| # taz.de -- Nach Sozialprotesten im Libanon: Nur ein Meilenstein | |
| > Nach dem Rücktritt der Regierung stellt sich die Frage, wie es mit dem | |
| > Land weitergeht. Auch die schiitische Hisbollah fürchtet um ihren | |
| > Einfluss. | |
| Bild: Kurz vor Premier Hariris Rücktritt: Hisbollah-Anhänger haben Zelte der … | |
| KAIRO taz | Der [1][Rücktritt des libanesischen Premiers Saad Hariri] hat | |
| den einzigen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise geöffnet – aber niemand | |
| weiß, was sich dahinter verbirgt. [2][Fast zwei Wochen lang haben | |
| hunderttausende Libanesen im ganzen Land demonstriert] und den Rücktritt | |
| der Regierung gefordert. | |
| Nach der Rücktritts-Ankündigung feierten die Demonstranten im Zentrum | |
| Beiruts. Hariri selbst bezeichnete seinen Schritt als eine | |
| „Schockbehandlung, um aus dieser Krise herauszukommen“. Was aber geschieht, | |
| wenn der libanesische Patient nach dem Schock wieder zu sich kommt, ist | |
| schwer zu prognostizieren. | |
| Die Demonstranten fordern nicht nur den Rückzug der gesamten politischen | |
| Klasse des Landes, die sie der Korruption und der Misswirtschaft anklagen. | |
| Sie verlangen ein Ende des kompletten politischen Systems, in dem die | |
| Religionszugehörigkeit im Mittelpunkt der Politik steht und wenige Clans | |
| auf religiöser Basis den Staat repräsentieren und in ihre eigene Tasche | |
| wirtschaften. | |
| Der Rücktritt Hariris ist für sie nur ein Meilenstein, sie bleiben vorerst | |
| weiter auf der Straße. Ihr größtes Problem: Sie sind nicht organisiert und | |
| können daher auch nicht geschlossen über einen Ausweg aus der Krise | |
| verhandeln. | |
| ## Auf die lange Bank geschoben | |
| Zumindest einen Spalt weit ist die Tür aufgegangen. Laut einer Erklärung | |
| des Präsidenten Michel Aoun am Mittwoch, hat dieser den Rücktritt Hariris | |
| angenommen. Allerdings hat er das Kabinett aufgefordert, vorerst | |
| kommissarisch als Übergangsregierung weiterzumachen, bis eine neue | |
| Regierung gefunden wird. Ein Zeitrahmen dafür wurde nicht festgesetzt. | |
| De facto ist die Erneuerung des politischen Systems erst einmal auf die | |
| lange Bank geschoben. Der Status quo wurde vielmehr verlängert. Das Militär | |
| hat nun begonnen, die Straßenblockaden der Demonstranten aufzulösen, um im | |
| Alltag zumindest ein wenig das Gefühl von Normalität zurückzubringen. Diese | |
| vorläufige Lösung stellt allerdings für den Libanon bestenfalls eine | |
| Atempause dar. Es ist unwahrscheinlich, dass diese kommissarische Regierung | |
| die notwendigen grundsätzlichen Reformen einleitet und die Proteste damit | |
| zum Schweigen bringen kann. | |
| Keiner weiß also genau, wie lang die Bank ist, auf die die Zukunft des | |
| Libanon geschoben wird. Möglich ist auch, dass dann in einem zweiten | |
| Schritt ein anderes Szenario in Kraft treten wird. Bereits jetzt wird im | |
| Libanon als Weg aus der Krise die Schaffung einer Regierung aus | |
| Technokraten diskutiert. Die politischen Strömungen des Landes wären hier | |
| nur durch drei zusätzliche Minister vertreten, die keine Geschäftsbereiche | |
| bekommen. | |
| Diese Regierung hätte vornehmlich drei Aufgaben: die überfälligen | |
| wirtschaftlichen Reformen einzuleiten, einen Untersuchungsausschuss zur | |
| Bekämpfung der Korruption ins Leben zu rufen und Neuwahlen vorzubereiten. | |
| ## Angst vor Polarisierung des Landes | |
| Diese Möglichkeiten sind vor allem dazu gedacht, ein anderes, verheerendes | |
| Szenario zu verhindern. Denn würde sich all das als Sackgasse erweisen und | |
| würden die Proteste weitergehen, könnten die schiitsche Amal-Bewegung, die | |
| Hisbollah und die Unterstützer des Präsidenten Michel Aoun versuchen, im | |
| Alleingang eine Regierung zu stellen und gegen die Demonstranten | |
| vorzugehen. | |
| Das wäre das Ende der libanesischen Einheitsregierung und würde unmittelbar | |
| zu einer enormen Polarisierung des Landes führen, das schon einmal einen | |
| blutigen Bürgerkrieg erlebt hat. | |
| Entscheidend wird am Ende sein, für welche Szenarien sich die militärisch | |
| und politisch stärkste Kraft des Landes, die Hisbollah, entscheidet. Deren | |
| Chef Hassan Nasrallah hatte bisher einen Rücktritt der Regierung vehement | |
| abgelehnt, hat aber, wie der Rücktritt Hariris beweist, nun doch klein | |
| beigegeben. | |
| Die Hisbollah scheint sich mit der Atempause der Übergangsregierung | |
| zufriedenzugeben, in der sie und ihre Verbündeten weiter sitzen. Und sie | |
| könnte möglicherweise auch eine Technokraten-Regierung akzeptieren. Dabei | |
| hat die Hisbollah eine zentrale Bedingung für jede neue Regierung in | |
| Beirut: Die Entwaffnung der Schiiten-Organisation auf das politische | |
| Tablett zu bringen, ist eine rote Linie. | |
| ## Das Dilemma der Hisbollah | |
| Obwohl die Hisbollah sicherlich die stärkste Kraft im Land ist und jede | |
| Protestbewegung über Nacht beenden könnte, indem sie ihr Fußvolk auf die | |
| Straße schickt, steckt sie in einem Dilemma. Denn wirklich gefährlich sind | |
| für sie vor allem der Dissens und die Proteste der letzten zwei Wochen in | |
| den Hisbollah-Hochburgen im Süden des Landes und in der Bekaa-Ebene. | |
| Die Hisbollah sieht sich als Heimat der schiitischen Mittellosen, genau | |
| jenen also, die jetzt verärgert gegen das gesamte politische System im | |
| Libanon auf die Straße gehen. Wenn der Führungsanspruch der Hisbollah | |
| innerhalb der schiitischen Gemeinschaft angezweifelt wird, würde es für die | |
| Organisation und ihre iranischen Unterstützer ums Eingemachte gehen. | |
| Die Hisbollah hat genau aus diesem Grund kein Interesse, dass sich die | |
| Protestbewegung zeitlich in die Länge zieht. Wenn sie sich in Gefahr sieht, | |
| wird sie versuchen, die Demonstranten als ausländische Verschwörung | |
| darzustellen und mit Gewalt gegen sie vorgehen. Das wäre für den Libanon | |
| das schwärzeste aller Szenarien. | |
| 31 Oct 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Karim El-Gawhary | |
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