| # taz.de -- Nachruf auf Iepe Rubingh: Einer, der im Quadrat gelebt hat | |
| > Der Aktionskünstler Iepe Rubingh, Erfinder des Schachboxens, ist mit 45 | |
| > Jahren in Berlin gestorben. Ein Freund und Weggefährte erinnert sich. | |
| Bild: Schachboxen: Weltmeister Nikolay „The Chaiman“ Sazhin mit Iepe Rubing… | |
| Eine Brachfläche in Berlin-Mitte, Anfang der Nullerjahre. Zwei blonde | |
| Holländer sitzen in einem Boxring und spielen Schach, anschließend dreschen | |
| sie aufeinander ein. Ein euphorisches Publikum feuert die Kämpfer an: bis | |
| einer fällt oder schachmatt ist. Eine neue Sportart ist geboren. | |
| Offiziell arbeite ich bei diesem Try-out als Abendleitung. Mein | |
| journalistisches Herz klopft jedoch und weiß: Dies ist eine Weltneuheit. | |
| Ich sehe, wie Iepe Rubingh alias Iepe the Joker seinem Amsterdamer Kumpel | |
| Luis the Lawyer den Sieg im Kombinationskampf abringt. Ich schreibe den | |
| ersten Artikel über Schachboxen. | |
| Ein paar Wochen später: Mit zwei vollen Bussen fahren wir nach Amsterdam. | |
| Im Klub Paradiso, einer ehemaligen Kirche, sehen Tausende Schaulustige die | |
| Feuertaufe dieses Hybridsports. Ich halte die Hand von Rubinghs Mutter | |
| Anje, sie will nicht, dass ihr Sohn sich prügelt. | |
| Nach Zeitüberschreitung des Gegners wird Iepe der erste Weltmeister, mit | |
| einem Regelwerk, das er selbst erdachte. Der Tischlersohn aus Rotterdam – | |
| der von Hitlers Luftwaffe zerstörten Hafenstadt – provoziert auf | |
| holländischem Boden, lässt für sich die deutsche Nationalhymne singen, ein | |
| Ring-Girl hält die schwarz-rot-goldene Fahne hoch. | |
| ## Sein Motto: Reclaim the streets | |
| Nachdem er in dort in den wilden Neunzigern,,Tschüss Amsterdam! Ihr habt | |
| einen Sohn verloren“ plakatiert hatte, kam Rubingh Ende der Neunziger nach | |
| Berlin. Er zog in die Kastanienallee im damals noch alternativen Prenzlauer | |
| Berg, die Luft war schwanger von Anarchie und Freiheit. Iepe wurde | |
| Aktionskünstler und Drum-’n’-Bass-DJ. Seine erste Fotoausstellung „K12, | |
| 1.HH, 4.OG 2.L“ fand in seiner Altbauwohnung statt. Es wurde eine fette | |
| Party, viele folgten, alle Schwarz-Weiß-Nacktbilder wurden dabei geklaut. | |
| Das Haus, im idyllischen Hirschhof, hat bis heute schwere Kriegsschäden. | |
| Die Fassade bröckelt, überall Einschusslöcher. Nie wäre er umgezogen. Die | |
| Bar Schwarzsauer nebenan wurde seine Stammkneipe. Zahlreiche Nächte endeten | |
| mit Freunden auf seinem Dach. | |
| Auch ich kam aus Amsterdam als Geschichtsstudent an die Spree. Kurz darauf | |
| rief Rubingh an. Er wollte den Hackeschen Markt absperren, damals noch kein | |
| touristischer Hotspot. Ein frühes Zeichen gegen Gentrifizierung. Sein | |
| Motto: Reclaim the streets. Ein schwüler Spätsommerabend, 1999. Zehn Männer | |
| mit Stirnlampen rennen über den Platz, verbinden mit jeweils fünfhundert | |
| Meter Polizeiabsperrband alle Laternen. Ein Verkehrschaos und ein spontanes | |
| Volksfest entstehen. Rubingh wird verhaftet. | |
| Das Gleiche wiederholt er kurz darauf auf der stark frequentierten | |
| Shibuya-Kreuzung in Tokyo. Er dirigiert seine Helfer im kanariengelben | |
| Kostüm, landet in den Abendnachrichten und zehn Tage in der Zelle. Nur mit | |
| diplomatischer Hilfe kommt er raus. | |
| ## Irritainment pur | |
| Iepe the Joker nannte seine global Aufsehen erregenden Aktionen Joker | |
| Performances. Aber er sprach wie sein Vorbild Joseph Beuys („Jeder Mensch | |
| ist ein Künstler“) auch von sozialen Plastiken. Am liebsten baute Iepe | |
| Rubingh mit vielen Beteiligten Gesamtkunstwerke. | |
| Wie in Kreuzberg am 1. Mai, ich war dabei. Unter dem Motto „Kampfbereit“ | |
| veranstalte The Joker Interventionen auf der Straße, Irritainment pur. Der | |
| selbsternannte Narr hielt den agitierenden Massen meterlange Spiegelfolie | |
| vor. Rubinghs schweigende Menschen in Blaumännern mit blauen Protesttafeln | |
| ohne Text irritierten die lokale Rotfront. | |
| Ich selbst verkaufte an dem Tag im Zeitungskostüm Abos an ermüdete | |
| Einsatzpolizisten und feurige Demonstranten, weil die praktisch | |
| orientierten Holländer am Tag der Arbeit arbeiten, während die Deutschen, | |
| prinzipiell wie immer, für Gerechtigkeit aufstehen. Rubingh brachte es | |
| fertig, dass kichernde japanische Mädchen, Demo-Touristen, Beamten in einer | |
| Polizeiwanne auf dem Schoß saßen. | |
| Er war ein Enfant terrible, ein Hans Dampf, ein Tausendsassa mit | |
| unendlichen Ideen. Bei den Mai-Krawallen platzierte er eine Frau im roten | |
| Kleid in der Oranienstraße zwischen Wasserwerfern und Schwarzem Block. Kurz | |
| vor der Eskalation rief sie durch ein Megafon: „Küssen auf’s Maul!“ Sofo… | |
| schmusten eingeschleuste Pärchen leidenschaftlich auf dem Boden. Gewalt | |
| wurde verhindert. | |
| Fünf Kilometer weiter, in der Aktionsgalerie in Mitte, lange vor der | |
| Smartphonezeit, sah das Sektpublikum diese Performances in einer | |
| Kommandozentrale live auf Leinwand – dachte es: weil schnelle Radfahrer die | |
| Kamera-Bilder gebracht hatten – die Telefonschalten mit Reportern waren | |
| inszeniert. | |
| Rubingh war ein Pragmatiker, ein Macher. Ich weiß noch, dass wir, begleitet | |
| von einem Filmteam, nach Hellersdorf zu einer NPD-Demo fuhren. Iepe hatte | |
| gerade mit Boxen angefangen. Wir stellten uns zwischen die Glatzköpfe, die | |
| uns als „blonde, blauäugige Arier“ begrüßten. Iepe verband seine Hände … | |
| begann zu singen: „Jeder Sprung auf meinem Seil ist zehn Mal besser als | |
| dein Sieg Heil!“ Anschließend provozierte er mit Schattenboxen. | |
| Verrückte Ideen dachte Rubingh sich in seiner Badewanne aus, pontifikal im | |
| Wohnzimmer platziert. Anfang 2000 verloren wir Künstler unsere Ateliers im | |
| Haus des Lehrers am Alex. Nebenan in der Kongresshalle stand auch die | |
| Erotikmesse vor dem Aus: „Wenn wir alle ausziehen, machen wir das lieber | |
| selbst.“ Die Darstellerinnen hatten damit kein Problem, die meisten | |
| „Lehrer“ schon. Aber Iepe ließ, vor der Hauptstadtpresse, mit uns und den | |
| Go-go-Girls gern die Hose runter. | |
| ## Er war ein Feierbiest | |
| Er war, um mit dem Fußballgenie Louis van Gaal zu sprechen, ein Feierbiest. | |
| Er vergnügte sich mit sieben Kolumbianerinnen im Pool. Er schleppte | |
| Kurvenwunder Molly Luft zum Striptease auf eine Weddinger Kegelbahn. Bei | |
| Fußball-WMs brachten wir die Rivalität zwischen Oranje und der Mannschaft | |
| zum Kochen. | |
| Seine Kunst jedoch war gesellschaftlich relevant, berührte den Menschen. Am | |
| Potsdamer Platz baute er die Mauer wieder auf, aus Protest gegen das rasche | |
| Verschwinden. Ein riesiges, schwarzes Narrenschiff mit Künstlern aus | |
| bedrohten Klubs wie I.M. Eimer zogen wir wie das trojanische Pferd in die | |
| Hackeschen Höfe. Seine Arbeit war auch nachdenklich, poetisch. Er schlief | |
| im Museum, ließ einen Baum am Hackeschen Markt an sonnigen Sommertagen | |
| regnen. Das „Wunder von Berlin“ funktionierte mit einem versteckten | |
| Drainagesystem und führte zu einem Wet-T-Shirt-Wettbewerb. | |
| Rubingh gab der Wirklichkeit Farbe. Am Rosenthaler Platz in Mitte ließ er | |
| im Jahr 2010 Fahrradfahrer an allen Ampeln gleichzeitig 5.000 Liter | |
| abwaschbare, umweltfreundliche Farbe auskippen. So zwang er die Autofahrer, | |
| ein rot-blau-gelbes Mosaik zu machen: „Painting Reality“. | |
| Aber sein größtes Geschenk an die Welt war das Schachboxen. Als kleiner | |
| Junge gab ein futuristischer Comic von Enki Bilal ihm die Idee ein, als | |
| Erwachsener sprach er mit Gari Kasparow und den Klitschko-Brüdern darüber. | |
| Mit anderen gründeten wir den Chess Boxing Club Berlin. Rubingh wurde | |
| Präsident des Weltverbands WCBO. Es gibt mittlerweile Vereine von Moskau | |
| bis London, von Iran bis Indien, mit Tausenden Nachwuchskämpfern. | |
| Durchtrainierte Polizisten und Feuerwehrmänner aus Berlin wurden ebenso | |
| Weltmeister wie Raumfahrtstudenten aus Krasnojarsk. | |
| Iepe wurde Impresario des Intellektual Fight Clubs, war der Don King des | |
| Kombinationssports. Ein Eventmanager und Kreativunternehmer, der die | |
| Columbiahalle und den Festsaal Kreuzberg füllte. Der Storyteller und | |
| Pecha-Kucha-Activist sprach an Universitäten und vor Betrieben. | |
| Am 8. Mai 2020, ein dreiviertel Jahrhundert nach der deutschen Kapitulation | |
| 1945, wurde der 45-jährige Iepe Rubingh tot in seiner Wohnung gefunden. Der | |
| König war gefallen, sein Löwenherz hatte aufgehört zu schlagen. Er hat das | |
| Leben maximal genossen. Ein Freund sagt: Iepe hat im Quadrat gelebt. Sein | |
| Bruder Monne baute den Holzsarg, darauf eine Schachfigur und ein Jokerherz | |
| gefräst. Auf Postern in der ganzen Stadt stand: „Tschüss, Berlin! Ihr habt | |
| einen Sohn verloren.“ | |
| 31 May 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Rob Savelberg | |
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