# taz.de -- Musikdokumentation über Friedenslieder: Weniger Hippie wäre gut | |
> In „Summer of Peace“ erzählt Arte die Geschichte der einflussreichsten | |
> Protestsongs. Und fragt: Warum bewirkt Pop heute so wenig? | |
Bild: Immer schön kühl und distanziert bleiben, gern auch ein bisschen ruppig… | |
Sven Regener ist als Romanautor und Musiker längst etabliert, und dennoch | |
ist der 54-jährige Sänger von Element of Crime noch in der Lage, eine | |
punkrock-artige Rotzigkeit an den Tag zu legen. Er kann dann so klingen, | |
als sei er Anfang 20 und wolle den saturierten Betrieb mal ein bisschen | |
aufmischen. Das beweist er in Passagen des Dokumentarfilms „Give Peace a | |
Chance“, mit dem Arte an diesem Wochenende seinen Schwerpunkt „Summer of | |
Peace“ startet. John Lennons Klassiker, der dem Film als Titel dient, sei | |
„substanzlos“ und „eskapistisch“. Und ist Bob Dylan eigentlich ein | |
politischer Künstler? „Es liegt für mich im engeren Sinne nichts | |
Politisches vor“, sagt Regener über dessen Texte. | |
Das ist erfrischend, denn in den Musikdokumentationen, die Arte sonst im | |
Rahmen sommerlicher Rückschauen auf die Popkultur-Historie zeigt, ist eher | |
selten Raum für Kontroverses. „Summer of Peace“ ist bereits der neunte | |
Schwerpunkt dieser Art. An zwölf Wochenenden wird die Geschichte der | |
einflussreichsten Friedenslieder und Protestsongs erzählt. Und | |
rekapituliert, wie sich das gesellschaftliche Engagement von Künstlern seit | |
den 1960er Jahren verändert hat. | |
Neben Eigenproduktionen stehen auch Kinofilme auf dem Programm, die im | |
Fernsehen bisher nicht zu sehen waren, etwa Kevin MacDonalds | |
Bob-Marley-Porträt „Marley“ von 2012 und „No Direction Home“, Martin | |
Scorseses mittlerweile zehn Jahre alter Film über den von Regener gedissten | |
Bob Dylan. | |
Ein Anlass für den Schwerpunkt ist laut Wolfgang Bergmann, Redaktionsleiter | |
für Theater und Musik bei Arte, dass sich 2015 zum 40. Mal das Ende des | |
Vietnamkrieges jährt. Christian Bettges, Autor des Zweiteilers „Peace’n’ | |
Pop“, sagt, der Protest gegen den Vietnamkrieg sei eine „unvergessliche | |
Blaupause für gesellschaftliche Utopien“ – und daran wolle er mit seinem | |
Film erinnern. Eine der Ausgangsfragen, die sich die Macher stellten, | |
formuliert Wolfgang Bergmann zugespitzt naiv: „Warum steht heute die | |
Künstlerszene nicht weltweit auf und sagt ‚Make love not war?‘“ Birgit | |
Herdlitschke, die Autorin von „Give Peace a Chance“, ergänzt, ihre | |
„Forschungsfrage“ sei gewesen, warum Pop heute vergleichsweise wenig | |
bewirke. | |
## Zur Not mit Gewalt | |
Ein Teil der Antwort, die sie selbst gibt, lautet, dass „Popkultur eine | |
kleinere Rolle spielt als in den 60er oder auch den 80er Jahren“ – nur noch | |
wenige Menschen definierten sich über einen Stil und ließen sich durch | |
Musik kaum mobilisieren. Bettges macht dennoch eine „Repolitisierung“ der | |
Popmusik aus – nur dass die sich eben nicht in Musik oder Protest für den | |
Frieden äußere, sondern in Engagement oder Solidaritätsbekundungen für | |
Flüchtlinge. In seiner Dokumentation – deren zweiter Teil manchmal etwas | |
überladen wirkt, weil hier zu viele Gesprächspartner zu kurz zu Wort kommen | |
– spricht er auch mit dem Berliner Hiphop-Duo Zugezogen Maskulin. Die | |
Gruppe hat sich von dem Flüchtlingscamp auf dem Oranienplatz in | |
Berlin-Kreuzberg zu einem Stück inspirieren lassen. | |
Ihre Kritik an der Flüchtlingspolitik bringen die Rapper zum Ausdruck, | |
indem sie die Haltung jener, die sich heute gern „besorgte Bürger“ nennen | |
lassen, leicht überzeichnen: „Man sollte weltweit alle Hände amputieren / | |
Wir haben viel zu viel, um euch was abzugeben.“ Was Zugezogen Maskulin | |
generell von der Generation davor unterscheidet, verdeutlicht Grim104, | |
einer der beiden Musiker der Gruppe: „Wenn etwas wirklich Erhaltenswertes | |
bedroht ist, muss man es auch mit Gewalt verteidigen.“ Anders als sein | |
Vater, dessen Pazifismus er durchaus honorig finde. | |
Eine Schlüsselpassage in Herdlitschkes „Give Peace a Chance“ sind | |
Ausschnitte eines Schwarz-Weiß-Videos mit der Band Atari Teenage Riot, | |
deren Mitgründer Alec Empire ausführlich zu Wort kommt. Zu sehen sind | |
Bilder von der Mai-Demo in Berlin 1999, die sich in jenem Jahr gegen die | |
deutsche Beteiligung an der Nato-Bombardierung des Kosovo richtete – der | |
erste Kampfeinsatz für die Bundeswehr in der Geschichte der Bundesrepublik. | |
Atari Teenage Riot traten damals bei der Demo auf. Während die Band spielt, | |
prügeln und treten Polizisten auf Demonstranten ein. Die Beamten brechen | |
das Konzert schließlich ab, und man sieht noch, wie Empire gegen einen | |
Mannschaftswagen gedrückt und abgeführt wird. | |
## Gegen die Friedensbewegung | |
Diese Ausschnitte stehen für eine Zäsur des Protests: Der ruppige digitale | |
Hardcore von Atari Teenage Riot hatte nichts mehr gemein mit der | |
Antikriegsmusik, die auf den großen Kundgebungen der bundesdeutschen | |
Friedensbewegung zu hören war. Außerdem richteten sich Atari Teenage Riot | |
auch gegen Teile der alten Friedensbewegung – und zwar konkret gegen die | |
Kosovo-Einsatz-Befürworter von den Grünen. Geschmälert wird die teilweise | |
gelungene Bildauswahl in „Give Peace a Chance“ durch textliche | |
Nachlässigkeiten. Die Jazzsängerin Billie Holiday als „die Großmutter des | |
Hiphop“ zu bezeichnen, ist albern. Etwas ärgerlicher ist noch eine Passage | |
über Ton Steine Scherben, in der Herdlitschke sagt, die Band habe sich mit | |
„lokalen Sorgen und Nöten beschäftigt“ – was klingt, als hätten Rio Re… | |
und seine Kollegen die Leserbriefseiten von Regionalzeitungen vertont. | |
Herdlitschke konzentriert sich auf Musik, Bettges auf verschiedene | |
popkulturelle Ausdrucksformen. Er untersucht, wie sich Filme wie | |
„Apocalypse now“ oder „The Messenger – Die letzte Nachricht“ auf die | |
Rezeption von Kriegen und die Entstehung von Antikriegshaltungen ausgewirkt | |
haben. Und weist darauf hin, dass „gerade freie Improvisation im Jazz ein | |
Modell gewaltfreier Verständigung lehrt“. Das Thema Frieden sei für | |
Künstler heute weniger relevant, weil sich andere Themen aufdrängten. Vor | |
allem der Siegeszug des Neoliberalismus und die damit zusammenhängende | |
„Wiederkehr der sozialen Frage“ (Bettges). | |
Der Schriftsteller Hanif Kureishi sagt im Film, wir lebten „in einer viel | |
engeren Klassengesellschaft“ als in den 60er Jahren, als Popmusik ihren | |
Durchbruch hatte. Das würden die Sleaford Mods, die wichtigste Protestband | |
unserer Tage, vielleicht nicht wesentlich anders formulieren. | |
17 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
René Martens | |
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