# taz.de -- Meron Mendel über Antisemitismus: „Gefahr einer Gewaltspirale“ | |
> Der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank spricht über die Zusammenhänge | |
> von Antisemitismus, Rassismus und Abstiegsängsten. | |
Bild: „Fass meinen Kumpel nicht an“, heißt es bei einem Protest gegen Anti… | |
taz: Herr Mendel, Antisemitismus ist heute in Deutschland offiziell | |
verpönt, international wird Deutschland gelobt für seine „Aufarbeitung“ d… | |
NS-Zeit. Wie schätzen Sie die gesellschaftliche Realität ein? | |
Meron Mendel: In der Tat trat Antisemitismus in Deutschland seit 1945 kaum | |
noch offen zutage, weil das juristisch verboten und gesellschaftlich tabu | |
ist. Zugleich belegen verschiedene Studien seit den 1950er Jahren, dass | |
nach wie vor jeder Fünfte hierzulande latent antisemitisch denkt. Das kommt | |
dann nicht in offiziellen Gesprächen oder in der Presse zum Ausdruck, | |
sondern am Stammtisch oder in Salongesprächen. | |
Die Leitthese Ihres Buches ist, dass der Konsens gegen Antisemitismus | |
zunehmend fragiler wird. Wie kommt das? | |
Da sind drei Strömungen zu beobachten: In den letzten Jahren gibt es | |
Tendenzen, beim Reden über Israel bestimmte antisemitischen Stereotype | |
salonfähig zu machen. Es geht dabei nicht um die Kritik an der Politik | |
Israels, sondern um die Relativierung des Holocaust in Bezug auf die | |
heutige Politik Israels durch Vergleiche zur NS-Zeit. Oft werden alle Juden | |
verantwortlich gemacht für die Politik Israels oder das Existenzrecht | |
Israels wird sogar infrage gestellt. Parallel nimmt auch der sogenannte | |
islamistische Antisemitismus zu. Das heißt nicht, dass Muslime in | |
Deutschland antisemitischer sind als Nichtmuslime, aber ihre | |
Ausdrucksformen dafür sind andere. Und als Drittes gibt es die neue Form | |
von Rechtspopulismus. Der Diskurs der AfD ist stark antimuslimisch geprägt, | |
aber große Teile der Partei äußern sich auch antisemitisch und relativieren | |
den Holocaust – etwa über Aufforderungen, einen Schlussstrich zu setzen, | |
oder nationalchauvinistische Diskurse. | |
Ist Antisemitismus eine Spielart des Rassismus? | |
Antisemitismus hat eine ganz andere Geschichte als Rassismus, und nur eine | |
relativ kurze Zeit des Antisemitismus ist durch Rassismus geprägt. Es gibt | |
einen grundlegenden Unterschied. In der Regel betrachtet der Rassist andere | |
als minderwertig: Sie sind dümmer, schmutziger und ungebildeter als seine | |
eigene Gruppe. Beim Antisemitismus funktioniert das anders: Im Zentrum | |
steht die Angst vor den Juden, die angeblich hinter den Kulissen alles | |
beherrschen, weil sie schlauer, aber auch gefährlicher sind. Ihnen werden | |
unsichtbare und unkontrollierbare Strukturen und eine Weltverschwörung | |
unterstellt. Beim kolonial geprägten Rassismus geht es darum, die anderen | |
zu beherrschen. Die logische Konsequenz von Antisemitismus ist Auschwitz: | |
Wenn es die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung gibt, gibt es | |
keine andere Möglichkeit, als die Juden komplett aus der Welt zu tilgen. | |
Nach dem Anschlag auf einen jüdischen Supermarkt in Paris weigerten sich | |
viele muslimische Schüler sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, an | |
einer Gedenkminute teilzunehmen. Wie kann man mit solch einer Situation | |
pädagogisch gut umgehen? | |
Es ist wichtig, genau zu schauen, wie muslimische Jugendliche solches | |
Verhalten rechtfertigen: Sie fühlen sich an den Pranger gestellt, wenn es | |
um islamistischen Terror geht, obwohl sie nichts damit zu tun haben. | |
Deshalb müssen Lehrkräfte erst mal ganz bewusst einem Generalverdacht und | |
pauschalisierenden Aussagen über Muslime und den Islam entgegenwirken. Auf | |
der anderen Seite dürfen Sie nicht mit der guten Absicht der Rücksichtnahme | |
und Toleranz Abstriche bei der Vermittlung von Grundwerten der Gesellschaft | |
machen. Wenn muslimische Schüler sich anders verhalten, meinen viele | |
Lehrer: Okay, sie sind halt anders und es gelten für sie andere Kriterien. | |
Eine rassismuskritische Haltung heißt aber nicht, jedes Verhalten der von | |
Rassismus Betroffenen zu akzeptieren. In solch einem Fall ist es wichtig, | |
die Opferkonkurrenz zu thematisieren und zu negieren. Minderheitsgruppen | |
nehmen oft wahr, wenn die Diskriminierung einer anderen Minderheitengruppe | |
anerkannt wird, und erleben das dann so, dass die eigene Diskriminierung | |
weniger anerkannt wird – so als ob es ein Nullsummenspiel wäre und | |
Anerkennung nur für eine Gruppe möglich wäre. | |
Wie also sieht ein kluger pädagogischer Umgang mit solch einer Situation | |
aus? | |
Wenn ich also der Opfer des Paris-Attentats gedenke, heißt das nicht, dass | |
die Diskriminierung als Muslime in Deutschland dadurch weniger anerkannt | |
ist. Diese falsche Schlussfolgerung muss man brechen – und das passiert in | |
unseren Gesprächen mit den Jugendlichen. Wenn man sie fragt, warum sie an | |
dem Ritual nicht teilnehmen wollen, dann antworten sie vielleicht, dass der | |
Opfer in Beirut auch nicht gedacht wird. Dann kann man sie auffordern, | |
selbst eine Gedenkveranstaltung für die Opfer von Beirut zu organisieren. | |
Das heißt aber nicht, dass sie aus der gemeinsamen gesellschaftlichen | |
Pflicht befreit sind, an dem gesellschaftlichen Ritual teilzunehmen, der | |
Opfer von Paris zu gedenken. | |
In Bezug auf die AfD hört man häufig, dass man die Ängste der Leute ernst | |
nehmen muss und sie eigentlich gar nicht rassistisch sind; gerade beginnt | |
eine Debatte über Heimat. | |
Die Heimat-Debatte ist die Fortsetzung einer langen Reihe von | |
Ausgrenzungsdiskursen, bei denen es immer darum geht, eine Grenze zu | |
ziehen: Hier sind wir – dort sind die anderen. Die anderen waren früher die | |
Ausländer, jetzt sind es Muslime und wieder mal die Juden. Das wird dann | |
vermischt mit den realen Ängsten der Menschen. Denn es gibt reale Ängste, | |
die ernst genommen werden müssen. Aber gerade das passiert nicht durch | |
solche Scheindebatten. In den USA können wir sehen, wozu es führt, wenn | |
eine linke Diskussion nur noch über Political Correctness läuft und die | |
Lebensumstände der Menschen, die keine Perspektive haben, übergangen | |
werden. Es ist sehr wichtig, über die Spaltung der Gesellschaft zu sprechen | |
und die damit zusammenhängenden Ängste ernst zu nehmen. Aber bitte ohne | |
diese Reproduktion von Rassismus und Ausgrenzung. Es muss darum gehen, die | |
kapitalistischen Strukturen zu benennen, die verantwortlich dafür sind, | |
dass solche Prozesse stattfinden. | |
Die Diskussion heute läuft ja auch häufig darüber, dass die Migranten | |
westliche Werte gefährden und das Frauen- und Männerbild verändern. | |
Außerdem wird Migranten Nachholbedarf in puncto Absage an Antisemitismus | |
unterstellt. Bitte dröseln Sie die verschiedenen Schichten dieser | |
Gemengelage mal auseinander. | |
In bestimmten migrantischen Communities gibt es nicht nur im Bezug auf | |
Antisemitismus, sondern auch bezüglich Sexismus und | |
Homosexuellenfeindschaft Nachholbedarf. Da darf man nicht wegschauen. | |
Änderungen werden aber nicht durch die Mehrheitsgesellschaft, die im | |
Übrigen auch alles andere als frei von Sexismus, Homosexuellenfeindlichkeit | |
und Antisemitismus ist, in Gang gesetzt werden können, sondern es werden | |
Leute aus den Communities selbst sein, die sie einleiten. Diese Leute | |
müssen unterstützt werden. Zu dieser Problematik gesellt sich eine zweite | |
Ebene, nämlich dass Communities als Ganze ins Abseits gestellt werden. So | |
etwas nutzen Gruppierung wie die AfD aus – plötzlich kümmern sie sich sehr | |
um die Rechte von Homosexuellen oder Frauen; sie nutzen das als Instrument, | |
um die migrantische Community als Ganze anzugreifen. | |
Wie kann man politisch klug mit dieser Situation umgehen? | |
Es ist ein sehr schmaler Grat, bei Menschenrechten keinerlei Zugeständnisse | |
zu machen und zugleich der Instrumentalisierung entgegenzutreten. Wichtig | |
ist, bei den einzelnen Leuten anzusetzen. Damit die Veränderungsprozesse in | |
Gang setzen können, darf ihre Community nicht stark von außen unter Druck | |
stehen, sondern braucht eine gewisse Gelassenheit. Aber natürlich muss man | |
nicht alles akzeptieren. Wenn gewisse Einflüsse aus dem Ausland kommen, | |
sollte man politisch intervenieren. | |
Was tun? | |
Es gibt die große Gefahr einer Gewaltspirale. Wenn bestimmte Gruppen | |
ständig die Botschaft bekommen, sie sind anders und gehören nicht dazu, | |
dann entwickeln sie selbst auch so ein Bild. Die Botschaft muss sein: Alle | |
gehören dazu und gleichzeitig gibt es Sachen, die mit unserem | |
gesellschaftlichen Konsens nicht kompatibel sind wie die Diskriminierung | |
von Frauen oder Homosexuellen und Antisemitismus. | |
30 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Annette Jensen | |
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