| # taz.de -- Im Gedenken an unseren Kollegen: Aus einer alten Zeit | |
| > Martin Reichert ist am 26. Mai 2023 gestorben. Mit seinem Ehemann führte | |
| > er wenige Monate zuvor ein Gespräch mit einem Architektenpaar über | |
| > Sarajevo. | |
| Bild: Im Februar 1984 werden die Olympischen Winterspiele im Kosevo Stadion von… | |
| Martin Reichert und Boštjan Bugarič treffen Dragica und Zoran Doršner das | |
| erste Mal bei einer Diskussionsveranstaltung über jugoslawische Denkmäler. | |
| Das Architektenpaar hat die olympische Stadt Sarajevo für die Winterspiele | |
| 1984 maßgeblich entwickelt und gebaut. Reichert und Bugarič sind | |
| beeindruckt von den Doršners und ihrem großen Wissen über die | |
| krisengebeutelte Stadt im heutigen Bosnien und Herzegowina. | |
| An einem kalten Tag im Winter 2022/23 besuchen sie das Paar in ihrem Haus | |
| in Sarajevo, einem modernistischen hellen Bau mit mehreren Ebenen, wie | |
| Boštjan Bugarič später erzählt. Dragica Doršner serviert damals türkischen | |
| Kaffee und bosnisches Gebäck, an der Wand hängt ein Olympia-Plakat. Sie | |
| sprechen im Wohnzimmer, das an die Terrasse angrenzt, wo hunderte kleine | |
| Kakteen stehen. Wenige Monate später, am 26. Mai 2023, stirbt [1][Martin | |
| Reichert]. In Erinnerung an ihn veröffentlichen wir dieses Gespräch. | |
| wochentaz: Dragica und Zoran Doršner, 2024 sind die olympischen | |
| Winterspiele in Sarajevo 40 Jahre her, das Jubiläum wird gefeiert. Sie | |
| haben viele der Bauten damals geplant. Macht Sie das stolz? | |
| Dragica Doršner: Mit einem Abstand von 40 Jahren kann ich sagen, dass ich | |
| stolz bin auf unsere Arbeit und die unserer Kollegen. Unsere Planungen von | |
| damals haben eine bessere Infrastruktur geschaffen für Skifahrer, für | |
| Hotels, für die Öffentlichkeit. | |
| Wie kam es, dass Sie mit der Planung beauftragt wurden? | |
| Zoran Doršner: Als Architekt hatte ich bereits Unterkünfte für ein | |
| Wintersportzentrum südlich von Sarajevo entworfen und war außerdem an der | |
| Organisation eines internationalen Alpenwettbewerbs beteiligt, der | |
| eigentlich in Slowenien stattfindet sollte, wegen Schneemangels aber zu uns | |
| verlegt wurde. Einer der leitenden Stadtplaner der Stadt Sarajevo | |
| beauftragte mich dann mit der Erstellung des Raumplans für die Olympischen | |
| Spiele im Jahr 1984. | |
| Sie fahren auch selbst Ski.Dragica Doršner: Zoran und ich, wir lieben das | |
| Skifahren seit unserer Kindheit, wir waren begeistert, dass wir die | |
| Planungen für die Winterspiele machen durften. Aber natürlich war das keine | |
| Voraussetzung. Es gab verschiedene Planungsgruppen, die einen kümmerten | |
| sich um die Sportstätten, andere um Straßen und Parkplätze, wieder andere | |
| um Bereiche für die Fernsehübertragungen, für das Catering, um die | |
| Unterkünfte für die Athleten, die Teams und die Journalisten. Die | |
| Unterkünfte sollten in Wohngegenden entstehen, die gerade im Bau waren. | |
| Eine Firma, für die ich lange gearbeitet habe, wurde damit beauftragt, ich | |
| habe Gebäude in den zwei olympischen Dörfern Mojmilo und Dobrinja | |
| mitgebaut. | |
| Hatten Sie ein Vorbild für Ihre Planungen? | |
| Zoran Doršner: Wir haben uns sofort auf den Weg gemacht, um die | |
| Olympiastädte Innsbruck, Grenoble, Courchevel, Chamonix und | |
| Garmisch-Partenkirchen anzuschauen. Nach herzlichen Gesprächen gaben uns | |
| die Verantwortlichen dort ihre Planungsdokumentation und einen wichtigen | |
| Rat: Denken Sie bei der Planung aller Sportstätten stets an den letzten Tag | |
| des Wettkampfes und planen Sie rational – denn danach geht der Alltag | |
| weiter wie vor den Olympischen Winterspielen. | |
| Haben die Winterspiele Sarajevo verändert? | |
| Zoran Doršner: Vor den Olympischen Spielen war es in Sarajevo nicht üblich, | |
| dass Mädchen Ski fahren, Frauen im Sport waren kein Thema. Es gibt eine | |
| Geschichte über ein mutiges Mädchen, das die Kleidung ihres Bruders | |
| angezogen hat, um Ski fahren zu können. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in | |
| Sarajevo keine Einrichtung, in der Frauen ausgebildet werden konnten. Einen | |
| großen Einfluss hatte Adeline Paulina Irby, bekannt als Miss Irby, eine | |
| britische Reiseschriftstellerin und Frauenrechtlerin, die eine | |
| Mädchenschule in Sarajevo gründete. Davor lebten Frauen in Bosnien | |
| traditionell ausschließlich im Haus mit einem Garten, sie waren total | |
| isoliert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ordnete Tito an, dass Frauen | |
| lesen lernen müssen. | |
| Wie war die Situation bei der Bewerbung Sarajevos für die Olympischen | |
| Winterspiele? | |
| Zoran Doršner: Es war die Zeit des Kalten Krieges. Eigentlich sollen ja | |
| alle internationalen Konflikte während der Olympischen Spiele ruhen. Doch | |
| in den Jahren zuvor gab es einen Boykott des US-Teams, die Mannschaft nahm | |
| nicht an den Olympischen Sommerspielen in Moskau 1980 teil. Im Gegenzug | |
| kündigte die Sowjetunion an, nicht an den Olympischen Sommerspielen in Los | |
| Angeles teilzunehmen. | |
| Was bedeutete das für die Bewerbung Ihrer Heimatstadt? | |
| Zoran Doršner: Das Internationale Olympische Komitee erwog deswegen, die | |
| Kandidatur der Stadt Sarajevo anzunehmen. Grund war die Rolle von Titos | |
| Jugoslawien in der weltweiten Bewegung der Blockfreiheit. Und so entschied | |
| man sich einstimmig für unsere Kandidatur, um die olympische Tradition des | |
| Friedens und des Miteinanders zu wahren. Man muss auch noch einmal betonen, | |
| dass hohe Funktionäre des Internationalen Olympischen Komitees bei mehreren | |
| Gelegenheiten die Organisation der Olympischen Spiele in Sarajevo als sehr | |
| gut bewertet haben. | |
| Es gab damals so eine Art Witz: Immer, wenn die olympischen Offiziellen die | |
| Mitarbeiter, die an der Ausrichtung der Olympischen Spiele beteiligt waren, | |
| fragten, ob sie irgendetwas tun könnten, erhielten sie die Antwort: „Kein | |
| Problem.“ Der Generalsekretär Juan Antonio Samaranch erklärte beim | |
| feierlichen Löschen des Olympischen Feuers und dem Einholen der olympischen | |
| Flagge im Koševo-Stadion öffentlich, dass die Olympischen Spiele in | |
| Sarajevo die erfolgreichsten aller bisherigen Spiele waren, und | |
| verabschiedete sich mit den Worten: „Danke, liebes Sarajevo und bis bald in | |
| Calgary!“ | |
| Wie hat sich die Atmosphäre in der Stadt durch die Winterspiele verändert? | |
| Dragica Doršner: Vor allem die Jugend der Stadt hat die Veränderungen | |
| akzeptiert. Statt schwerer Mäntel trugen die Mädchen und Jungen im Winter | |
| sportliche Windjacken. Fremdsprachen wurden massenhaft erlernt, | |
| Coca-Cola-Flaschen wurden als Neuheit an den neu entstandenen Kiosken | |
| verkauft. Der berühmte Hit von Bijelo Dugme, die berühmteste Band hier | |
| damals, ging so: „Lasst uns in die Berge gehen, denn dort gibt es keinen | |
| Winter.“ Nach dem legendären Gewinn der olympischen Silbermedaille im | |
| Riesenslalom durch Jure Franko gab es in Sarajevo den Slogan „Ich liebe | |
| Jurek mehr als Burek!“ | |
| Die 1990er Jahre haben Sarajevo dann sehr zugesetzt. | |
| Zoran Doršner: Das war eine Zeit, in der der Aggressor nicht an Munition | |
| gespart hat. So wurde ein enormer „Urbizid“ begangen. | |
| Sie meinen die Zerstörung der Stadt durch Bomben während des Balkankriegs. | |
| Zoran Doršner: Ich habe viele Fotos von Orten gemacht, an denen Architektur | |
| von enormem Wert zerstört wurde. Ich kann immer noch nicht nachvollziehen, | |
| wie groß der Hass gewesen sein muss, als das Elektroprivreda-Gebäude von | |
| Ivan Štraus zerstört wurde oder das alte österreichisch-ungarische | |
| Postgebäude und viele andere. | |
| Dragica Doršner: Unsere Kultur verfügt immer schon über viel Sarkasmus. Auf | |
| dem rekonstruierten Postamt-Gebäude stand zum Beispiel einmal ein Graffiti | |
| „Das ist Serbien“. Und jemand anderes hat darunter geschrieben: „Idiot, d… | |
| ist die Post“. | |
| Nach dem Balkankrieg wurde vieles wieder aufgebaut. | |
| Dragica Doršner: Einige Gebäude wurden in den 1990er Jahren dank | |
| internationaler Spenden wiederaufgebaut, aber der Wiederaufbau dauert noch | |
| an. Auch wenn die Gebäude selbst nicht beschädigt waren, so waren doch oft | |
| die Fenster kaputt und mussten mit Plastik abgedeckt werden. | |
| In den 1990er Jahren spielte Religion in der Politik plötzlich eine Rolle. | |
| Zoran Doršner: Das ist ein heikles Thema. Religion gibt es, seit der | |
| Islamist Alija Izetbegović, der erste Präsident der unabhängigen Republik | |
| Bosnien-Herzegowinas, in den 90er Jahren angefangen hat, Propaganda zu | |
| machen. In [2][Jugoslawien] waren wir alle Atheisten. Eine interessante | |
| Metamorphose vollzog sich allerdings schon, als Tito starb und die | |
| ehemaligen Parteifunktionäre in der ersten Reihe in den Moscheen saßen. | |
| Dragica Doršner: In Jugoslawien wurde über Religion nicht viel gesprochen, | |
| das war die Position der Kommunisten, nicht der Kommunistischen Partei, und | |
| es war nicht verboten, Religion zu praktizieren. Trotzdem war es eher | |
| selten, dass Menschen in die Kirche oder in die Moschee gingen. [3][Mit den | |
| ersten demokratischen Wahlen im Jahr 1990 traten neue Parteien mit | |
| nationalem Charakter auf.] Ab diesem Zeitpunkt gingen die Menschen dann | |
| vermehrt in die Moscheen. | |
| Gibt es einen europäischen Einfluss im heutigen Sarajevo? | |
| Dragica Doršner: An der Geschichte der Architektur sieht man, dass es | |
| diesen Einfluss immer wieder gab, dass das aber dynamisch war. Es gab die | |
| lebendige Architektur der ersten sogenannten orientalischen Periode, dann | |
| folgte die aus der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie, gefolgt | |
| von einer kürzeren Periode des sozialistischen Realismus, schließlich die | |
| Moderne und die Postmoderne. Zum touristischen Angebot gehört die | |
| obligatorische Fahrt mit der Standseilbahn, einem Geschenk Österreichs, auf | |
| den Berg Trebević unterhalb des Gipfels auf 1.629 Meter Höhe. Von dort aus | |
| hat man einen schönen Blick auf die Stadt. | |
| Gibt es viele Touristen? | |
| Zoran Doršner: Es kommen immer viele Touristen. Die Fußgängerzone im | |
| Stadtzentrum entlang der Titova-Hauptstraße ist voll von Menschen. Die | |
| Straße ähnelt dem Stradun in Dubrovnik. | |
| Inzwischen finden viele kulturelle Veranstaltungen in Sarajevo statt. Ist | |
| diese Entwicklung sowohl für Besucher als auch für die Einwohner | |
| interessant? | |
| Zoran Doršner: Ja. Jeden Sommer zieht das berühmte Sarajevo-Filmfestival im | |
| Nationaltheater zahlreiche internationale Besucher an. Bedeutende | |
| kulturelle Aktivitäten gibt es auch während der Ausstellung der Galerie | |
| Collegium Artisticum, die regelmäßig im Mai stattfindet. Daran nehmen | |
| bildende Künstler, Bildhauer, Maler, Architekten und Stadtplaner, Designer, | |
| Fotografen und Grafiker aus ganz Bosnien und Herzegowina teil. | |
| Sarajevo hatte immer Kontakte in die arabische Welt. Welchen Einfluss hat | |
| das auf die Stadt? | |
| Dragica Doršner: Die blockfreie politische Bewegung Jugoslawiens, die | |
| entstanden war, nachdem Tito im Jahr 1948 die Kommunikation mit dem | |
| sowjetischen Herrscher Stalin gekappt hatte, pflegte politische und | |
| geschäftliche Kontakte mit zahlreichen Ländern in der ganzen Welt, | |
| angefangen beim Vatikan, Europa, den USA, über islamische und arabische | |
| Länder bis hin zu China und Japan. Der damalige jugoslawische Pass wurde in | |
| der ganzen Welt gern gesehen. Das gilt auch für unsere Pässe heute, und man | |
| merkt, dass sich Touristen aus aller Welt und auch aus islamischen Ländern | |
| in den engen Gassen des Baščaršija-Basars mit seinen Geschäften, | |
| Kebab-Läden und Cafés wohl fühlen. | |
| Nahm der arabische Einfluss in den Neunzigern zu? | |
| Dragica Doršner: Nach dem Krieg in den 1990er Jahren kamen viele humanitäre | |
| Organisationen aus arabischen Ländern, und einige von ihnen spielten die | |
| Rolle von religiösen Missionaren. Junge Menschen schlossen sich ihnen an, | |
| weil die Organisationen monatliche Zahlungen leisteten. Die Menschen | |
| stimmten zu, um zu überleben. Neben diesen vermeintlich humanitären | |
| Organisationen kam auch Kapital aus dem Osten. Zum Beispiel kamen | |
| Bauunternehmer und Immobilienmakler aus dem Ausland nach Ilidža. Die Stadt | |
| ist heute zweisprachig – bosnisch und arabisch. Für arabische Gäste wurden | |
| Siedlungen außerhalb der Stadt gebaut. | |
| Schon vor Jahrhunderten wurden Moscheen in Sarajevo gebaut. | |
| Zoran Doršner: Einer Legende zufolge erhielt die Stadt ihren Namen von | |
| Saraj und Ova, der Wiese vor der Karawanenunterkunft. Nach der Gründung der | |
| Stadt Sarajevo im Mittelalter wurden mehrere bedeutende Moscheen gebaut, | |
| später auch bedeutende katholische und orthodoxe Kirchen sowie eine kleine | |
| Anzahl jüdischer und evangelischer Gotteshäuser. Man sollte daran erinnern, | |
| dass die Juden nach ihrer grausamen Vertreibung aus dem äußerst | |
| katholischen Spanien im Mittelalter in Sarajevo willkommen geheißen wurden, | |
| sie fanden hier Zuflucht und bauten eine Synagoge und einen jüdischen | |
| Tempel. Zu dieser Zeit erhielt Sarajevo den Beinamen bosnisches Jerusalem. | |
| Haben Sie den Eindruck, dass Europa dieser Region genug Aufmerksamkeit | |
| schenkt? | |
| Dragica Doršner: Es stört mich, dass wir alle viel über den Beitritt zu | |
| Europa reden, aber wenig dafür tun. Bosnien ist ein sehr geteiltes Land. | |
| Als Gesellschaft sollten wir unsere Gesetze an die EU anpassen. Wir sollten | |
| sehen, dass die Hinwendung zur EU viele positive Aspekte hätte, und diese | |
| akzeptieren. Aber das werde ich wohl nicht mehr erleben. | |
| Wie sieht die Zukunft für junge Menschen in Bosnien und Herzegowina aus? | |
| Dragica Doršner: Die Antwort ist nicht besonders optimistisch. Nach der | |
| tragischen Aufspaltung des ehemaligen Jugoslawiens und dreieinhalb Jahren | |
| wilden Beschusses des belagerten Sarajevo, nachdem Tausende von Bürgern | |
| getötet wurden, darunter sehr viele Kinder, gibt es immer noch | |
| beunruhigende politische, nationalistische und religiöse Diskussionen. | |
| Besuchen Sie manchmal noch die Gebäude, die Sie vor 40 Jahren entworfen | |
| haben? | |
| Dragica Doršner: In den neunziger Jahren wurden die Gebäude im Krieg schwer | |
| beschädigt. Einige hat man nach dem Krieg wieder aufgebaut mit finanzieller | |
| Unterstützung anderer Länder. Die Betonsiedlung Mojmilo wurde | |
| beispielsweise mit Geldern der Stadt Barcelona renoviert. Ich komme | |
| mindestens ein Mal im Jahr durch die Gegenden, die ich gebaut habe, etwa | |
| durch die Olympischen Dörfer Mojmilo und Dobrinja. Sie führen ihr | |
| Eigenleben. In Dobrinja wurden Bänke, Mülleimer und Lampen aufgestellt, die | |
| Gemeinde hat sich bemüht, auch die grünen Gegenden zu erhalten. Gut so! | |
| 26 May 2024 | |
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