# taz.de -- Lange Nächte: Sarajewo tanzt | |
> Die Szene in der europäischen Stadt mit muslimischer Mehrheit produziert | |
> Electropop, eröffnet Design-Bars - und freut sich, dass Touristen kommen | |
Bild: Da wird die Nacht zum Tag | |
Laufkundschaft verirrt sich selten in die Café-Bar Delikatesna Radnja am | |
Rande des Flusses Miljacka, nur ein paar Steinwürfe vom Herzen des | |
Zentrums. Grüne Wände, graue Stoffsessel, Design-Lampen. Stylish, aber | |
nicht zu schick. Cool, aber nicht prätentiös. Dazu passen die Gäste, die | |
gerne mal mit Chucks an den Füßen, schwarz umrandeter Brille im Gesicht und | |
Notizbuch oder Laptop auf dem Schoß "Projekte" besprechen. Kurzum: Dieses | |
Lokal ist einer der In-Treffs der Szene. Samt Publikum würde es sich ein zu | |
eins einfügen in den Kiez-Kosmos von Hamburg-Ottensen oder | |
Düsseldorf-Flingern. Nur: Noch weiß selbst in Kreativ-Vierteln wie Ottensen | |
oder Flingern kaum einer, dass es derartige Bars gibt in Sarajevo. | |
Das wird sich ändern. Rund zwölf Jahre nach Ende des Krieges drängt die | |
neben Tirana einzige europäische Hauptstadt mit moslemischer | |
Bevölkerungsmehrheit unaufhaltsam zurück auf die touristische Landkarte. | |
Nicht umsonst ging das britische Kenner-Magazin Time Out im Sommer 2007 mit | |
einem 96-Seiten-Sonderheft "Sarajevo" an den Start. "Diese Stadt hat die | |
Energie, die Kreativszene und den Geist einer viel größeren Metropole", | |
glaubt Chefredakteur David Plant. Entscheidenden Anteil daran hat das noch | |
zu Kriegszeiten gegründete Sarajevo Film Festival, das 2008 vom 5. bis 23. | |
August stattfindet. Sein Ruhm stieg nach den Erfolgen der bosnischen | |
Regisseure Danis Tanovic (Oscar 2002) und Jasmila Zbanic (Goldener Bär der | |
Berlinale 2006). Bei der 13. Festival-Auflage liefen so viele | |
internationale Promis wie nie zuvor über den roten Teppich: Neben | |
Jurypräsident Jeremy Irons unter anderen Michael Moore, Fatih Akin, Steve | |
Buscemi und Juliette Binoche. Längst sind die Einwohner Sarajevos zum | |
eigentlichen Star des Festivals avanciert. Gemeinsam mit Gästen aus aller | |
Welt machen sie für eine Woche die Nacht zum Tag. In Bars, Clubs, auf der | |
Straße. Überall. | |
Eine der beliebtesten Anlaufstellen liegt in einer unscheinbaren Querstraße | |
des Marsala-Tita-Boulevards. "Vorher war hier ein Büro. Wir haben | |
anderthalb Jahre geplant, alles ohne Architekt selbst gestaltet und | |
aufgebaut", erzählt Aldin Krso stolz - und meint seine im vergangenen | |
Frühjahr eröffnete Nivea-Bar. Wie viele junge Leute in Sarajevo spricht er | |
fließend Deutsch. Während des Krieges lebte er in Wiesbaden, 1997 zog es | |
ihn zurück in seine Geburtsstadt. Damals war er 17 Jahre alt, heute ist er | |
27 - und arbeitet sieben Tage die Woche, um den Traum der eigenen Bar zu | |
leben. "Es hat sich in den letzten Jahren viel getan hier. Schau dir die | |
Altstadt an, die sieht wieder genauso aus wie vor dem Krieg. Das Leben ist | |
zurückgekommen." | |
Bevor Leben zurückkommt, müssen Narben heilen. Auf den quirligen | |
Hauptmeilen im Zentrum sind sie verschwunden. Etwas abseits der | |
ausgetretenen Pfade noch nicht ganz. Ein Blick auf die Stockwerke über der | |
Nivea-Bar: Mit Mörtel verputzte Einschusslöcher überziehen die Fassade des | |
grauen Mietshauses wie Farbkleckse - und stellen Fragen: Was war in diesem | |
Haus, in dieser Straße los während der dreieinhalbjährigen Belagerung? Wie | |
haben die Bewohner gelebt? Wie überlebt? Ein bizarrer Kontrast zur | |
Lounge-Idylle im Erdgeschoss. Der Blick auf die Berge, die Sarajevo | |
umarmen, bekommt etwas Beklemmendes. Gleichzeitig reift das Verständnis | |
dafür, dass die meisten Sarajlier lieber über die Zukunft oder die | |
Jugoslawien-Zeit sprechen als über die jüngere Vergangenheit. | |
Im Geschäftsviertel Marijin Dvor, nur einige Fußminuten von der Nivea-Bar | |
entfernt, spiegelt sie sich auf den Glasfassaden der beiden Unitic-Türme | |
und des benachbarten Regierungsgebäudes. Im Krieg waren die bis aufs | |
Gerippe abgemagerten Hochhäuser ein Symbol der Zerstörung. Heute blicken | |
sie schick renoviert auf Sarajevos wachsende Skyline. Mit angepeilten 172 | |
Metern schraubt sich der Rohbau des zukünftig höchsten Gebäudes auf dem | |
Balkan in den Himmel: der Avaz Twist Tower (Fertigstellung im Sommer). Rund | |
um das Holiday Inn errichtet ein österreichischer Bauherr das "Grand Media | |
Center", inklusive Einkaufszentrum, Büros, Großkino, Casino - gekrönt von | |
einem hundert Meter hohen Turm. Große Teile der Außenfassaden des bislang | |
größten Immobilien-Investments in Südosteuropa (Eröffnung 2009) sollen aus | |
riesigen Videoleinwänden bestehen. | |
Kommt mit dem Bauboom auch der Touristenboom? Klar ist: Seit einige Jahren | |
kehren die Besucher in steigender Zahl zurück in die ehemalige | |
Olympiastadt. Schließlich hat Sarajevo, das "europäische Jerusalem", etwas, | |
das keine andere europäische Stadt bietet: Im Zentrum Gründerzeitbauten der | |
K.u.k.-Monarchie, als Kontrast dazu das Orientflair der osmanischen | |
Altstadt (Bas arsija) mit ihren engen Gassen und Basaren sowie Moscheen, | |
Synagogen, katholischen und orthodoxen Kirchen in nächster Nachbarschaft. | |
Eigentlich sollten 2007 Jahr die ersten Billigflieger in Sarajevo landen - | |
aufgrund von Problemen mit Start- und Landerechten bleiben sie vorerst am | |
Boden. "Ich brauche die Billigflieger, damit ich selber günstig reisen | |
kann", sagt Armin Karovic (31). Gemeinsam mit Freunden verbringt er den | |
Nachmittag auf der Terrasse des Clubs so.ba, gleich neben der Fakultät für | |
Architektur. Günstige Flüge - das bedeutet für den so.ba-Mitinhaber, dass | |
er öfter im Ausland auflegen kann. Unter dem Künstlernamen Djarmah hat er | |
in Kopenhagen, Belgrad und Rom gespielt, auch in namhaften Berliner Clubs | |
wie Cookies und Watergate. Sein Lokal ist wichtigster Treffpunkt für | |
Sarajevos elektronische Szene - und durch Gast-DJ-Auftritte Schnittstelle | |
nach draußen. Darüber hinaus dient es als Kunstgalerie. "Wir geben jungen | |
Kreativen ein Forum, die nach vorn wollen", sagt Karovic. | |
Nach vorne gehen, trotz hoher Arbeitslosigkeit etwas auf die Beine stellen. | |
Das wollen viele in Sarajevo. Nedim Zlatar (30) hat es geschafft. Mit | |
seinem Ein-Mann-Projekt Basheskia veröffentlichte er eines der besten | |
bosnischen Alben ("23/23") des neuen Jahrtausends. Songs zwischen | |
Electropop und Indietronic, mit bosnischen, englischen und deutschen Texten | |
("Alles klar"), die ihn auch in Westeuropa zum Star machen könnten. | |
"Basheskia ist ein altes bosnisches Wort für Kriegsveteran", erklärt er. | |
"Leider sind die meisten Bosnier in gewisser Weise Kriegsveteranen." Sein | |
Traum für die Zukunft: "Dass Sarajevo eine normale Stadt zum Leben wird, | |
ohne seine Seele zu verlieren." | |
28 Feb 2008 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Brueck | |
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