# taz.de -- Nachruf Martin Reichert: Der Perlenfinder | |
> Unser Kollege Martin Reichert ist tot. Wir als oft auch freundschaftlich | |
> tief verbundene Kolleginnen* müssen gewahr werden, dass er nicht | |
> zurückkommt. | |
Bild: Er schrieb Texte von großer Martinhaftigkeit: Martin Reichert, hier auf … | |
Er hat sich, eben 50 geworden, am Freitag selbst aus dem Leben genommen, | |
und nur er weiß genau, warum das als Akt für ihn überhaupt und | |
tragischerweise infrage kam. Wir sind schockiert, wir weinen, wir trauern | |
um einen liebenswürdigen Mann, der nicht nur im taz-Kosmos seit den | |
frühesten Nullerjahren erheblich am Blühen und Gedeihen der taz beteiligt | |
war, thematisch ohnehin, doch: Er war, soviel muss gesagt sein, den | |
Menschen angenehm, er war in der taz nicht zufällig über etliche Jahre mit | |
besten Abstimmungsergebnissen in den Redaktionsrat, die Instanz der | |
innerredaktionellen Schlichtung, gewählt worden. | |
Martin Reichert kam in den neunziger Jahren nach Berlin, um an der | |
Humboldt-Universität Kulturwissenschaften und Geschichte zu studieren, | |
besser: „Gedöns für Orientierungslose“, wie er selbst in seiner smarten A… | |
mal sagte. Es lief, ja, es musste auf den journalistischen Beruf | |
hinauslaufen. | |
Viele seiner späteren Texte erwähnten immer wieder seinen Heimatort | |
Wittlich zwischen Eifel und Mosel, wo er aufwuchs, eine „Variante der Hölle | |
für jene, die nicht den Normen entsprachen“, also für einen wie ihn. Wobei | |
er seine Herkunftsfamilie als Personen nie „verriet“, er liebte sie ja; er | |
suchte über alle Jahre ein Einvernehmen mit ihnen, allerdings dies, wie er | |
sagte, „zu den Bedingungen, dass ich immer wieder in meine Heimat Berlin | |
zurückgehen kann – und ich mein Schwulsein nicht beschweigen muss“. | |
## Die Möglichkeit der Provinz zu entkommen | |
Berlin – das war für ihn, neben seinem Lieblingskurzreiseziel Paris, die | |
maximale Möglichkeit, der Provinz, der Enge und der Angst vor Missachtung | |
zu entkommen. Wer ihn damals kennenlernte, erkannte, auch ohne von seiner | |
Herkunft zu wissen, dass da einer aufblühte und in der Tat gedeihen wollte: | |
Da war einer, der wie Zehntausende in Berlin metropoles Exil suchte, auf | |
dem Weg zu Ruhm und Schönheit – und beides fand. | |
Seinen ersten Text schrieb er für Verlagsbeilagen der taz, ehe er in die | |
Redaktion der Wochenendbeilage taz.mag fester einstieg, mit allen möglichen | |
Sorten von Texten, zu gastronomischen Fragen, zu Erlebnissen als | |
studijobbender Taxifahrer, auch zur damaligen Expo in Hannover, gewiss auch | |
zu schwulen Fragen. Sein Stil war unmittelbar, sinnlich, bilderreich, | |
immer. | |
Martin konnte aus dem drögsten (aber natürlich wichtigen) Thema noch Nektar | |
quetschen. taz2/Medien, das Gesellschaftsressort der taz, 2003 begründet | |
und zunächst innerhalb der taz hochumstritten, war er mit seinen Beiträgen | |
einer der tonsetzenden Autorinnen*, vor allem mit seiner [1][Kolumne | |
„Landmänner“], in der er brandenburgischen Alltag zwischen [2][Baumärkten… | |
Straßensperrungen und Nachwendeerschütterungen schilderte, und das aus | |
seiner Perspektive des schwulen Mannes, der dort in einem Haus mit einem | |
anderen Mann lebte. Der Ort „Kremmen“ ist durch ihn beinahe berühmt | |
geworden. | |
Nicht minder war er am Aufbau der Sonntaz beteiligt, der Wochenendausgabe, | |
die die samstägliche Tageszeitung + taz.mag ablöste: Auf ihn konnte man, | |
mit der, mal auch lustigen, hin und wieder ernsthaften Delikatesse seiner | |
Textfähigkeiten, bauen, hieß es stets – und so war es auch. | |
## Bücher für Generationen | |
Er hat schließlich erfolgreiche Bücher geschrieben, unter anderem 2011: | |
„Wenn ich mal groß bin. [3][Das Lebensabschnittsbuch für die Generation | |
Umhängetasche]“, schließlich 2018 [4][„Die Kapsel. Aids in der | |
Bundesrepublik“], das Standardwerk zur (überwiegend als „schwul“ | |
markierten) Aidsepidemie seit den frühen achtziger Jahren. | |
[5][Das taz-Archiv ist voller Perlen aus seiner Feder], sein Journalismus, | |
so liest es sich besonders für frühe Texte, lebte von Recherche und | |
Struktur ohnehin, aber besonders wurden seine Texte durch emotionale – nie | |
sentimentale! – Unmittelbarkeit: Da berichtete einer aus dem Leben, das | |
nicht zuvor von Nachrichtenagenturen gefiltert worden war. Für seine | |
[6][2006 im taz.mag erschienene Reportage „Adieu, Habibi“], eine Geschichte | |
über den queeren Underground in der libanesischen Hauptstadt Beirut, bekam | |
er den Felix-Rexhausen-Preis zuerkannt. | |
Vor einigen Jahren, nach einer schweren gesundheitlichen Krise, mit der | |
Einsicht, dass ein Nachtleben seine dauernden Reize hat, aber oft nicht gut | |
mit Gesundheit und Wohlbefinden im Einklang zu bringen ist, lernte er den | |
Mann seines Lebens kennen, den aus Slowenien stammenden Boštjan, ein | |
Medienkünstler, Dozent und Kurator. | |
Beide rechneten nicht mit mehr als Flüchtigkeit, aber sie ‚erkannten‘ sich | |
– und bauten zwei Nester mit- und füreinander auf – in Berlins Neukölln w… | |
auch an der slowenischen Mittelmeerküste im Städtchen Koper, dort auch sein | |
Corona-Homeofficehauptquartier. Hieraus entsprang auch Martins Kompetenz, | |
über die Verwerfungen in seiner nun zweiten Heimat, um rechtspopulistische | |
Politiken für uns zu berichten. | |
## Ein Altar des Respektes und des Dankes | |
Manche guckten ihn nicht genau an, sagten über ihn: ach, ein ganz Lieber. | |
Martin hätte diese Charakterisierung nicht als Rufschädigung empfunden. | |
Wahr ist zugleich, dass er als Redaktionsrat in den frühen Zehnerjahren | |
mächtig und mit kühler Präzision die Verwerfungen in der Redaktion ins | |
Friedensmögliche moderierte: Wer sich damals falsch mit ihm anlegte, konnte | |
es mit unhintergehbarer Konsequenz zu tun bekommen. Kolleginnen*, die | |
damals von seinem Engagement profitierten, bauten ihm schon damals einen | |
Altar des Respekts und des Danks. | |
Im Winter bekam er das Angebot, zum Spiegel zu gehen, in das Kulturressort. | |
Er war, wie zu seinen taz-Anfangszeiten, unsicher, ob er den Druck | |
aushalten könne. Und alle Freundinnen* ermutigten ihn: Wer, wenn nicht Du? | |
[7][Er schrieb einige Texte], wie immer von größter Martinhaftigkeit. | |
Eigentlich ging das Leben so weiter, gut und zugewandt. Wir trafen uns | |
zufällig beim Griechen um die Ecke, wollen wir nicht wirklich uns mal echt | |
verabreden? Wie das so ist in der Metropole: Das klappt, aber nicht so oft, | |
dieses Treffen ohne Eile und Hast. | |
Sein geliebter Mann Boštjan informierte vor kurzer Zeit, seinem Martin gehe | |
es nicht so gut … Am Freitag war für Martin Reichert das Leben, sein Leben | |
für das, was ihn bedrängte, nicht mehr aushaltbar. | |
Hätten wir etwas merken müssen? Und was genau? Er hinterlässt trauernde | |
Freundinnen* und Angehörige. Und seinen Mann Boštjan, für den gerade die | |
ganze Welt eingestürzt ist. | |
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von | |
Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. | |
Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, auch | |
anonym. Rufnummern: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. | |
28 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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