| # taz.de -- Neue Regierung im Libanon: Dem Untergang geweiht | |
| > Das neue Kabinett ist nicht so frisch und unparteiisch, wie es vorgibt. | |
| > Es ist mit der alten Elite verbandelt und zum Scheitern verurteilt. | |
| Bild: Protest gegen den euen Premierminister Hassan Diab in Beirut | |
| Auf den ersten Blick scheint [1][die neue Regierung im Libanon] wie eine | |
| frische Truppe politisch unabhängiger Fachleute mit Doktortiteln. Doch auf | |
| den zweiten Blick ist es ein politisch einseitiges Kabinett mit engen | |
| Verbindungen zur alten Garde. | |
| Der Libanon befindet sich in der größten Wirtschaftskrise seit dem Ende des | |
| Bürgerkriegs vor 30 Jahren. Seit über hundert Tagen protestieren die | |
| Libanes*innen gegen Korruption und Misswirtschaft. In der Folge [2][trat | |
| der Milliardär Saad Hariri im Oktober als Ministerpräsident zurück]. Sein | |
| Nachfolger Hassan Diab hat nun sein neues Kabinett vorgestellt. Es musste | |
| von 30 Posten auf 20 schrumpfen, sogar der Forderung nach mehr | |
| Ministerinnen ist Diab nachgekommen und hat 6 Frauen benannt, darunter | |
| seine Stellvertreterin und Verteidigungsministerin Zeina Akar Adra. Dennoch | |
| gehen die Proteste weiter. | |
| Das ist verständlich, denn was Diab als technokratische Regierung | |
| angepriesen hat, ist in Wirklichkeit ein Aufgebot unbekannter Namen aus der | |
| zweiten Reihe. Die Mehrheit sind Professor*innen, dennoch sind viele des | |
| neuen Personals mit der alten Elite verbandelt. Der neue Finanzminister | |
| Ghazi Wazni ist ein ehemaliger Berater des Finanz- und Haushaltsausschusses | |
| des Parlaments. Energieminister Raymond Ghajar war seit 1995 Berater des | |
| Ministeriums. Der Professor Nassif Hitti war bereits Vertreter des Libanon | |
| in der Liga der arabischen Staaten. | |
| Am brisantesten ist, dass der neue Wirtschaftsminister Raoul Nehme | |
| gleichzeitig Geschäftsführer der Bank Med ist, an der wiederum die Familie | |
| Hariri die größten Anteile hält. Eine unglückliche Wahl, denn die Proteste | |
| richten sich gegen die von den Hariris geprägte neoliberale Politik. Die | |
| Banken werden von den Protestierenden für die ökonomische Misere | |
| verantwortlich gemacht, weil sie Großanleger*innen mit hohen Zinsen gelockt | |
| haben. | |
| ## Gummigeschosse und Tränengas | |
| Die Haltung des neuen Aufgebots wurde gleich am ersten Tag bei der | |
| Namensverkündung deutlich, denn man ließ die Straße zum Parlament und das | |
| Regierungsgebäude mit Zementblöcken abriegeln. Dass die Obrigkeit sich | |
| hinter Blockaden verschanzt, ist das falsche Signal, um das Vertrauen der | |
| wütenden Bürger*innen zurückzugewinnen. Gleichzeitig steigt die | |
| Bereitschaft der Polizei, mit aller Härte gegen die Protestierenden | |
| vorzugehen. Tränengas vernebelte am Wochenende die Innenstadt und drang bis | |
| in eine Moschee, in der Menschen Schutz gesucht hatten. Vier Männer | |
| verloren ihr Augenlicht, weil die Polizei mit Gummigeschossen direkt auf | |
| sie gezielt hatte. | |
| Am Samstag schnitten Protestierende feierlich eine Torte zur Feier des | |
| hundertsten Tags der Proteste an, die Menschen demonstrierten friedlich | |
| gegen die neue Regierung. Trotzdem setzte die Polizei Tränengas und | |
| Wasserwerfer ein. Mit Letzteren traf sie auch Kinder, die mit ihren Eltern | |
| auf den zentralen Platz vor dem Regierungsgebäude gekommen waren. | |
| ## Verlängerter Arm alter Machthaber | |
| Das neue Kabinett bleibt der verlängerte Arm der alten Machthaber, die | |
| während des Bürgerkriegs Milizführer waren und weiter die Geschicke des | |
| Landes leiten. Damit sind die auf den Straßen geforderten Neuwahlen | |
| unwahrscheinlich. Für einen Wandel braucht es sowieso ein reformiertes | |
| Wahlrecht, denn das bisherige komplexe Wahlgesetz sichert den Proporz der | |
| konfessionellen Parteien und verfestigt das alte System. | |
| Die aufgeheizte Stimmung wird sich noch verschlimmern. Das Land steht kurz | |
| vor einem Staatsbankrott, die gängigen Stromausfälle mehren sich und der | |
| größte Internetanbieter droht, seinen Dienst einzustellen. Die libanesische | |
| Währung verliert auf dem Schwarzmarkt an Wert und es ist nur noch eine | |
| Frage der Zeit, bis die bisher feste Kopplung an den US-Dollar aufgehoben | |
| werden muss. Dann verliert das Ersparte der Menschen real an Wert. | |
| Die Regierung ist nicht nur zum Scheitern verurteilt, weil sie den Rückhalt | |
| der Menschen nicht hat. Sie ist auch aus einem Deal entstanden, den die | |
| schiitische Hisbollah mit ihren politischen prosyrischen Verbündeten | |
| besiegelt hat. Ihre politischen Opponenten haben keine Minister*innen | |
| gestellt. Weil viele Staaten die Hisbollah als Miliz oder | |
| Terrororganisation einstufen, werden Hilfsgelder aus den Golfstaaten, den | |
| USA oder Europa ausbleiben. | |
| Die Staatsschulden entsprechen 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, ihre | |
| Rückzahlung mit einem Zinssatz von knapp 15 Prozent ist unmöglich. Das ist | |
| nicht das einzige Problem, das die Regierung stemmen muss. Es benötigt | |
| Fiskalreformen und die Bekämpfung der Korruption, die alle Staatsorgane | |
| durchzieht. Die Arbeitslosenrate liegt bei 35 Prozent, die gut ausgebildete | |
| Jugend verlässt das Land, und weil kaum etwas im Land produziert wird, ist | |
| man auf teure Importe von Medizin, Benzin und Nahrungsmitteln angewiesen. | |
| Der ehemalige Außenminister [3][Gebran Bassil sagte deshalb auf dem | |
| Weltwirtschaftsforum,] es müsse mehr für den Agrarsektor getan werden. | |
| Seine Partei stellt die Mehrheit im Parlament und hat die meisten Posten | |
| des neuen Kabinetts besetzt. Wie ernst seine Aussage genommen werden darf, | |
| zeigt die Zuständigkeit des Ministeriums: Es ist nicht nur für Agrarkultur | |
| verantwortlich, sondern auch für den Kultursektor. | |
| Der neue Bildungsminister kündigte mit einem freudschen Versprecher „Worte | |
| statt Taten“ an. Viele Worte verliert auch Regierungschef Diab. Der | |
| ehemalige Bildungsminister (2011–2014) und Professor wartet mit einem | |
| 136-seitigen Lebenslauf auf, gespickt mit Kalenderweisheiten wie diesen: | |
| „Ich habe gelernt, dass pure Freude im Leben vom Geben, nicht vom Nehmen | |
| kommt, berücksichtigt man, dass die besten Dinge im Leben umsonst sind: | |
| Familie, Freunde, Umarmungen, Lächeln, Küsse, Schlaf, Liebe, Lachen und | |
| gute Erinnerungen.“ Ein Rat, den die Menschen im Land sicher gut gebrauchen | |
| können. Aufgrund des Mangels an US-Noten im Land dürfen sie maximal 200 | |
| Dollar pro Woche abheben. | |
| 28 Jan 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Neumann | |
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