdings Züge von narrativem Selbstzweck an. | |
| Eigentlich ist McEwans Idee, eine Vertreterin der strengen Gerichtsbarkeit | |
| dabei zu begleiten, wie ihr vorübergehend die Kontrolle über sich und ihre | |
| Arbeit entgleitet, kein unattraktiver Ansatz. Was er aus diesem Material | |
| macht, ist allemal spannend und genau beobachtet. Trotzdem bleibt am Ende | |
| der Eindruck, dass er sich allzu sehr auf seine bewährten Fähigkeiten als | |
| Autor verlassen hat und mit sich weniger gnadenlos umgesprungen ist als mit | |
| seiner Hauptfigur. Ein – bittersüßes – Happy End gesteht er ihr am Ende | |
| übrigens doch noch zu. | |
| 16 Feb 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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