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# taz.de -- Matteo Garrones Spielfilm „Ich Capitano“: Und bedenke das Ende
> „Ich Capitano“ von Matteo Garrone folgt jungen Männern aus dem Senegal
> nach Europa. Er wird der Realität des heutigen Italiens nicht gerecht.
Bild: Ein bisschen Surreales gibt es in „Ich Capitano“ auch zu sehen: Seydo…
Ohne dass ihre Familien es wissen, arbeiten die beiden Jugendlichen Seydou
und Moussa seit Monaten auf Baustellen, um Geld zu sparen für die Reise
nach Europa. Zu Hause in Dakar sehen die beiden 16-Jährigen, die von einer
Karriere als Musiker träumen, keine Zukunft. Seydou will zudem mit dem
Geld, das er in Europa zu verdienen hofft, seine Schwestern unterstützen.
Seit dem Tod des Vaters muss seine Mutter die Kinder allein durchbringen.
Nach Europa auszuwandern scheint ihm der beste Weg, die Familie zu
unterstützen.
Wenig später brechen Seydou (Seydou Sarr) und Moussa (Moustapha Fall) auf.
Der neuste Film des italienischen Regisseurs Matteo Garrone erzählt die
Geschichte ihrer Reise. [1][„Io Capitano“, dessen Titel vom Verleih in ein
seltsames Ditalienisch – „Ich Capitano“ – übersetzt wurde, feierte let…
Jahr im Wettbewerb des Filmfestivals in Venedig Premiere].
Per Bus reisen die beiden Cousins ostwärts nach Mali. In Agadez, hinter der
Grenze zu Niger, beginnt der inoffizielle Teil der Reise, und die
Bedingungen verschlechtern sich. Mit zahlreichen Mitreisenden finden sich
Seydou und Moussa auf der Ladefläche eines Pickups wieder, der durch die
Sahara in Richtung Nordosten zur libyschen Grenze fährt. Als einer der
Mitreisenden von der Ladefläche fällt, brettert der Fahrer trotz des
Protests von hinten ungerührt weiter. Kurz hinter der libyschen Grenze
nimmt die Polizei ihnen ihr gesamtes Geld ab. Sie nimmt auch Moussa mit,
als dieser sein Geld versteckt, und der Lastwagen, den Seydou mit dem Rest
der Gruppe schließlich erreicht, fährt in ein Folterlager des organisierten
Verbrechens. Die gesamte Route ist ein eingespielter Mechanismus, der
darauf ausgerichtet ist, sich an den Reisenden zu bereichern.
## Der Film basiert auf realen Erlebnissen
Garrones „Io Capitano“ erzählt detailreich und eindringlich eine
Migrationsgeschichte aus einem Land südlich der Sahara durch Libyen auf dem
Weg nach Europa, nach Italien. In den vergangenen 20 Jahren hat sich diese
Art von Film zu einem Subgenre im italienischen Kino entwickelt. Garrone
hat einigen Aufwand betrieben, um die Details der Reise präzise zu
erzählen. Das Drehbuch, das er gemeinsam mit Massimo Gaudioso, Massimo
Ceccherini und Andrea Tagliaferri geschrieben hat, basiert auf den
Erlebnissen von Mamadou Kouassi Pli Adama, Arnaud Zohin, Fofana Amara,
Brhane Tareke und Siaka Doumbia. Der Abspann nennt sie als Mitwirkende am
Drehbuch. Mamadou Sani wurde als Berater engagiert.
Die von ihnen beigetragenen Details zeigen sich vor allem in den Szenen in
Libyen. Seydou wird gemeinsam mit einem Mann, der sich seiner angenommen
hat, als Maurer an einen reichen Libyer verkauft. Zu zweit bauen die beiden
eine Lehmmauer um dessen Haus und einen prächtigen Brunnen. Zufrieden
lässt der Libyer die beiden frei und gibt ihnen das Geld, das sie brauchen,
um nach Tripolis zu kommen. Hier führt Seydous Suche nach Moussa ihn durch
die verschiedenen senegalesischen Quartiere der Stadt. Währenddessen
beginnt er auf einer Baustelle zu arbeiten, um Geld zum Überleben zu
verdienen.
Auch wenn Garrone bis auf den Credit als Mitwirkung am Drehbuch auf jeden
Hinweis darauf verzichtet, dass die Erzählung auf konkreten Erlebnissen
beruht, bemüht er sich, die Authentizität der Erzählung für sich sprechen
zu lassen. Das zeigt sich unter anderem in seiner Inszenierung. „Io
Capitano“ ist linear erzählt und bis auf einige wenige Episoden aus der
Fantasie von Seydou klassisch realistisch inszeniert. Seine beiden
Hauptdarsteller sind Laien, es ist ihre erste Filmrolle.
## Er kann sich nicht entscheiden
Auch wenn nichts des Gezeigten neu ist – jedes Detail der Reise und des
Films könnte allen bekannt sein, die sich in den letzten Jahrzehnten für
Migration nach Europa interessiert haben –, entfaltet der Film in dieser
formalen Zurückgenommenheit eine moralische, womöglich sogar politische
Eindringlichkeit. Das Problem des Films ist, dass er sich nicht entscheiden
kann, ob er überhaupt politisch sein will. „Io Capitano“ ist ein Film, den
man nicht besprechen kann, ohne über sein Ende zu sprechen. Als Seydou und
Moussa es schließlich allen Widrigkeiten zum Trotz per Boot nach Sizilien
geschafft haben, kreist über ihnen ein Hubschrauber der italienischen
Küstenwache wie die „rettende Kavallerie“ in einem US-Western.
Angesichts der Realität, in der die aktuelle italienische Regierung
Seenotrettung im Mittelmeer immer schwieriger macht und noch mehr Tote in
Kauf nimmt, ist dieses Ende entweder Fiktion, die künstlich ein Happy End
herbeiführt, oder stammt aus einer anderen Zeit, aus einer Zeit vor Meloni.
Spätestens an dieser Stelle hat sich Garrone dagegen entschieden, dass „Io
Capitano“ ein politischer Film werden soll. Wie egal der Regierung Meloni
das Bild war, das sie bei der Premiere des Films in Venedig abgegeben hat,
erkennt man daran, mit welcher Selbstverständlichkeit sie den Visaantrag
des kamerunischen Castingdirektors Henri-Didier Njikam für eine Anreise zur
Premiere ablehnte mit der Begründung, es sei nicht sicher, ob er wieder
ausreise, wenn er erst einmal in Italien sei.
Im Angesicht all dessen hat Garrone leider nur einen durchaus guten Film
gedreht, der deskriptiv und moralisch empört, den Mechanismus
innerafrikanischer Ausbeutung von Migrant_innen zeigt, aber zum
europäischen Friedhof im Mittelmeer schweigt.
5 Apr 2024
## LINKS
[1] /Preisverleihung-Filmfestspiele-Venedig/!5956543
## AUTOREN
Fabian Tietke
## TAGS
italienisches Kino
Spielfilm
Flucht
taz Plan
Filmrezension
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes
Italien
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