| # taz.de -- Nachruf auf Riza Baran: „An Dich denke ich sehr gern“ | |
| > Kurde aus der Türkei, Deutscher, Kreuzberger: Mit Riza Baran, einem der | |
| > ersten migrantischen Politiker in Berlin, ist ein großer Versöhner | |
| > gestorben. | |
| Bild: Riza Baran | |
| Einen Handlungsreisenden habe ich Riza Baran manchmal genannt. Das war so | |
| um die Jahrtausendwende, als die gebrochenen Herzen wieder einigermaßen | |
| gekittet waren. Erst seines. Dann meines. Ob er es gerne gehört hat, dass | |
| er ein Vertreter sei, ist unklar. Da war nur dieses kurze Auflachen, das | |
| schnell abbrach und mehr einem geschnalzten, einsilbigen „tsa“ glich. | |
| Ein Reisender – ja, das sei er. Ein Handelnder dazu. Und klar, die | |
| Vergeblichkeit seines Tuns, wie alle Handlungsreisenden es kennen, kannte | |
| er auch. Dass er an Türen klingelte, sein Zeug anbot, wenn jemand öffnete, | |
| und oft abgewiesen wurde. | |
| Baran hat trotzdem nie aufgegeben. Allerdings verkaufte er keine Waren. Er | |
| wollte Ideen, große, unter die Leute bringen. Solche, die die Gesellschaft | |
| besser machen. Riza Baran war in Sachen Gerechtigkeit und Integration | |
| unterwegs, in Sachen Völkerverständigung und gleichberechtigter Teilhabe. | |
| Auch für Minderheiten- und Frauenrechte, für Menschlichkeit und | |
| Mitmenschlichkeit, Versöhnung und Frieden setzte er sich ein. Schlimm | |
| genug, dass er das anbieten musste wie sauer Bier. Nun aber muss er es | |
| nicht mehr. Am 4. Mai ist er mit 78 Jahren gestorben. | |
| Kaum 21 Jahre alt war Baran, als er nach München gezogen war. Drei Tage | |
| hatte die Reise von Anatolien nach Bayern im Jahr 1963 noch gedauert. Es | |
| war zu einer Zeit, als Leute aus der Türkei nach Deutschland kamen, um zu | |
| arbeiten. Anders als seine Mitreisenden wollte er jedoch studieren. | |
| Gefragt, wie er darauf gekommen sei, auf dieses Deutschland, meinte er, | |
| weil ein Lehrer im Unterricht einmal von den deutschen Philosophen der | |
| Aufklärung erzählt habe. | |
| Die Ideen der Aufklärung gefielen ihm, machten ihn neugierig auf das Land. | |
| Es waren Ideen, die einen anderen Zugang zu Gerechtigkeit öffneten und sie | |
| passten zu seinem Gefühl. Als Kind ging es ihm schon so, dass da Sachen | |
| waren, die er falsch fand und sie sich richtig dachte. Falsch fand er, dass | |
| die Kinder der Hirten seines Vaters, der ein kurdischer Viehbauer in | |
| Anatolien war, nicht in die Schule gehen durften wie er. | |
| Falsch fand er auch, dass er in der Schule Ärger bekam, weil er kein | |
| Türkisch konnte und ihm die Lehrer sagten, Kurdisch, das, was er konnte, | |
| sei gar keine Sprache, Kurdisch gebe es nicht. Da liegt die Frage nahe: Was | |
| ist es dann? – und er stellte sie. Kinder haben ein Gespür für | |
| Gerechtigkeit. | |
| Viel hat er nie über seine Herkunft erzählt. Fragte man nach dem Privaten, | |
| wurde er einsilbig, bestenfalls anekdotisch. Zu getrennt die Leben vom Hier | |
| und Dort. Dort waren die vielen Geschwister, auch die sieben, die im | |
| Kindesalter verstarben. Dass sein Vater Analphabet gewesen sei und ein | |
| weitblickender Mensch, erzählte er. Und dass er selbst irgendwie | |
| herausstach mit seiner Wissbegier und seiner Insistenz, dass etwas auch | |
| anders sein könne. Schülervertreter war er, früh bekam er Kontakt zur | |
| Opposition in der Türkei | |
| Gut fand er auch, dass er rekonstruieren konnte, wann er geboren wurde: am | |
| 19. April 1942. Ein Geburtsdatum haben ist Identität. In seinem Pass stand | |
| was anderes. Man nahm es damals in Anatolien nicht so genau bei der | |
| Registrierung der Kinder, die bisweilen erst Monate nach der Geburt | |
| stattfand. Tag, Jahr, das blieb im Ungefähren. Man wählte ein Datum, oft | |
| den Ersten eines Monats, bei ihm den 1. März. | |
| In München lernte Baran Deutsch, die Sprache, die ihn zeit seines Lebens | |
| außer Atem brachte, was nicht nur an seiner schon damals angeschlagenen | |
| Lunge lag, sondern auch daran, dass er den Deutschen so viel erklären | |
| musste. Vieles von dem, was heute integrationspolitisch selbstverständlich | |
| ist, hat Baran erstmals thematisiert. Weil er die Bayern nicht verstand, | |
| wenn sie redeten, zog er zum Studium nach Hannover. Dort werde, hatte er | |
| erfahren, Hochdeutsch gesprochen. Und während er studiert und seine Frau | |
| kennenlernt, rückt die Türkei immer weiter in die Militärdiktatur und er | |
| von ihr weg. | |
| Eine Zeit lang arbeitet er nach dem Studium als Ingenieur in Hannover, er | |
| habe etwa die Statik von Brücken berechnet, erzählte er, dann zieht er nach | |
| Berlin, studiert noch Pädagogik, wird Berufsschullehrer. Aber dass es | |
| Brücken waren, das hat Symbolkraft. Egal, was er später Neues macht, im | |
| Herzen ist er Brückenbauer geblieben. Als solcher wusste Baran doch, dass | |
| Großes ein gutes Fundament braucht und dass die Details stimmen müssen. | |
| Wer sich die Integrationspolitik der Bundesrepublik inklusive Westberlin in | |
| den 80er Jahren vorstellt, der weiß, dass überall Brücken fehlten zwischen | |
| den deutschen und den migrantischen Gemeinden, deren Sprachrohr Riza Baran | |
| wurde, und dass das alles Detailarbeit war. Baran hat Ausländerbeiräte ins | |
| Leben gerufen und Vereine gegründet, hat Integrationsthemen bei | |
| Gewerkschaften und Parteien auf die Agenda gesetzt. Er hat sich in | |
| türkischen Vereinen ein- und kurdische Vereine vorangebracht. Und er hat | |
| Menschen vernetzt, wo es ging. | |
| Seine große Stärke: dass er in Konflikten ausgeglichen hat. Sein Credo: „Es | |
| gibt immer Alternativen zum Krieg.“ Mit diesem Glauben hat er gehofft, dass | |
| auch die Kurden eines Tages selbstbestimmt in der Türkei leben können. | |
| Anfang der 90er Jahre beantragte er die deutsche Staatsbürgerschaft. Ohne | |
| hätte er kein politisches Mandat in Deutschland bekommen. Baran war bei den | |
| Grünen im Bezirk Kreuzberg aktiv, war in der Bezirksverordnetenversammlung. | |
| Dort lernte ich ihn kennen und war fasziniert von seinem sprechenden Blick, | |
| mit dem er Worte ersetzte. Niemals hätte ich ohne seine Hilfe verstanden, | |
| wie die Strukturen demokratischer Mitbestimmung zu durchdringen sind. Er | |
| war ein begnadeter Lehrer. | |
| Bald aber traf ihn der Herzbruch. In der Zeit fiel das Denken schwer. Fast | |
| jeden Tag traf ich ihn, damit er trauern konnte. Kurz danach ging es mir | |
| genauso und wir trauerten gemeinsam. Als es wieder ging, der Liebeskummer | |
| in uns leichter war, setzte Baran neue Maßstäbe: 1995 errang er als erster | |
| Kandidat mit migrantischer Herkunft bei der Wahl zum Berliner | |
| Abgeordnetenhaus ein Direktmandat. | |
| Die Zeit als Abgeordneter schlauchte ihn. Zu sehr war er dort | |
| Einzelkämpfer, wo seine Stärke doch die Vielheit war. Oft trafen wir uns, | |
| damit seine Gedanken aufgeschrieben werden, er brauchte jemanden, um seine | |
| Ideen, die immer um Dialog und um Befreiung aus traditionellen, | |
| strukturellen, religiösen und politischen Zwängen kreisten, in die Spur zu | |
| bringen. Und er brauchte jemanden, der sie für ihn tippte. | |
| Was ihm in seiner Zeit als Abgeordneter jedoch sehr gefiel: die Arbeit im | |
| Petitionsausschuss. Dort werden Menschenschicksale verhandelt, wenn | |
| juristische Wege ausgeschöpft sind. Um drohende Abschiebungen, verhinderten | |
| Familiennachzug, Berufsverbote und ähnliche Themen ging es. „Bedenke“, | |
| sagte er, „es muss gelingen, dass Mitglieder aller Parteien hier | |
| Entscheidungen treffen, die weiter gehen als die Rechtsgrundlagen.“ Er | |
| rechnete es sich zugute, dass in seiner Zeit viele Petitionen positiv | |
| beschieden wurden. | |
| Nach einer Wahlperiode allerdings ging er 2001 zurück in die | |
| Bezirkspolitik, wurde BVV-Vorsteher, wieder der erste mit migrantischer | |
| Herkunft. Auf der lokalen Ebene hatte er mehr Ansprache. Unsere intensiven | |
| Gespräche aber wurden seltener. Verabredungen klappten fortan kaum. Zuletzt | |
| entdeckte ich ihn, dem Tippen ein Gräuel war, auf Facebook wieder. | |
| Meine letzte Nachricht im Dezember 2019 an ihn: „Lieber Riza, ich sehe | |
| gerade, dass Du auf Facebook bist und will Dich ganz herzlich grüßen. Ich | |
| hoffe, es geht Dir gut. Ich weiß nicht, warum wir uns nicht mehr sehen oder | |
| sprechen, aber sei versichert, dass ich sehr gerne an Dich denke.“ Und | |
| seine Antwort: „An Dich denke ich sehr gerne LG Riza“. | |
| 7 May 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
| ## TAGS | |
| Grüne Berlin | |
| Politiker | |
| Einwanderung | |
| Aktionskunst | |
| Kurden | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Nachruf auf Iepe Rubingh: Einer, der im Quadrat gelebt hat | |
| Der Aktionskünstler Iepe Rubingh, Erfinder des Schachboxens, ist mit 45 | |
| Jahren in Berlin gestorben. Ein Freund und Weggefährte erinnert sich. | |
| Kurden in Berlin: Angst vor Übergriffen | |
| In Berlin wird weiter gegen Angriffe der Türkei in Nordsyrien protestiert. | |
| Kurdische Berliner*innen rufen zu friedlichem Umgang auf. | |
| Kurden in Berlin: "Es wird keine Angriffe geben" | |
| Kurdischstämmige Berliner verfolgen mit Sorge den Konflikt an der | |
| türkisch-irakischen Grenze, sagt Riza Baran. Gewalt gegen türkische | |
| Einrichtungen erwartet er nicht. |